Direkt zum Inhalt

Neurodegeneration: Unterschätzte Proteine

Bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen sterben Nervenzellen im Gehirn ab, weil sich dort massenhaft fehlgefaltete Varianten bestimmter Proteine ablagern. Man könnte daher versuchen, die Eiweiße komplett zu beseitigen. Doch das hätte fatale Folgen.
Illustration mit Nervenzellen, an denen sich verklumpte, stäbchenförmige Plaques abgelagert haben
Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer bilden sich Plaques im Gehirn, die die Nervenzellen schädigen.

Sterben im Gehirn zunehmend Nervenzellen ab, hat das je nach Ort und Ursache des Abbaus ganz unterschiedliche, schwer wiegende Folgen. Fangen etwa die Hände an zu zittern, versteifen die Glieder und die Schritte werden immer kleiner, können das Anzeichen für eine Parkinsonerkrankung sein. Gelingt es einer Person nicht mehr, Arme und Beine fließend zu bewegen, und wird sie zudem auffällig aggressiv oder antriebslos und vergesslich, könnte Chorea Huntington dahinterstecken. Bei der wohl bekanntesten neurodegenerativen Erkrankung – Morbus Alzheimer – fallen zunächst Vergesslichkeit und Orientierungslosigkeit auf.

Alle drei Krankheiten schreiten unaufhörlich fort, ohne Aussicht auf Heilung. Und noch etwas verbindet sie: Im Gehirn der Betroffenen verklumpen fehlerhafte Proteine zu schädlichen Ablagerungen. Deshalb haben es sich unzählige Forschergruppen auf der ganzen Welt zur Aufgabe gemacht, die Rolle solcher Eiweißklümpchen zu erforschen und Mittel zu entwickeln, sie loszuwerden.

Was sich allerdings bislang nur wenige Fachleute gefragt haben: Welche Aufgabe haben die Proteine eigentlich im gesunden Zustand, also wenn sie korrekt gefaltet sind und sich nicht im Gehirn ablagern? Im Fall von Parkinson ist es das Alpha-Synuclein, bei Morbus Alzheimer unter anderem das Beta-Amyloid und bei Chorea Huntington das Huntingtin.

Alpha-Synuclein, die Anstandsdame

Die deutsche Biochemikerin Jacqueline Burré vom Weill Cornell Medical College in New York City erforscht seit rund 15 Jahren das für Parkinson relevante Protein Alpha-Synuclein. Bei Erkrankten reichern sich fehlgefaltete Versionen davon in rundlichen Ablagerungen an, den Lewy-Körperchen. Die Verklumpungen sind insbesondere in der für Bewegungsprozesse wichtigen Substantia nigra im Mittelhirn zu finden. Burré interessiert aber vor allem, welche Aufgaben es im Normalzustand erfüllt. »Wir denken, dass Alpha-Synuclein dabei hilft, das Gehirn gesund zu halten«, sagt sie.

Grundsätzlich ist Alpha-Synuclein, wenn auch nur in geringen Mengen, in der gesamten Nervenzelle verteilt, wo es verschiedene Funktionen hat: So ist es an der DNA-Reparatur beteiligt, reguliert die Bereitstellung von Energie in den Mitochondrien oder interagiert mit Fetten. Mit Abstand am häufigsten kommt es jedoch in der präsynaptischen Nervenendigung vor, wo es die Signalübertragung zwischen den Zellen unterstützt. Die Präsynapse ist jener Teil der Synapse – der Schaltstelle zwischen einer Nervenzelle und einer anderen Zelle –, von dem aus eine Information übertragen wird. Um einen neuronalen Reiz, ein so genanntes Aktionspotenzial, von einem Neuron auf das nächste zu übertragen, werden Botenstoffe aus kleinen Bläschen in der Präsynapse freigesetzt, den Vesikeln. Diese Transmittermoleküle gelangen zunächst in einen schmalen Raum zwischen den beiden Zellen, den synaptischen Spalt, und binden dann an passende Rezeptoren auf der Membran einer nachgeschalteten, postsynaptischen Zelle. Dort lösen sie wiederum ein neues Aktionspotenzial aus.

Damit der Inhalt der Vesikel in den synaptischen Spalt abgegeben werden kann, müssen die Membranen der Vesikel und der Nervenzelle miteinander verschmelzen. »Das geschieht ganz grob wie bei einem Reißverschluss«, erklärt Burré. Hauptakteure sind eine Gruppe von Proteinen, die den so genannten SNARE-Komplex bilden. Ein Teil von ihnen ist in der Membran der Vesikel verankert und ragt mit ihren tentakelartigen Enden in den synaptischen Spalt hinein. Die übrigen befinden sich in der Membran der Nervenzelle und erstrecken sich ebenfalls in den Spalt hinein. Sobald sich die Vesikel der Nervenzelle nähern, wickeln sich die freien Enden der Proteine zu einer Helix zusammen. »Mit ihrer Hilfe können die Membranen zueinandergezogen werden und fusionieren«, sagt Burré. Hier kommt Alpha-Synuclein als Aufpasser ins Spiel: Indem es sich an eines der beteiligten SNARE-Proteine an der Vesikelmembran heftet, stellt es sicher, dass der Komplex zusammenfindet.

Helfer an der Synapse | Nervenzellen übertragen Signale an benachbarte Neurone über mit Botenstoffen gefüllte synaptische Vesikel. Damit diese ihre Fracht entlassen können, müssen sie sich an die Membran der nachgeschalteten Zelle heften und mit ihr verschmelzen. Das geschieht mit Hilfe von Proteinen des so genannten SNARE-Komplexes. Sie sind sowohl in der Vesikel- als auch in der Zellmembran verankert und verschränken ihre freien Enden miteinander. So ziehen sie die Vesikel an das Neuron heran. Alpha-Synuclein stabilisiert dieses Gefüge, indem es mit einem weiteren Protein in der Vesikelmembran interagiert.

Diese Funktion haben Burré und ihr Team im Jahr 2010 bei Untersuchungen an Zellen und Mäusen entdeckt. Zwei Jahre lang beobachteten sie Nagetiere, die kein Alpha-Synuclein bilden konnten. »Zunächst ging es ihnen gut«, sagt die Biochemikerin. »Das änderte sich aber irgendwann.« Die Mäuse entwickelten unter anderem Bewegungsstörungen und starben früher als gesunde Nager. In einer Analyse von Gewebeproben stellten die Fachleute fest, dass die Mäuse im Alter weniger SNARE-Komplexe bildeten als betagte Vergleichstiere. Burré vermutet deshalb, dass sich die SNARE-Proteine ohne Alpha-Synuclein stärker abnutzen: »Wenn Proteine immer und immer wieder eingesetzt werden, entstehen kleine Fehler in ihrer Struktur.« Auch wenn Alpha-Synuclein wohl nicht unabdingbar für die Fusion von Membranen ist: »Es macht den Prozess wirkungsvoller oder erhält ihn über die lange Zeit, die wir leben, aufrecht«, erklärt die Biochemikerin.

Außerdem übernimmt das Protein noch eine weitere Funktion in den Synapsen, wie die New Yorker Gruppe 2013 gezeigt hat: Es verbindet mehrere Vesikel miteinander, indem es sich an ihre Membranen bindet. