Naturschutz in Deutschland: Das Schweigen der Zirpen
Wenn im Frühsommer die Grauammern rufen und die Goldenen Scheckenfalter über die Weiden bei Bolleroda segeln, ist Herbert Nickel gleichermaßen begeistert wie besorgt. Hier, wo Thüringen ein bisschen wie die afrikanische Buschsavanne aussieht, liegt der Nationalpark Hainich. Stachelige Sträucher wie Schlehe und Weißdorn, Gräser, blühende Kräuter und vereinzelte Bäume bilden zusammen mit kleinen Wäldchen und Tümpeln ein abwechslungsreiches Mosaik aus Lebensräumen. Zahlreiche Rote-Liste-Arten haben hier eine Heimat gefunden – aber es ist eine bedrohte Heimat: Nicht Bagger, Beton oder Umweltverschmutzung werden ihnen gefährlich, sondern die Nationalparkidee selbst.
»Wir haben ein Riesenproblem im Nationalpark«, sagt Nickel, selbstständiger Biologe aus Göttingen, »wenn wir nichts ändern, werden wir große Populationen von Arten des Offenlandes verlieren.« Neben bedrohten Zikaden seien es tausende Brutpaare seltener Vögel: Grauammer, Sperbergrasmücke, Braunkehlchen und etliche mehr zählt er auf. Wie kann das sein, wo doch ein Nationalpark die Natur besonders gut schützen sollte?
Ein Nationalpark muss auf mindestens drei Viertel seiner Fläche der Natur freien Lauf lassen. Aber »die Natur«, das sei eben ein schillernder Begriff, sagt Manfred Großmann, der seit 2007 den Nationalpark Hainich leitet.
Wenn Großmann im Frühjahr durch den Hainich wandert, dann sieht er einen Urwald in Entstehung. Mit Macht sprießt frisches Grün nach der Winterruhe, zwischen umgestürzten, halb verrotteten Baumstämmen sprenkeln Frühblüher den Waldboden, Bärlauchduft weht durchs Unterholz. Hier im Hainich wächst seit Jahrzehnten ein wilder Buchenwald. An vielen Stellen ähnelt er bereits den Urwäldern, wie sie einst große Teile Mitteleuropas bedeckten, inzwischen aber so selten geworden sind, dass die UNESCO im Jahr 2011 einen Abschnitt des Nationalparks zum Weltnaturerbe erklärte.
Aus jeder Ritze, jedem Astloch lugt das Leben: Buchenwälder geben geschätzt 10 000 Arten ein Zuhause, darunter 6000 Tierarten. Viele davon sind auf ökologische Nischen angewiesen, die es in den aufgeräumten Wirtschaftswäldern kaum noch gibt. Mit 7500 Hektar ist der thüringische Nationalpark zwar vergleichsweise klein, bietet aber dennoch Lebensraum für Wildkatze, Schwarzspecht und seltene Holzkäfer, nicht zuletzt, weil er schon lange vor seiner Unterschutzstellung kaum forstwirtschaftlich genutzt wurde.
Zwei Gebiete, zwei Geschichten, zwei Ökosysteme
Auch im Süden, wo im Sommer die Zirpen lärmen und der Hainich an die Savanne erinnert, verdankt er seinen ökologischen Reichtum dem Umstand, nie intensivwirtschaftlich genutzt worden zu sein. Aber seine Geschichte verlief ganz anders. Der Kindel, wie das Areal heißt, diente seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als militärischer Übungsplatz. Bis 1990 durchpflügten Panzer seinen Boden, und Schäfer sorgten mit ihren Tieren dafür, dass das Gelände immer frei von dichterem Bewuchs blieb. Dabei schufen sie eine Landschaftsform, die heute ebenfalls Seltenheitswert hat.
Als 1997 der Nationalpark Hainich geschaffen wurde, umfasste er sowohl die Buchenwälder im Norden als auch den ehemaligen Truppenübungsplatz im Süden. Von Beginn an war es erklärtes Ziel der Verwaltung, 100 Prozent der Fläche als reine »Wildnis«, also ohne Eingriff des Menschen, zu managen – ein Ansatz, der von Fachleuten als »Prozessschutz« bezeichnet wird oder griffiger: die »Natur Natur sein lassen«. Die Beweidung wurde schrittweise reduziert, die Panzer waren ohnehin verschwunden. Damit war das Schicksal des Kindels vorgezeichnet. Der Buchenurwald würde sich dieses kleine Stückchen Mitteleuropa zurückerobern.
