Ökologie: Jäger im Visier
Haie machen normalerweise dann Schlagzeilen, wenn einer eine Attacke auf einen Schwimmer oder Surfer gestartet hat. So wie der Tigerhai, der kürzlich einer jungen Frau vor Hawaii einen Arm abbiss, so dass sie an ihren schweren Verletzungen starb. Dabei sind solche Unfälle eigentlich extrem selten: Die Statistiken des "Global Shark Attack File" in Princeton verzeichnen für das Jahr 2012 weltweit 80 Haiunfälle, bei denen insgesamt neun Menschen ums Leben kamen. Umgekehrt sieht die Bedrohungslage für die Meeresjäger deutlich dramatischer aus: Nach Schätzungen der Naturschutzorganisation WWF werden jedes Jahr bis zu 100 Millionen Haie von Menschen gefangen und getötet.
Opfer ihrer Flossen
Vor allem in Südost- und Ostasien ist das Interesse an den Raubfischen groß. Die Rückenflossen der Tiere werden dort zu Suppen verarbeitet, die als Delikatessen gelten. Entsprechend viel lässt sich damit verdienen, Haifischflossen gehören mittlerweile zu den teuersten Fischprodukten überhaupt. Je nach Qualität kann ein Kilogramm bis zu 650 US-Dollar einbringen. Kein Wunder also, dass Fangschiffe aus zahlreichen Ländern den Meeresräubern nachstellen. Etwa ein Fünftel der weltweit gefangenen Haie gehen auf das Konto von Indonesien und Indien, zeigt eine aktuelle Studie der Organisation TRAFFIC, die im Auftrag des WWF und der Internationalen Naturschutzunion IUCN den Handel mit bedrohten Arten beobachtet [1]. Auf Platz drei folgt Spanien, und auch Frankreich und Portugal gehören zu den Top-20 der größten Haifang-Nationen.
Doch längst nicht jeder tote Meeresräuber fällt der gezielten Fischerei zum Opfer. Unzählige weitere Tiere verenden als so genannter Beifang an Haken und in Netzen, die eigentlich für andere Arten gedacht waren. Berüchtigt für hohe Beifangraten ist zum Beispiel die industrielle Hochseefischerei auf Tun- und Schwertfische, die in den 1950er Jahren begann. Im Golf von Mexiko und im Pazifik kam damals statistisch gesehen ein unabsichtlich getöteter Hai auf zwei gefangene Gelbflossen-Tunfische. Für jeden im Atlantik gefangenen Schwertfisch mussten sogar zwei bis drei Haie ihr Leben lassen [2].
Empfindliche Räuber
All das aber haben die Bestände dieser urtümlichen Knorpelfische nicht gut verkraftet. "Haie pflanzen sich sehr langsam fort und sind daher besonders anfällig für Überfischung", erklärt Artenschutzexperte Volker Homes vom WWF. Im Vergleich zu anderen Fischen wachsen sie im Zeitlupentempo, werden spät geschlechtsreif und setzen nur wenige Nachkommen in die Welt. Und sind die Bestände erst einmal geschrumpft, erholen sie sich nur ganz allmählich – wenn überhaupt. Eine Analyse von 26 Hai- und 151 Knochenfischarten hat gezeigt, dass Haie ein doppelt so hohes Risiko haben, durch Fischerei auszusterben [3].
Problematisch sind dabei offenbar nicht nur die geringen Fortpflanzungsraten, sondern auch der zumindest zeitweise ausgeprägte Hang der Haie zur Geselligkeit, meinen David Jacoby von der Universität im britischen Exeter und seine Kollegen [4]. So schwimmt der Hai-Nachwuchs oft in Scharen in flachen Küstengewässern, in denen es viel Wärme und Beute, aber wenig Feinde gibt. Und auch erwachsene Haie versammeln sich regelmäßig an bestimmten Stellen, um Partner zu finden oder besonders gute Kinderstuben zu nutzen. Vielleicht tauschen sie bei solchen Treffen auch Informationen aus, vermuten die Forscher: Die geistige Kapazität für eine Art sozialen Lernens besitzen sie durchaus.
Doch so viele Vorteile die Zusammenkünfte haben mögen, so riskant sind sie auch. Denn eine Art, die sich zu bestimmten Zeiten massenhaft an den immer gleichen Orten versammelt, macht sich besonders angreifbar für die Gefahren der Fischerei. Welche Folgen das haben kann, zeigt die Geschichte der Riesenhaie (Cetorhinus maximus) vor der irischen Achill-Insel. Zwischen 1947 und 1975 haben Fischer dort 12 360 der bis zu zehn Meter langen, friedlichen Planktonfresser aus dem Wasser gezogen, drei Viertel davon allein zwischen 1950 und 1956. Die meisten der getöteten Giganten waren wahrscheinlich erwachsene Weibchen, die sich zu einer ihrer regelmäßigen Versammlungen getroffen hatten. Der Fang dieser Tiere hat nach Ansicht der Forscher wohl einiges zum dramatischen Rückgang der Art im Nordost-Atlantik beigetragen.
