Quanteneffekt: Wie Vögel das Magnetfeld im Auge behalten
Viele Rotkehlchen bleiben den ganzen Winter über ihrem Standort treu, doch für jene, die in ein Winterquartier ziehen, ist die oft tausende Kilometer lange Reise alles andere als einfach. Während junge Kraniche, Gänse oder Enten gemeinsam mit den Alttieren abfliegen, zeigt bei den kleineren Arten niemand den Jungtieren den Weg. Dass sie trotzdem am Ziel ankommen, verdanken sie unter anderem einem groben Flugplan im Erbgut. Er schlägt ihnen zum Beispiel aus Mitteleuropa kommend einen dreiwöchigen Flug nach Südwesten vor, an den sich zwei Wochen Richtung Südsüdost anschließen. Auf dieser Route landen sie zwangsweise irgendwo im westlichen Nordafrika, und das ist schließlich genau dort, wo sie und viele andere Vögel überwintern.
Das klappt allerdings nur mit einem Wegweiser, der den nächtlichen Fliegern selbst bei geschlossener Wolkendecke die korrekte Richtung anzeigt: einem Magnetkompass. Aber wie funktioniert er? »Das ist ein großes Rätsel«, sagt der Zoologe Eric Warrant von der Universität im schwedischen Lund, »die Wahrnehmung von Magnetfeldern ist im Grunde der letzte verbliebene Sinn, den wir nicht verstanden haben.«
Nun aber gibt es womöglich entscheidende Fortschritte zu vermelden. Dass der Magnetsinn der Vögel in ihrem Auge zu sitzen scheint, fand der Biologe Henrik Mouritsen von der Universität Oldenburg bereits 2009 heraus. Sehr wahrscheinlich, schreiben nun Mouritsen, seine Mitarbeiterin Jingjing Xu und ein internationales Team von Forscherinnen und Forschern im Fachblatt »Nature«, spielt dabei ein komplexes quantenphysikalisches Phänomen in einem Biomolekül die Schlüsselrolle: die zappelnden Spins zweier Elektronen.
Ein Sinn braucht Beleuchtung
Den ersten Hinweis darauf, dass der Magnetkompass im Auge sitzen könnte, lieferte eine verblüffende Beobachtung: Vögel können sich anscheinend nur dann am Magnetfeld orientieren, wenn gleichzeitig zumindest schwaches Licht im blauen oder grünen Bereich des Spektrums vorhanden ist. Dafür genügt bereits das diffuse Licht des wolkenverhangenen Nachthimmels. Deckt man die Augen ab oder beleuchtet sie ausschließlich mit schwachem Rotlicht, streikt der Kompass. Schon Ende der 1970er Jahre kamen Forscher auf die Idee, dass ein bestimmter quantenmechanischer Effekt dahinterstecken könnte. Doch dieses Phänomen zu beobachten, überstieg die technischen Möglichkeiten der Zeit bei Weitem.
Nun aber untersuchte das Team um Mouritsen in der Netzhaut verschiedener Vögel ein Protein, das Fachleute in ähnlicher Form bereits von Pflanzen kennen. Es heißt Cryptochrom und reagiert dort auf blaues Licht. Bei Gartengrasmücke, Rotkehlchen und anderen Vögeln tritt eine vergleichbar gebaute Verbindung auf. Bestrahlt man sie mit blauem Licht, entsteht ein so genanntes Radikalpaar, indem ein Elektronenpaar in zwei getrennte, aber quantenmechanisch verbundene Elektronen aufgespalten wird.
»Was der Vogel genau sieht, wissen wir nicht«Henrik Mouritsen
Jedes dieser Elektronen hat eine Eigenschaft, die Spin genannt wird. In einem Radikalpaar kann der Spin der beiden Elektronen in die gleiche Richtung zeigen oder in gegensätzliche Richtungen. Normalerweise pendeln sie zwischen parallelem und antiparallelem Zustand Millionen Mal pro Sekunde hin und her. Ein äußeres Magnetfeld aber kann dieses Gleichgewicht verschieben. Das bildet die Grundlage für einen Kompass: Sind die Cryptochrome in der halbrunden Netzhaut immer in der gleichen Richtung zur Oberfläche eingebaut, wirkt das Magnetfeld der Erde an verschiedenen Stellen unterschiedlich auf diese Moleküle und verändert so die Zeitdauer, in der Radikalpaare einen parallelen oder antiparallelen Spin haben. Das wiederum beeinflusst die chemischen Reaktionen, die das Molekül in der Folge durchläuft.
