Mikroskopie-Pionier: Die geheimen Tricks des Antoni van Leeuwenhoek
Antoni van Leeuwenhoek (1632-1723) verstand es nicht nur, grandiose Mikroskope zu bauen, sondern auch, sein Knowhow vor der Fachwelt zu verbergen. Mehr als drei Jahrhunderte lang vermochte niemand schlüssig zu erklären, wie ihm Vergrößerungen um das 270-Fache gelungen waren. Nun jedoch scheint das Geheimrezept gelüftet – und mit ihm auch der Grund, warum der Barockforscher lieber den Mantel des Schweigens darüberlegte: Es war ihm offenbar peinlich.
Van Leeuwenhoek lebte in einer Zeit des Umbruchs. Der Dreißigjährige Krieg hatte Mitteleuropa schwer erschüttert, die Niederlande hingegen profitierten: Endlich unabhängig von Spanien blühten sie auf und eroberten einen Spitzenplatz im Welthandel. In Delft betrieb van Leeuwenhoek nicht nur einen schwunghaften Im- und Export von Tuchen, er gehörte schon mit 27 Jahren zu den Ratsherren der Stadt und konnte sich sein Leben lang eines stattlichen Gehalts erfreuen. Zudem arbeitete er als Landvermesser und verwaltete den Nachlass des Malers Jan Vermeer.
Mehr als 500 Instrumente werden im Nachlass erwähnt
Derart gut gestellt widmete er sich mit großer Hingabe der Mikroskopie. Fortschritte in der Optik brachten nicht nur die Himmelsbeobachtung voran, sondern erschlossen zunehmend auch den Mikrokosmos. Im 17. Jahrhundert gewannen zudem Experimente in der Wissenschaft an Bedeutung. Obwohl er keine akademische Ausbildung genossen hatte und auch kein Latein verstand, die universelle Gelehrtensprache der Zeit, gehörte der Delfter bald zu den führenden Experten in der frühen Mikroskopie. Er sah zum Beispiel als Erster Bakterien und erkundete Kapillargefäße, einen wesentlichen Bestandteil des erst wenige Jahrzehnte zuvor postulierten Blutkreislaufs.
Seine ersten Instrumente hatte van Leeuwenhoek vielleicht noch gekauft, bald aber baute er sie selbst. Ein Auktionskatalog von 1747 verzeichnete in seinem Nachlass mehr als 500 aus Glas und Messing selbst gefertigte Instrumente. Nur eine Hand voll gibt es heute noch, darunter das Topmodell des Museums der Universität Utrecht: Es vergrößert noch 266-fach und erlaubt es, bis zu 1,35 Mikrometer schmale Strukturen zu unterscheiden. Ein typischer Zellkern einer tierischen Zelle ist 5 bis 16 Mikrometer groß.
Van Leeuwenhoeks berühmter Konkurrent
Wie ihm solche Spitzenleistungen gelangen, darüber hielt sich der Autodidakt bedeckt. Oder wie es sein Zeitgenosse, der britische Mikroskopie-Pionier Robert Hooke (1635-1702), bedauernd ausdrückte: »Die Art und Weise, wie Mr. Leeuwenhoek seine Entdeckungen gewonnen hat, hält er aus Gründen, die nur ihm bekannt sind, für nicht geeignet, um sie anderen zu vermitteln.« Vielleicht hatte Hookes 1665 erschienene »Micrographia« dessen Leidenschaft überhaupt erst geweckt. Den aktuellen Untersuchungen des niederländischen Forscherteams zufolge war Hooke sogar noch weit nachhaltiger am Erfolg seines Konkurrenten beteiligt.
Nutzte Hooke vor allem Mikroskope aus zwei Komponenten, einem Objektiv und einem Okular (Ersteres erzeugt ein vergrößertes Zwischenbild, das dann mit dem Okular betrachtet wird), setzte der Delfter auf Einzellinsensysteme: Zwei Messingplatten, dazwischen die handgefertigte Linse, Bohrungen definieren die dem Licht zur Verfügung stehende Öffnungsweite (Apertur) des Mikroskops, eine Nadel trägt das zu betrachtende Objekt. Vermutlich baute van Leeuwenhoek für jedes Experiment beziehungsweise Untersuchungsobjekt ein spezielles Mikroskop, daher deren hohe Zahl. Eigenangaben zur Vergrößerung sind kaum erhalten, die Größen der entdeckten Objekte interessierten ihn mehr, als Maßstab dienten ihm Sandkörner und Haare.
Schleifen, blasen, in der Flamme formen
Wie aber war es dem Tuchhändler gelungen, so unvergleichliche Linsen zu fertigen? Hatte er Rohlinge zurechtgeschliffen und poliert? Andere hätten dies getan, notierte er und lobte die geringe Dicke ihrer Produkte. Theoretisch hätte van Leeuwenhoek auch kugelförmige Linsen aus Glasschmelzen gewinnen können, sei es durch Drehen eines Tropfens auf einer Nadelspitze, sei es durch Erhitzen eines Glasfadens, genauer: des Fadenendes. Sein Landsmann Johan Hudde hatte die erste Technik 1658 vorgeschlagen, doch van Leeuwenhoek ließ sich negativ über die Ergebnisse aus. Die zweite schlug Hooke in der »Micrographia« und mit Verbesserungen noch einmal 1678 vor. Van Leeuwenhoek erwähnte sie nie. Dafür schrieb er aber nebulös von einer Technik des Glasblasens, die er nach zehn Jahren des Experimentierens entwickelt habe, um asphärische Linsen zu fertigen, also solche, bei denen eine oder gar beide Seiten von der sonst üblichen Kugelform abweichen.