Schrumpfende Fänge
Ein ähnliches Desaster haben auch viele andere Arten in den unterschiedlichsten Meeresregionen erlebt. Der Hai-Schwund nimmt offenbar globale Ausmaße an. Diesen Schluss ziehen Wissenschaftler vor allem aus der Entwicklung der Fangzahlen, die in manchen Meeresregionen innerhalb weniger Jahrzehnte um mehr als 90 Prozent zurückgegangen sind.
Die Beobachtungen aus dem Pazifik lassen zum Beispiel nichts Gutes ahnen. Ein Team um Shelley Clarke vom Fischereiprogramm der Pazifischen Gemeinschaft in Nouméa auf Neukaledonien hat Daten analysiert, die zwischen 1995 und 2010 von Beobachtern auf Fangschiffen gesammelt wurden [5]. Im Nordpazifik sind die Fangraten für Blauhaie demnach um fünf Prozent pro Jahr zurückgegangen, die für Makohaie um 7 Prozent pro Jahr. Und in den tropischen Regionen des Pazifiks zogen Langleinenfischer jährlich sogar 17 Prozent weniger Weißspitzen-Hochseehaie aus dem Wasser. Vor allem bei den Seiden- und den Weißspitzen-Hochseehaien bestanden die Fänge zudem aus deutlich kleineren Tieren als früher – kaum ein pazifischer Seidenhai scheint heutzutage noch erwachsen zu werden.
Auch das Mittelmeer gehört zu den Regionen, in denen Knorpelfische massiv auf dem Rückzug sind. Francesco Ferretti von der Dalhousie University im kanadischen Halifax und seine Kollegen haben Daten von fünf wissenschaftlichen Fang-Aktionen ausgewertet, die seit 1949 in der Adria stattfanden [6]. Die Ergebnisse zeigen deutlich, wie sehr sich die Hai- und Rochengemeinschaften seither verändert haben. Von den ursprünglich 32 Arten sind mittlerweile elf verschwunden, die Fangraten der Haie gingen um mehr als 95 Prozent zurück. Und das ist nach Einschätzung der Forscher nur das Ende der Entwicklung. Viele große Haie seien wahrscheinlich schon im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verschwunden.
Was Dolche verraten
Solche frühen Entwicklungen zu dokumentieren ist allerdings extrem schwierig. Schließlich geben selbst die Fischereistatistiken der letzten Jahrzehnte längst nicht über alle Arten und Regionen Auskunft. Umso größere Lücken hat das Bild, das sich Forscher von länger zurückliegenden Zeiträumen machen.
Manchmal aber haben sie Glück und finden doch ein paar Mosaiksteine – zum Beispiel in Museen. So haben Joshua Drew vom Field Museum of Natural History in Chicago und seine Kollegen Waffen aus Sammlungen untersucht, die Bewohner der Gilbert-Inseln im 19. Jahrhundert hergestellt hatten [7]. Die Menschen auf diesen zu Kiribati gehörenden Pazifik-Inseln hatten traditionell eine enge Beziehung zu Haien. Sie spannen allerlei Mythen rund um die Meeresräuber, wussten eine Menge über deren Biologie und hatten spezielle Rituale und Geräte für den Fang der Tiere entwickelt. Und sie besaßen Dolche, Schwerter und Speere aus an Holz befestigten Haifischzähnen.
An solchen Waffen haben die Forscher die Beißwerkzeuge von acht verschiedenen Arten identifiziert. Zwei davon sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts offenbar aus der Region verschwunden: Sowohl der Fleckzahnhai als auch der Schwarzhai tauchen in aktuellen Bestandsaufnahmen nicht mehr auf. Vermutlich ist ihnen die kommerzielle Hai-Fischerei zum Verhängnis geworden, die vor den Inseln schon seit mindestens 1910 im Gange ist, und die in den 1950er Jahren jährlich mehr als 3000 Kilogramm Flossen lieferte.
Die Ökologie der Angst
Der Artenschwund dürfte Folgen haben, denn Haie ziehen in vielen Meeresökosystemen wichtige Strippen. Vor allem die großen Spezies mit mehr als drei Metern Länge stehen an der Spitze der Nahrungsketten: Sie sind für andere Haie, aber auch für Meeresschildkröten oder Meeressäuger oft die wichtigsten, gelegentlich sogar die einzigen Feinde und regulieren somit die Bestände. Haie prägen ihr Umfeld aber auch schon durch ihre Anwesenheit – wie sich in der australischen Shark Bay an Seekühen beobachten lässt [2]. Die auch "Dugongs" genannten Säugetiere fressen gern das besonders nährstoffreiche Seegras im Zentrum der dortigen Unterwasserwiesen, und rupfen die Pflanzen dort mit Stumpf und Stiel. Allerdings wissen sie auch, dass sie gerade an diesen beliebten Futterstellen besonders leicht einem Tigerhai zum Opfer fallen können. Also entscheiden sie jeden Tag aufs Neue, ob sich das Risiko lohnt. Wenn viele Tigerhaie unterwegs sind, weichen sie lieber auf schlechtere, dafür aber weniger gefährliche Weidegründe am Rand der Wiesen aus – wodurch die Unterwasserfauna im Kernbereich eine notwendige Schonzeit erfährt.Die Suppenschildkröten der Region begnügen sich dagegen damit, die Spitzen des Seegrases abzuknabbern. Das führt dazu, dass die einzelnen Halme besonders schnell nachwachsen und immer wieder neues Qualitätsfutter liefern. Das Grasen der Schildkröten kurbelt also den Nährstoffkreislauf an. Und auch bei diesen Prozessen haben die Tigerhaie die Flossen im Spiel. Denn sie zwingen die Reptilien dazu, ihre Aktivitäten immer mal wieder in andere Bereiche der Seegraswiesen zu verlegen. Ob Haie anwesend sind oder nicht, kann also das Gesicht ganzer Unterwasserlandschaften verändern.