All jene Arten, die sich nicht in urigen Buchenwäldern wohl fühlen, sondern lichtere Wälder und offenere Landschaften brauchen, müssten abwandern. Aber wohin? Vor Jahrzehnten gab es auch in den agrarisch genutzten Flächen Deutschlands genügend Platz für die »Offenlandarten«. Inzwischen jedoch haben Flächenverbrauch und die Intensivierung der Landwirtschaft ihre Lebensräume beschnitten. Selbst für frühere Allerweltsarten wie die Feldlerche braucht es mittlerweile aufwändige Schutzprogramme wie die »Lerchenfenster«. Für Braunkehlchen, Raubwürger, Heidelerche und Wiesenpieper aber wird es eng in Feld und Flur, wenn noch mehr Flächen wie der Kindel zuwuchern, und sei es für einen artenreichen Buchenwald.
Nationalpark in der Zwickmühle
»Wir waren immer stolz darauf, einen besonders hohen Anteil an Flächen mit reiner Naturentwicklung zu haben«, sagt Nationalparkleiter Großmann. Anfangs gab es noch auf einem Drittel der Parkfläche offene Lebensräume, aber sie begannen, wie erwartet, nach und nach zu schwinden. Und so geriet der Park in Konflikt mit dem Gesetz. Denn der Hainich ist nicht nur Nationalpark, sondern gehört auch vollständig zum europäischen Schutzgebietsnetz »Natura 2000«. Für diese Gebiete gelten die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) und die Vogelschutzrichtlinie, die festlegen, welche Lebensräume und Arten von europäischer Bedeutung besonders zu schützen sind. Arten des Offenlandes, wie der Goldene Scheckenfalter oder die Sperbergrasmücke, stehen ganz oben auf den FFH-Listen.
Der Nationalpark sieht sich also in einer Zwickmühle. Einerseits soll er die natürliche Entwicklung zulassen und andererseits die Arten schützen, die ihren Lebensraum verlieren, wenn das Offenland verschwindet. »Wir haben das Thema lange vor uns hergeschoben«, sagt Großmann. Schließlich fand man 2017 einen Kompromiss. »Wir nennen ihn die 90/10-Regelung, also 90 Prozent Urwald und 10 Prozent gezieltes Management«, erklärt der Nationalparkleiter. Seither wurden 300 Hektar als »Wilde Weiden« wieder neu in das Weidemanagement aufgenommen, so dass jetzt 750 Hektar oder zehn Prozent der Nationalparkfläche durch Beweidung offen gehalten werden.
Auf teils über 100 Hektar großen Testflächen suche man nun nach dem besten Weidekonzept und verbessere parallel dazu die Bedingungen für besonders bedrohte Arten durch aufwändige Artenschutzmaßnahmen, berichtet Großmann. So wurden auf manchen Flächen aufkommende Büsche und Bäume mit schwerem Gerät entfernt. Man legte kleine Tümpel für die Gelbbauchunke an, die in diesem Teil des Nationalparks einst in großer Zahl lebte. Und damit der Goldene Scheckenfalter ausreichend Nahrung findet, versucht man die bevorzugte Futterpflanze des Falters, die Tauben-Skabiose, eigens in Bereichen außerhalb des Parks anzusiedeln, um dort neue Lebensräume zu schaffen.
Ist damit die Gefahr, dass die Offenlandarten ganz aus dem Hainich verschwinden, gebannt? Insektenforscher Herbert Nickel begrüßt das neue Weidemanagement. Es reiche aber bei Weitem nicht aus: »Es ist doch absurd, dass wir bedrohte Arten vor der Nationalparkidee schützen müssen«, findet er und fordert, 25 Prozent des Nationalparks als Offenland zu managen. Das sei nach den Vorgaben der IUCN, der Weltnaturschutzunion, in einem Nationalpark ohne Weiteres möglich. Doch auch im 2023 erschienenen aktuellen Managementplan für den Nationalpark wurde das 90/10-Ziel wieder festgeschrieben.
Man müsste sich gar nicht um Prozentzahlen streiten, würde das Problem mit dem Prozessschutz nicht weit über die Grenzen des kleinen Kindels hinausragen. Es sei »das zentrale Problem im deutschen Naturschutz, dass die Natur meist ohne die Weidetiere gedacht werde«, meint Nickel.