Das Magnetfeld immer im Blick
Und diese Reaktionen wiederum wirken auf die Nervenzellen des Tieres – so nimmt das Team um Mouritsen jedenfalls an. Jenen letzten Schritt in der Beweiskette haben sie in ihrer aktuellen Studie noch nicht gemacht. Doch sie halten es für plausibel, dass je nach Einfallswinkel der Magnetfeldlinien mal mehr, mal weniger starke Signale ins Gehirn der Vögel gesendet werden. Nach den Gesetzen der Quantenchemie entsteht so ein Muster, aus dem der Vogel dann die Richtung ermittelt, in die er im Herbst in sein Winterquartier und im Frühjahr in sein Brutgebiet fliegen muss. »Vielleicht ist es ein Schattenfleck, der sich über das legt, was der Vogel sonst noch sieht«, sagt der Forscher, »aber was der Vogel genau sieht, das wissen wir natürlich nicht.«
Auf einen Magnetkompass allein aber sollte sich niemand verlassen. Schließlich kann er ziemlich falsche Informationen liefern. Der magnetische Nordpol liegt beispielsweise nicht exakt auf dem geografischen Pol, sondern viele hundert Kilometer davon entfernt. Diese Abweichung müssen Menschen und Vögel gleichermaßen bei ihrer Navigation berücksichtigen. Auch Eisenerzlagerstätten in der Tiefe können das Magnetfeld der Erde verformen. »Um solche Missweisungen zu korrigieren, können Vögel ihren Magnetkompass zum Beispiel mit dem Sonnen- oder Sternenkompass eichen«, erklärt Henrik Mouritsen, der dieses Phänomen bereits 2004 untersuchte.
Wie man die Sterne für die Navigation nutzt, lernen Vogelküken schon, kurz nachdem sie aus dem Ei geschlüpft sind. Bereits dort beobachten sie, wie sich die Lichtpunkte am Himmel im Laufe der Nacht in einem großen Bogen bewegen. Am gemeinsamen Drehpunkt dieser Sterne aber ist auf der Nordhalbkugel der Erde Norden. Genau gegenüber muss es daher nach Süden gehen, und die anderen Himmelsrichtungen lassen sich mit diesem Sternenkompass ebenfalls leicht feststellen. Natürlich gibt auch die Sonne den Vögeln einen Eindruck, wo sich die Himmelsrichtungen befinden.
Magnetempfindliche Moleküle aus umprogrammierten Bakterien
Die Theorie des quantenmechanischen Kompasses im Auge stand also. In der Praxis aber könnte die lichtempfindliche Reaktion beispielsweise viel zu schwach sein, um Auswirkungen auf das Molekül, geschweige denn auf das Nervensystem zu haben. Womöglich führten die Augenexperimente die Forschung auf eine falsche Fährte und der Magnetsinn findet sich an ganz anderer Stelle im Körper, etwa in Eisenverbindungen in den Zellen; dies merkt Eric Warrant in einem begleitenden Kommentar in »Nature« an. Es gilt zu bedenken, dass die Quantenphänomene, die man an den Cryptochromen bisher nur im Pflanzenreich beobachtet hatte, extrem kurzlebig und subtil sind. Nachzuweisen, dass sie im Vogelauge so wirksam sind wie vorhergesagt, wurde für die Gruppe um Mouritsen zu einer Mammutaufgabe. Bereits seit dem Jahr 2004 suchen sie nach Wegen, wie man ausreichend Cryptochrom im Labor herstellen könnte.
»Da wir das Erbgut des Rotkehlchens bereits sequenziert hatten, wollten wir die Erbinformation für das Rotkehlchen-Cryptochrom-4 in Escherichia coli einbauen und die Bakterien dieses Protein herstellen lassen«, erklärt der Forscher. Das Vorhaben erwies sich aber als äußerst schwierig, weil das Cryptochrom im Vogelauge mit dem Molekül Flavin-Adenin-Dinukleotid oder kurz »FAD« locker verbunden ist. Obwohl die Bakterien in einer Nährlösung mit reichlich FAD das Cryptochrom offenbar in hinreichenden Mengen herstellten, fand das Team keine Spuren der erhofften Kombination aus diesem Protein und FAD.