1981 untersuchte der Optikexperte Jan van Zuylen neun der erhaltenen Mikroskope und befand, van Leeuwenhoek habe zumeist geschliffen, nur nicht beim erwähnten Hochleistungsexemplar. Die glatte Oberfläche der Linse sei ebenso wie darin eingeschlossene Luftbläschen ein Ergebnis des Glasblasens, überlegte van Zuylen. Er vermutete zudem eine asphärische Form, wie sie als Verdickung gegenüber dem Lufteinlassrohr entsteht, wenn ein Glasklumpen erhitzt und dann zur Kugel aufgeblasen wird.
Auch van Zuylen blieben freilich die vom Metall eingefassten Bereiche der Linsen verborgen. Mit Neutronenstrahlen haben Forscher sie nun erstmals sichtbar gemacht. Wie bei der Computertomografie wird das Objekt scheibchenweise durchleuchtet und anschließend in seiner räumlichen Gestalt rekonstruiert. Die Streuung der Neutronen an den Atomkernen wird mit Detektoren gemessen. Anschließend lassen sich auch die Werkstoffe der leeuwenhoekschen Mikroskope Messing, Glas und Luft gut unterscheiden.
Neutronen erlauben den Blick unter die Messingplatten
Der Forschungsreaktor der TU Delft lieferte die Neutronen. Da sich diese mal wie Teilchen, mal wie Wellen verhalten, ist es möglich, sie mit speziellen Optiken zu lenken. Beispielsweise bündeln Mikrokanäle aus beschichteten Glasplatten die Neutronen. Es ist dasselbe Prinzip wie bei der Lichtleitung in Glasfasern: Die Wellen werden an den Innenseiten vollständig reflektiert und können die Leiter erst am Ende verlassen.
Das Team des Physikers Lambert van Eijck entwickelte gemeinsam mit Kollegen des Paul Scherrer Instituts in Villingen (Schweiz) auf dieser Grundlage 2018 das Neutronentomografie-System FISH für Materialanalysen. Damit durchleuchteten sie ein Leeuwenhoek-Mikroskop des Rijksmuseums Boerhaave in Leiden, das eine 118-fache Vergrößerung aufweist, und das erwähnte Hochleistungsinstrument. Tiemen Cocquyt, Kurator am Rijksmuseum und Experte in Sachen Technikgeschichte, übernahm die wissenschaftshistorische Auswertung. Ihre Analyse erschien in der Mai-Ausgabe von »Science Advances«.
Mit einer räumlichen Auflösung von 0,15 Millimetern enthüllte der Neutronenstrahl jeweils den inneren Aufbau der Instrumente. Demnach fixieren die Platten des ersten eine herkömmliche, abgeflachte Linse, 2,7 Millimeter im Durchmesser und 1,5 Millimeter dick. Für ein Herausbrechen aus einer geblasenen Kugel, wie van Zuylen es vorschlug, fehlt jeglicher Hinweis. Ihr deutlicher Rand ist aber ein Indiz dafür, dass sie in Form geschliffen wurde, und zwar mit großer Sorgfalt – die dünne Linse ist über ihre gesamte Oberfläche sehr gleichmäßig gekrümmt. Die Kupferplatten umfassen sie sehr präzise, im Bereich der Apertur ist das Messing wenige zehntel Millimeter dick.
Eine Linse zeigt ein verräterisches Anhängsel
Für große Augen beim Forscherteam sorgte das Topmodell: Es birgt eine perfekte Kugellinse von 1,3 Millimeter Durchmesser. Van Leeuwenhoek hatte sie äußerst raffiniert positioniert. Nicht nur sind die Messingplatten so ausgeformt, dass die Linse näher an den Objektträger heranrückt; die Bohrung fällt mit 0,55 Millimeter Durchmesser auf dieser Seite auch kleiner aus als die gegenüberliegende (0,7 Millimeter).
Cocquyt zollt dem Erbauer dieses Instruments höchsten Respekt. Auch heutige Mikroskopentwickler müssen Abbildungsfehler berücksichtigen. Da laufen Lichtstrahlen, die außen auf eine Linse treffen, durch einen anderen Brennpunkt als solche weiter innen (Aberration), da wird Licht sozusagen um die Kante einer Öffnung herum gebeugt (Diffraktion). Die physikalischen Ursachen sind längst bekannt und mathematisch ausformuliert, doch damals halfen nur geduldige Versuche, um Lösungen zu finden. Tatsächlich ergeben eine Kugellinse und eine kleine Apertur weniger sphärische Aberration, Letzteres verstärkt aber die Diffraktion. Der optimale Kompromiss ließe sich heute berechnen, im 17. Jahrhundert musste man herumexperimentieren.
Dass van Leeuwenhoeks vielleicht bestes Mikroskop eine Kugellinse enthält, lässt die Forscher aber auch schmunzeln. Denn der Delfter erklärte, dergleichen sei ungeeignet für seine filigranen Instrumente. Eine kleine Ausziehung an der Linse, im Neutronentomogramm deutlich zu sehen, ist ein noch pikanteres Detail. Denn so etwas entsteht bei der von Robert Hooke vorgeschlagenen Fertigung einer Kugellinse aus einem Glasfaden. Dass »Mr. Leeuwenhoek« niemandem verraten wollte, wie ihm ein derart herausragendes Mikroskop gelang, findet jetzt eine einfache Erklärung. Vielleicht wollte er seinem Ruf als genialer Mikroskopiker keinen Abbruch tun, vielleicht gönnte er dem Konkurrenten auch schlicht nicht die Genugtuung.
Anmerkung (14.06.): In der Ursprungsfassung wurde der Begriff »asphärisch« falsch erklärt. Wir haben den Fehler behoben und bedanken uns bei den Hinweisgebern!
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