Thomas Fartmann, Professor für Biodiversität und Landschaftsökologie an der Universität Osnabrück, kann auf Anhieb weitere Beispiele nennen, wo sich Naturschutz und Prozessschutz in die Quere kommen: im Nationalpark Unteres Odertal die Brenndoldenwiesen der Oderaue, im Nationalpark Eifel die Borstgrasrasen. Auch in vielen der »Nationalen Naturlandschaften« im Osten der Republik finde man statt artenreicher Heiden und Sandtrockenrasen inzwischen eintönige Pionierwälder mit Birken und Kiefern, sagt Fartmann. Überall würden die großen Pflanzenfresser in der Landschaft fehlen, und das bedeute einen rapiden Verlust an Artenvielfalt. In einem aktuellen Gutachten zur Situation des Goldenen Scheckenfalters fordert Fartmann den Nationalpark Hainich dazu auf, großflächige Maßnahmen umzusetzen, um die stark gefährdete Art zu schützen. Vor allem seien Entbuschungen, mehr extensive Beweidung und ein vollständiger Verzicht auf die Jagd im zentralen Kindelgebiet nötig.
Europäische Buschsavanne
Wie sähe eine wilde, urtümliche Natur in Europa überhaupt aus? Lange Zeit war man davon überzeugt, dass große Teile der Landschaft nach der letzten Eiszeit von dichten Wäldern bedeckt waren. Auswertungen von Fossilien, Baumringen sowie Pollen aus Eis- und Sedimentbohrungen brachten dieses Bild aber ins Wanken. Sie legen nahe, dass Europa bereits vor der Ausbreitung von Ackerbau und Viehzucht vielerorts an die offene afrikanische Busch- und Baumsavanne erinnerte. Und wo es Wälder gab, könnten sie vielfach lichter gewesen sein als lange geglaubt. Der Grund dafür: die großen wild lebenden Weidetiere und ihr unersättlicher Appetit.
Der dänische Biologe Jens-Christian Svenning forscht dazu mit seinem Team an der Universität Aarhus. In einer im November 2023 veröffentlichten Studie schätzen die Fachleute, dass mehr als die Hälfte Europas von offenen, savannenartigen Landschaften bedeckt war. Das fanden sie für den Zeitabschnitt des frühen Holozäns (von 11 700 bis 6000 Jahre vor heute) und für die letzte Warmzeit vor rund 120 000 Jahren, also der jüngsten mit dem heutigen Klima vergleichbaren Zeit der Erdgeschichte.
Auch Angelica Feurdean und Thomas Hickler vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum (BiK-F) in Frankfurt am Main kamen in einer 2018 erschienenen Studie zum Schluss, dass artenreiche Graslandschaften und offener Wald, auf Grund von Feuer und Weidetieren, während der letzten 12 000 Jahre in Europa viel weiter verbreitet waren als bislang angenommen. Erst als es vor rund 6000 Jahren feuchter wurde, konnte sich der Wald stärker ausbreiten, auf vielleicht 60 Prozent der Landschaft. In den vergangenen 3000 bis 4000 Jahren drängte ihn dann der Mensch mit seinem Bedarf nach Holz und Ackerland wieder zurück. Heute ist rund ein Drittel der Fläche der Bundesrepublik mit Wald und Forst bedeckt.
Das bedeutet, selbst zu Hochzeiten der Bewaldung hielten Wisente, Elche, Rothirsche, Auerochsen und Wildpferde auf großer Fläche die Landschaft offen. Blickt man noch weiter in die Vergangenheit, prägten Nashörner, Elefanten und Riesenhirsche über viele Jahrtausende das Bild. Heute sind die meisten dieser Tiere ausgestorben – was weniger am Klima als vielmehr an der Bejagung und Verdrängung durch den Menschen liege, wie das Team um Svenning schreibt.