Erst als es Jingjing Xu mit sehr ungewöhnlichen Versuchsbedingungen probierte, klappte die Reaktion: Die Doktorandin aus China senkte nicht nur die Temperaturen und verlangsamte so die biochemischen Reaktionen erheblich, sondern wandte noch einige weitere, recht unorthodoxe Tricks an, bis die Bakterien tatsächlich die Kombination aus Cryptochrom-4 und FAD herstellten. Auch das Herauslösen des Doppel-Biomoleküls aus den Bakterien bedurfte einer raffiniert ausgetüftelten Ultraschallmethode. Am Ende erhielten die Forschenden eine gelbe Lösung, in der nur noch die Cryptochrom-4-FAD-Kombination schwamm.
Einem Radikalpaar über die Schulter schauen
»Die Reaktionsgefäße mit dieser Flüssigkeit haben wir dann auf normales Eis gepackt und zu Peter Hore sowie Christiane Timmel und Stuart Mackenzie an der University of Oxford geschickt«, sagt Henrik Mouritsen. Derzeit schaffen es nur diese beiden Gruppen, mit einer Absorptionsspektroskopie genannten Methode im Nano- und Mikrosekundenbereich direkt zu beobachten, wie ein Magnetfeld die Radikalpaare im Cryptochrom beeinflusst.
»Wir können ja nur geringe Mengen der Substanz in niedriger Konzentration herstellen«, sagt Mouritsen. Um trotzdem den Effekt zu sehen, sollte ein Lichtpuls möglichst viele Cryptochrom-4-Moleküle passieren. Also installierten Timmel, Mackenzie und Team spezielle Spiegel, die den Lichtpuls sehr viele Male durch die Lösung hin- und herschicken und damit die vom Licht zurückgelegte Strecke vertausendfachen.
So kann das Team aus Oxford, Oldenburg und weiteren Forschungsinstituten dann beobachten, wie das Flavin zunächst das blaue Licht absorbiert und wie danach ein Elektron des Radikalpaars auf einer Kette von vier Aminosäuren von einer zur nächsten hüpft, bis es schließlich auf dem FAD landet. »Dadurch sind die beiden Elektronen weit genug voneinander entfernt, um längere Zeit in diesem Zustand bleiben zu können«, erklärt Henrik Mouritsen.
Das Kompassmolekül der Zugvögel ist empfindlicher als das von Standvögeln
Als die Gruppen in Oldenburg und Oxford das Experiment mit den jeweils ein wenig unterschiedlichen Cryptochromen von Hühnern und Tauben wiederholten, reagierten beide Doppel-Biomoleküle erheblich schwächer auf das angelegte Magnetfeld als das Rotkehlchen-Cryptochrom. Damit stellten die Gruppen in Oldenburg und Oxford fest, dass die Cryptochrome von Zugvögeln deutlich stärker auf Magnetfelder reagieren als die von Tauben und Hühnern, die beide nicht über sehr große Distanzen wandern. Die Hinweise verdichten sich also, dass diese Biomoleküle tatsächlich der Magnetkompass im Auge von Zugvögeln sind.
Als Nächstes wollen Henrik Mouritsen und sein Team gemeinsam mit den Gruppen in Oxford auch die Cryptochrome von Mönchsgrasmücken untersuchen, die genau wie die Rotkehlchen auf einen zuverlässigen Magnetkompass angewiesen sind, der den meist einsam und mutterseelenallein fliegenden Vögeln die Richtung zeigt.
Ein guter Kompass allein schützt freilich nicht vor den vielfältigen Gefahren der Reise. »Weniger als ein Drittel der gestarteten Jungvögel von kleineren Singvogelarten kommen im folgenden Frühjahr nach Mitteleuropa zurück«, sagt der Oldenburger Forscher. Und auch bei den älteren Jahrgängen schafft nur ungefähr die Hälfte den Hin- und Rückflug. Für die Vögel heißt es da nur: Augen auf und durch.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.