Entscheidungen: Lieber mal den Kopf zerbrechen
Der pauschale Rat zum "Schlaf-mal-drüber"-Prinzip hat ausgedient: Auch bei komplexen Entscheidungen ist Intuition keineswegs immer im Vorteil.
Jahrzehntelang hatten Psychologen und Philosophen menschliche Entscheidungen als zutiefst rationale Angelegenheit verstanden. Dann hieß es plötzlich: Je komplexer das Problem, desto überlegener die Intuition. Mit dem Prädikat "wissenschaftlich bestätigt!" verbreiteten Medien fortan, was der Volksmund schon immer wusste: "Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl!" oder "Schlafen Sie mal drüber!" Nun feuern die geschassten Rationalisten mit neuen Argumenten zurück. Wie soll man sich da entscheiden?
Am besten gegen jede Form des Schwarz-Weiß-Denkens, raten Wissenschaftler. "Wir wissen heute, dass es von speziellen Randbedingungen abhängt, welche Art nachzudenken erfolgreicher ist", meint beispielsweise Henning Plessner von der Universität Leipzig. Warum, demonstriert die Kritik an den Experimenten von Ap Dijksterhuis, Miterfinder des wissenschaftlichen „Schlaf-mal-drüber“-Prinzips und Galionsfigur seiner Verfechter.
Laut der Unconscious Thought Theory (Theorie des unbewussten Denkens), die der Psychologe von der Radboud-Universität in Nijmegen entwickelte, kann der Mensch immer nur eine spärliche Menge an Informationen bewusst parat haben; entsprechend wenige Aspekte fließen deshalb in eine Überlegung ein. Weil bei einer unbewussten Verarbeitung die Kapazität höher ist, sei der intuitiv denkende Mensch folglich im Vorteil.
Nicht alle Kollegen lassen Dijksterhuis allerdings den Trick durchgehen, mit dem er das Phänomen im Labor nachgestellt haben will: Zwei Probandengruppen zeigte er jeweils für wenige Sekunden eine Liste von Fakten über verschiedene Produkte.
Die gleiche Paradoxie – je schwieriger die Aufgabe, desto besser die Intuition – müsste sich auch bei Entscheidungen in Politik, Management oder anderen Bereichen zeigen, spekulierte Dijksterhuis und mit ihm eine Schar von Mentaltrainern. Doch in letzter Zeit mehren sich die kritischen Stimmen.
Entscheidende Umstände
Vor einer übereilten Überschätzung unbewusster Prozesse warnt beispielsweise Ben Newell, Psychologe von der University of New South Wales in Sydney. 2008 konnten er und seine Kollegen jedenfalls keinen Hinweis auf den Vorteil unbewussten Abwägens finden. Im Gegenteil: Freiwillige, die der Intuition die Zügel schießen ließen, wurden am stärksten von unwichtigen Informationen wie der Reihenfolge der präsentierten Fakten beeinflusst [1].
Noch kritischer fällt der Befund der Psychologen Todd Thorsteinson von der University of Idaho und Scott Withrow von der Bowling Green State University aus. 2009 versuchten sie, die Ergebnisse von Dijksterhuis zu replizieren – teilweise sogar mit dem gleichen Material [2]. Bis auf den Umstand, dass sich ein Teil der bewusst grübelnden Probanden zusätzlich Notizen machen durfte, war alles nach Möglichkeit genau so wie bei Dijksterhuis.
Nur den Effekt konnten Thorsteinson und Withrow nicht wiederholen. Beide Gruppen lagen in etwa gleich oft richtig; wer mit Notizen hantierte, war sogar leicht im Vorteil. Erinnerungshilfen seien offenbar die bessere Strategie gegen eine beschränkte Informationsverarbeitung, schlagen die beiden Forscher vor.
Dass man wichtige Informationen nur schlaglichtartig präsentiert bekomme, sei im Übrigen nicht unbedingt realistisch, kritisieren Newell und seine Kollegen. In diese wenig alltagsnahe Situation brachten aber Dijksterhuis und viele seiner Nachfolger ihre Probanden. Newell hingegen beobachtete: Wer alle Angaben die ganze Zeit vor Augen hatte, traf häufiger die optimale Wahl als die unbewussten Entscheider.
Unbewusstes Denken ist nicht unbedingt im Vorteil
"Bei den Untersuchungen von Dijksterhuis handelt es sich um Grundlagenforschung", erläutert der Sozialpsychologe Plessner. "Pauschale Schlussfolgerungen für den Alltag lassen sich daraus nicht so einfach ableiten." Auch wenn solche Verallgemeinerungen natürlich medienwirksam seien.