Beweidung fördert Artenvielfalt
In der Oranienbaumer Heide wurde ab 2008 ein Kiefernforst in Weideland umgewandelt. Inzwischen weiden dort auf 800 Hektar Fläche rund 150 Heckrinder und Konik-Ponys. Begleitende Studien von Wissenschaftlerinnen um Antje Lorenz von der Stiftung Kulturlandschaft Sachsen-Anhalt belegen, wie positiv sich die Gegenwart der Weidetiere auf viele bedrohte Vogelarten ausgewirkt hat. So stieg der Bestand des Ziegenmelkers von 15 Brutpaaren im Jahr 2009 auf über 160 Paare im Jahr 2020. 2012 wurden erstmals wieder brütende Wiedehopfe in der Oranienbaumer Heide beobachtet, 2020 zählte das Forscherteam bereits 31 Brutpaare. Und auch der Bestand von Heidelerche, Schwarzkehlchen und Wendehals erhöhte sich deutlich.Tierische Landschaftsgestalter
Deswegen ist aus Sicht von Nickel und anderen Experten die »reine Lehre« eines Naturschutzes ohne jegliches Management vielerorts kontraproduktiv und unnatürlich. »Prozessschutz ist gut, wir wollen ja natürliche Prozesse, aber eben mit Weidetieren«, sagt Nickel.
Große Weidetiere sind Ökosystemingenieure. Sie sorgen durch ihr Fressen, ihren Dung, ihr Wälzen und Scharren für Dynamik in der Landschaft und lassen ein abwechslungsreiches Mosaik aus offenen, halb offenen und bewaldeten Lebensräumen entstehen. Nachdem die wilden Weidetierherden dezimiert und etliche Arten ausgerottet waren, fehlte ihre landschaftsgestaltende Wirkung. Später, in der vom Menschen besiedelten Kulturlandschaft, übernahmen Nutztiere wie Rinder und Pferde einen Teil der ökologischen Funktion der wilden Pflanzenfresser. Zu dieser Zeit bevölkerten noch Steinadler, Blauracken, Rotkopfwürger, Großtrappen, Triele und viele weitere heute verschwundene Arten die Lande. Mit der Modernisierung der Landwirtschaft wurden die Weidetiere dann zunehmend durch Maschinen ersetzt oder in den Stall verbannt. Ihr landschaftsprägender Einfluss ging verloren. Heute werden selbst in Nationalparks die wenigen verbliebenen wilden Weidetiere wie Rothirsche, Rehe und Wildschweine im Interesse der angrenzenden Forst- und Landwirtschaft bejagt.
Zurück zur Beweidung
Die Vorstellung, dass Europa ohne Zutun des Menschen fast ganz von einem dichten Urwald bedeckt wäre, geistert ebenso hartnäckig durch die Köpfe, wie die Schreckensbilder von durch Überweidung und Erosion zerstörten Böden. Ein zu hoher Viehbesatz und intensive Koppelhaltung hätten die Beweidung unter Naturschützern in Verruf gebracht, meint Nickel. Richtig umgesetzt, könne sie aber eine Lösung für viele Probleme im Natur- und Landschaftsschutz sein. Deswegen engagiert er sich im Verein »Naturnahe Weidelandschaften«. Der Verein propagiert eine extensive Beweidung, die sich in ihrer geringen Dichte und dynamischen Wirkung an die natürlichen Vorkommen wilder Weidetiere anlehnt. Dazu eignen sich Wildtiere wie Wisent, Elch und Rothirsch ebenso wie ursprüngliche Nutztierrassen, etwa Konik-Ponys oder Hochlandrinder.
Ziel dieses neuen Naturschutzansatzes, der auch als »Rewilding« oder »Wilding« bezeichnet wird, ist es, die natürliche Dynamik der Ökosysteme wieder anzukurbeln. Je größer das gemanagte Gebiet und je vernetzter die Naturgebiete in der Landschaft, desto weniger Eingriffe durch den Menschen sind dabei nötig. Bis dahin, dass die Kadaver gestorbener Tiere auf der Fläche verbleiben dürfen. Wie erfolgreich so eine »Naturschutzbeweidung« sein kann, lässt sich inzwischen in diversen Projekten in ganz Europa beobachten. Im holländischen Schutzgebiet Kraansvlak trotten Wisente durch die Dünen, im südenglischen Landgut Knepp Castle begeistern Rothirsche, Longhorn-Rinder und Exmoor-Ponys die zahlreichen Safarigäste und in der Oranienbaumer Heide bei Dessau dürfen Heckrinder und Konikpferde ganzjährig weiden.