Riff-Retter
Auch Korallenriffe profitieren massiv von der Präsenz von Haien. Was diese artenreichen Ökosysteme überhaupt nicht gebrauchen können, sind nämlich zu viele Algen. Denn die überwuchern die Korallenstöcke und hindern die winzigen Riffbaumeister am Wachsen. Also braucht ein gesundes Riff pflanzenfressende Fische, die den Algenteppich abweiden. Wenn nun aber die Haie aus dem Riff verschwinden, droht das empfindliche Gleichgewicht zwischen Fleisch- und Pflanzenfressern aus den Fugen zu geraten. Ohne Haie können sich beispielsweise die räuberischen Zackenbarsche stark vermehren. Die aber dezimieren dann die Papageifische und andere Pflanzenfresser, die eigentlich die Algen in Schach halten sollten.
In Computermodellen lassen sich die Folgen des Verschwindens von Haien gut nachvollziehen. So haben Jordi Bascompte vom Forschungsinstitut Estación Biológica de Doñana im spanischen Sevilla und seine Kollegen berechnet, dass sich ohne den Hai als Feind manche pflanzenfressende Fische zunächst auch stark vermehren können – mit ebenso fatale Folgen für das Riff [8]. Denn auf den Boom folgt unweigerlich der Zusammenbruch, weil sich die zu große Population ihre Lebensgrundlage entzieht: Nach nur einem Jahr ohne Haie war das virtuelle Riff biologisch tot.
Dass solche Katastrophen keineswegs nur in den Computern von Wissenschaftlern stattfinden, zeigen die Riffe vor Jamaica. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten hat sich dort die Zusammensetzung der Fischfauna massiv verändert. Statt Haien, Zackenbarschen und größeren Pflanzenfressern haben dort kleine Vegetarier das Ruder übernommen. Die aber sind einfach nicht effektiv genug für einen gründlichen Riffputz. Zwischen den 1970er und den 1990er Jahren ist die Häufigkeit der Korallen daher massiv zurückgegangen, Algen überwuchern mittlerweile mehr als 90 Prozent der jamaikanischen Riffe.
Das Ende der Muscheln
Sogar Muschelfischer haben mancherorts mit dem Verschwinden der Meeresräuber zu kämpfen. Zu diesem überraschenden Schluss kamen Ransom Myers von der Dalhousie University im kanadischen Halifax und seine Kollegen bei einer Studie über die Zustände im Nordatlantik [9]. Aus verschiedenen Studien der letzten 30 Jahre haben die Forscher Daten über die Bestände von Haien und Rochen vor North Carolina an der Ostküste der USA zusammengetragen. Mit einem Computermodell haben sie dann die Bestandsentwicklung für jede der untersuchten Fischarten simuliert.
Die Verlierer der letzten Jahrzehnte waren demnach die großen Hai-Arten. So sind die Bestände von Tigerhaien, Bullenhaien oder Hammerhaien vor der Küste North Carolinas seit den 1970er Jahren um mehr als 95 Prozent geschrumpft. Davon aber haben kleinere Haie und Rochen profitiert, von denen sich die Riesen unter den Meeresräubern normalerweise ernähren. Auffälligstes Beispiel ist der Kuhnasen-Rochen, der sich explosionsartig vermehrt hat. Nach Schätzung der Forscher schwammen zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr als 40 Millionen dieser Tiere vor der US-Atlantikküste.
Auf dem Speiseplan der Rochen aber stehen Kamm-Muscheln, Venusmuscheln und Austern, die auch für menschliche Feinschmecker interessant sind. Nach den Berechnungen der Forscher dürfte der Rochenbestand in diesem Meeresgebiet mittlerweile jedes Jahr bis zu 840 000 Tonnen Muscheln vertilgen. Diesen Ansturm haben die Weichtiere offenbar nicht gut vertragen. Vielerorts sind die Erträge der Muschelfischer stark zurückgegangen. So ist die Nördliche Venusmuschel bereits so selten geworden, dass viele Restaurants die daraus hergestellten Muschelsuppen bereits von den Speisekarten streichen mussten. Der traditionelle Fang von Kamm-Muscheln vor North Carolina wurde im Jahr 2004 sogar ganz eingestellt. Er lohnte sich einfach nicht mehr. Der Rückzug der Haie ist also nicht nur ein ökologisches Problem. Er trifft ganze Wirtschaftszweige.
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