Der Vorteil der Intuition liegt möglicherweise ganz woanders: Allzu langes Nachsinnen, sagen Wissenschaftler, könnte unmittelbar gefasste Entschlüsse nachträglich verschlechtern.
Langes Nachdenken ist eher dann von Vorteil, wenn unbewusste Vorlieben erkannt und unterdrückt werden müssen, beispielsweise in einem richterlichen Urteil. Will man den Fortgang seiner eigenen Entscheidungsfindung überwachen, "unterstützen im Normalfall die bewussten Prozesse die automatischen, als dass sie sie behindern", meint Glöckner.
Die Erfahrung macht den Unterschied
Macht man sich die Mühe, aktuelle Forschungsergebnisse genauer anzusehen, verliert das pauschale Gegeneinander-Ausspielen bewusster und unbewusster Entscheidungsprozesse schnell seine Überzeugungskraft. Das gilt auch für eine weitere Form des Entscheidens ohne nachzudenken: die eigentliche Intuition, die man im Alltag gelegentlich als Bauchgefühl tituliert.
Ihr haftet mitunter die Aura des Magischen an, wie in dem oft gehörten Beispiel des Feuerwehrmanns. Der beschließt urplötzlich – aus einer Eingebung heraus –, ein brennendes Gebäude räumen zu lassen. Natürlich gerade noch rechtzeitig, bevor es zusammenbricht.
Doch Henning Plessner winkt ab: Solche scheinbar magischen Intuitionen sind in Wahrheit das Ergebnis von jahrelangen Erfahrungen und Kenntnissen, die sich der Betroffene bewusst erarbeitet hat. Dann könnte es tatsächlich der Fall sein, dass sehr viele Informationen gleichzeitig verarbeitet werden.
Laut den Psychologen Daniel Kahneman von der Princeton University und Gary Klein von der Firma Applied Research Associates entscheiden zwei Faktoren über den Erfolg dieses beruflichen Bauchgefühls [3]: Erstens muss die berufliche Umwelt stabil sein und zuverlässige Hinweise zu der jeweiligen Situation liefern. Zweitens muss sie schnelles und eindeutiges Feedback geben, ob man mit seiner Intuition richtig gelegen hat.
Die vermeintliche Eingebung, meinen Kahneman und Klein, sei in Wirklichkeit eine Form der Erkenntnis, bei der Experten erlernte Muster wiedererkennen und oft gar nicht in der Lage sind anzugeben, welche Informationen sie verwendet haben. "Entmystifizieren" soll diese Definition das Bauchgefühl, schreiben die beiden Forscher.
Hilfreiches Feedback
In der Praxis heißt das: Während eine Kinderkrankenschwester nach Jahren der Berufserfahrung schon lange im Voraus erkennen kann, ob sich bei einem Neugeborenen eine Infektion anbahnt, bildet die Börse keine stabile Umwelt für gute Intuitionen. Es fehlen Informationen über die zukünftige Wertentwicklung einer Aktie, und wenn sie doch vorhanden wären, würde der Preis sie ohnehin schon widerspiegeln.
"In einem aktuellen Forschungsprojekt machen wir Simulationen, in denen wir Schiedsrichtern entsprechende Rückmeldungen geben", sagt Plessner, der 2009 mit Kollegen von diesem Projekt berichtete [4]. Ihre Teilnehmer schauen sich im Internet Videosequenzen möglicher Fouls an und geben direkt danach eine Einschätzung ab. Der Vorteil: Die Forscher können systematisch die Trainingsparameter variieren – beispielsweise wie groß der Zeitdruck ist oder welche Form von Feedback der Proband erhält. Auch bei Plessner und Kollegen bestätigen erste Ergebnisse, dass eine unmittelbare Rückmeldung die Leistungen der Schiedsrichter am meisten verbesserte.
Jenseits von Expertentum und jahrelanger Erfahrung gibt es nur noch ein weiteres Szenario, in dem berufliche Intuitionen zum Erfolg führen: "Wenn die relevanten Informationen gut aufbereitet sind, etwa weil sie grafisch ansprechend und übersichtlich dargestellt werden", erklärt der Bonner Andreas Glöckner. "Dann können auch Menschen, die keine Experten auf einem bestimmten Gebiet sind, gute intuitive Entscheidungen treffen."