Kleine und große Grasverwerter
Auf den offenen Flächen im Süden des Hainich-Nationalparks hat der Zikadenspezialist Herbert Nickel auch die Thüringer Dolchzirpe gefunden: eine bedrohte Trockenrasen-Art, die nur in einem kleinen Verbreitungsgebiet in Zentraleuropa vorkommt. Sie ernährt sich vom Trifthafer, einem Gras, das früher als Echter Wiesenhafer bekannt war, bis sich herausstellte, dass es Wiesen – auf denen regelmäßig gemäht wird – meidet und eigentlich Weiden bevorzugt.
In den Rodachauen bei Stressenhausen in Südthüringen hat ein Team um Nickel die Artenzahl der Zikaden auf einer nach gängigen Naturschutzvorgaben gemähten Referenzwiese mit einer fünf Jahre lang extensiv beweideten Fläche verglichen: Auf den Weiden fanden sich mehr als doppelt so viele Arten dieser kleinen Zirpen und bis zu viermal so viele Individuen.
Ein bisschen Wildnis
Volker Scherfose, bis Ende Januar stellvertretender Abteilungsleiter für Biotop- und Gebietsschutz im Bundesamt für Naturschutz, kann den neuen Weidekonzepten vieles abgewinnen. Er befürchtet aber eine Instrumentalisierung der Diskussion. Immer wieder würden Stimmen laut, die darauf aus seien, Nationalparks und andere Schutzgebiete zu schwächen. »Wenn wir uns den Zustand der Natur in Deutschland anschauen, dann brauchen wir aber nicht weniger Nationalparks, sondern mehr«, sagt Scherfose. Insgesamt gebe es noch viel zu wenig Prozessschutz in Deutschland.
Ähnlich sieht es der Leiter des Hainich-Nationalparks Großmann. Man könne auf begrenzter Fläche nicht alle Ziele gleichzeitig erreichen, so erstrebenswert sie auch sein mögen. Nationalparks machen in Deutschland nur sechs Promille der Landesfläche aus. »Müssen wir ausgerechnet auf diesen sechs Promille lenkend eingreifen, indem wir festlegen, welche Tiere in welcher Dichte auf welchen Flächen ›wilde Natur‹ oder ›Wildnis‹ gestalten?«
Zumal die Erfahrungen in Gebieten wie der Oranienbaumer Heide zeigen, dass die Großtierherden keineswegs sich selbst überlassen werden können. Dazu bräuchten sie Platz für saisonale Wanderungen, außerdem Bestandsgrößen, in denen es nicht auf Dauer zu Inzucht kommt, und nicht zuletzt fehlen fast immer die Beutegreifer, die sie in Schach halten, ohne sie auszurotten. Mit dem Anspruch der Nationalparks »Natur Natur sein« zu lassen, ist das schwer zu vereinbaren.
Aber muss man es überhaupt in Einklang bringen? Die Probleme im deutschen Naturschutz, sagt Großmann, lägen nicht auf den 0,6 Prozent der Landesfläche, in denen die Nationalparkregeln gelten, sondern in den übrigen 99,4 Prozent. Und auch Volker Scherfose moniert, dass sich Naturschutz in Deutschland meist nur auf kleinen »Inseln« abspiele, umgeben von einer Agrarlandschaft, die immer eintöniger und stiller wird.
»Wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, die Bedeutung der Weidetiere für die Artenvielfalt in unserer Kulturlandschaft, aber auch in den Schutzgebieten stärker zu berücksichtigen«, meint Thomas Fartmann. Sein Mitarbeiter Florian Fumy hat für seine Doktorarbeit im Südschwarzwald die Effekte großflächiger, ungedüngter Rinderweiden auf die Artenvielfalt untersucht. Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich, wie gut solche Weidesysteme für die Artenvielfalt sind. In Form von Allmenden waren sie bis Mitte des 20. Jahrhunderts prägender Bestandteil europäischer Kulturlandschaften. Großflächige extensive Rinderbeweidung wieder einzuführen, würde den Offenlandarten zu vielen neuen Lebensräumen verhelfen.
Zum Motto »Natur Natur sein lassen« gehört auch die Präsenz heimischer Wildtiere: von Wisent, Elch und Rothirsch bis zu Wildschwein und Biber. Wo wilde Pflanzenfresser fehlen oder nicht geduldet werden, können urige Pferde und Rinder wie Konik-Ponys, Wasserbüffel oder Galloways als Ersatz dienen – und uns eine Menge Arbeit abnehmen bei der dringlichen Aufgabe, widerstandsfähige Landschaften aufzubauen.
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