Am besten gegen jede Form des Schwarz-Weiß-Denkens, raten Wissenschaftler. "Wir wissen heute, dass es von speziellen Randbedingungen abhängt, welche Art nachzudenken erfolgreicher ist", meint beispielsweise Henning Plessner von der Universität Leipzig. Warum, demonstriert die Kritik an den Experimenten von Ap Dijksterhuis, Miterfinder des wissenschaftlichen „Schlaf-mal-drüber“-Prinzips und Galionsfigur seiner Verfechter.
Laut der Unconscious Thought Theory (Theorie des unbewussten Denkens), die der Psychologe von der Radboud-Universität in Nijmegen entwickelte, kann der Mensch immer nur eine spärliche Menge an Informationen bewusst parat haben; entsprechend wenige Aspekte fließen deshalb in eine Überlegung ein. Weil bei einer unbewussten Verarbeitung die Kapazität höher ist, sei der intuitiv denkende Mensch folglich im Vorteil.
Nicht alle Kollegen lassen Dijksterhuis allerdings den Trick durchgehen, mit dem er das Phänomen im Labor nachgestellt haben will: Zwei Probandengruppen zeigte er jeweils für wenige Sekunden eine Liste von Fakten über verschiedene Produkte.
"Intuition beruht auf viel Wissen und bewusster Erfahrung, in der Entscheidungssituation selbst denkt man dann nicht mehr viel nach"
(Henning Plessner)
Anschließend durfte eine Gruppe sorgfältig nachdenken, was davon sie kaufen würden. Alle übrigen lösten währenddessen Rätsel. Nach Dijsterhuis bleibt den derart Abgelenkten nichts anderes übrig, als nach Ablauf der Frist spontan und aus dem Bauch heraus die Kaufentscheidung zu fällen – um dann im Mittel besser zu liegen als die grübelnde Kontrollgruppe. (Henning Plessner)
Die gleiche Paradoxie – je schwieriger die Aufgabe, desto besser die Intuition – müsste sich auch bei Entscheidungen in Politik, Management oder anderen Bereichen zeigen, spekulierte Dijksterhuis und mit ihm eine Schar von Mentaltrainern. Doch in letzter Zeit mehren sich die kritischen Stimmen.
Entscheidende Umstände
Vor einer übereilten Überschätzung unbewusster Prozesse warnt beispielsweise Ben Newell, Psychologe von der University of New South Wales in Sydney. 2008 konnten er und seine Kollegen jedenfalls keinen Hinweis auf den Vorteil unbewussten Abwägens finden. Im Gegenteil: Freiwillige, die der Intuition die Zügel schießen ließen, wurden am stärksten von unwichtigen Informationen wie der Reihenfolge der präsentierten Fakten beeinflusst [1].
Noch kritischer fällt der Befund der Psychologen Todd Thorsteinson von der University of Idaho und Scott Withrow von der Bowling Green State University aus. 2009 versuchten sie, die Ergebnisse von Dijksterhuis zu replizieren – teilweise sogar mit dem gleichen Material [2]. Bis auf den Umstand, dass sich ein Teil der bewusst grübelnden Probanden zusätzlich Notizen machen durfte, war alles nach Möglichkeit genau so wie bei Dijksterhuis.
Nur den Effekt konnten Thorsteinson und Withrow nicht wiederholen. Beide Gruppen lagen in etwa gleich oft richtig; wer mit Notizen hantierte, war sogar leicht im Vorteil. Erinnerungshilfen seien offenbar die bessere Strategie gegen eine beschränkte Informationsverarbeitung, schlagen die beiden Forscher vor.
Dass man wichtige Informationen nur schlaglichtartig präsentiert bekomme, sei im Übrigen nicht unbedingt realistisch, kritisieren Newell und seine Kollegen. In diese wenig alltagsnahe Situation brachten aber Dijksterhuis und viele seiner Nachfolger ihre Probanden. Newell hingegen beobachtete: Wer alle Angaben die ganze Zeit vor Augen hatte, traf häufiger die optimale Wahl als die unbewussten Entscheider.
Unbewusstes Denken ist nicht unbedingt im Vorteil
"Bei den Untersuchungen von Dijksterhuis handelt es sich um Grundlagenforschung", erläutert der Sozialpsychologe Plessner. "Pauschale Schlussfolgerungen für den Alltag lassen sich daraus nicht so einfach ableiten." Auch wenn solche Verallgemeinerungen natürlich medienwirksam seien.
Der Vorteil der Intuition liegt möglicherweise ganz woanders: Allzu langes Nachsinnen, sagen Wissenschaftler, könnte unmittelbar gefasste Entschlüsse nachträglich verschlechtern.
"Im Normalfall unterstützen bewusste Prozesse eher die automatischen, als dass sie sie behindern"
(Andreas Glöckner)
"Zwingt man Probanden nicht – anders als Dijksterhuis –, eine ungewöhnlich lange Zeit über einer Entscheidung zu grübeln, sondern lässt sie die Nachdenkzeit selbst bestimmen, verschwindet oft der Unterschied", erklärt Andreas Glöckner vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Wer extra gründlich abwägen will, läuft Gefahr, sich immer mehr auf unwichtige Aspekte einzuschießen. (Andreas Glöckner)
Langes Nachdenken ist eher dann von Vorteil, wenn unbewusste Vorlieben erkannt und unterdrückt werden müssen, beispielsweise in einem richterlichen Urteil. Will man den Fortgang seiner eigenen Entscheidungsfindung überwachen, "unterstützen im Normalfall die bewussten Prozesse die automatischen, als dass sie sie behindern", meint Glöckner.
Die Erfahrung macht den Unterschied
Macht man sich die Mühe, aktuelle Forschungsergebnisse genauer anzusehen, verliert das pauschale Gegeneinander-Ausspielen bewusster und unbewusster Entscheidungsprozesse schnell seine Überzeugungskraft. Das gilt auch für eine weitere Form des Entscheidens ohne nachzudenken: die eigentliche Intuition, die man im Alltag gelegentlich als Bauchgefühl tituliert.
Ihr haftet mitunter die Aura des Magischen an, wie in dem oft gehörten Beispiel des Feuerwehrmanns. Der beschließt urplötzlich – aus einer Eingebung heraus –, ein brennendes Gebäude räumen zu lassen. Natürlich gerade noch rechtzeitig, bevor es zusammenbricht.
Doch Henning Plessner winkt ab: Solche scheinbar magischen Intuitionen sind in Wahrheit das Ergebnis von jahrelangen Erfahrungen und Kenntnissen, die sich der Betroffene bewusst erarbeitet hat. Dann könnte es tatsächlich der Fall sein, dass sehr viele Informationen gleichzeitig verarbeitet werden.
Laut den Psychologen Daniel Kahneman von der Princeton University und Gary Klein von der Firma Applied Research Associates entscheiden zwei Faktoren über den Erfolg dieses beruflichen Bauchgefühls [3]: Erstens muss die berufliche Umwelt stabil sein und zuverlässige Hinweise zu der jeweiligen Situation liefern. Zweitens muss sie schnelles und eindeutiges Feedback geben, ob man mit seiner Intuition richtig gelegen hat.
Die vermeintliche Eingebung, meinen Kahneman und Klein, sei in Wirklichkeit eine Form der Erkenntnis, bei der Experten erlernte Muster wiedererkennen und oft gar nicht in der Lage sind anzugeben, welche Informationen sie verwendet haben. "Entmystifizieren" soll diese Definition das Bauchgefühl, schreiben die beiden Forscher.
Hilfreiches Feedback
In der Praxis heißt das: Während eine Kinderkrankenschwester nach Jahren der Berufserfahrung schon lange im Voraus erkennen kann, ob sich bei einem Neugeborenen eine Infektion anbahnt, bildet die Börse keine stabile Umwelt für gute Intuitionen. Es fehlen Informationen über die zukünftige Wertentwicklung einer Aktie, und wenn sie doch vorhanden wären, würde der Preis sie ohnehin schon widerspiegeln.
"In einem aktuellen Forschungsprojekt machen wir Simulationen, in denen wir Schiedsrichtern entsprechende Rückmeldungen geben", sagt Plessner, der 2009 mit Kollegen von diesem Projekt berichtete [4]. Ihre Teilnehmer schauen sich im Internet Videosequenzen möglicher Fouls an und geben direkt danach eine Einschätzung ab. Der Vorteil: Die Forscher können systematisch die Trainingsparameter variieren – beispielsweise wie groß der Zeitdruck ist oder welche Form von Feedback der Proband erhält. Auch bei Plessner und Kollegen bestätigen erste Ergebnisse, dass eine unmittelbare Rückmeldung die Leistungen der Schiedsrichter am meisten verbesserte.
Jenseits von Expertentum und jahrelanger Erfahrung gibt es nur noch ein weiteres Szenario, in dem berufliche Intuitionen zum Erfolg führen: "Wenn die relevanten Informationen gut aufbereitet sind, etwa weil sie grafisch ansprechend und übersichtlich dargestellt werden", erklärt der Bonner Andreas Glöckner. "Dann können auch Menschen, die keine Experten auf einem bestimmten Gebiet sind, gute intuitive Entscheidungen treffen."
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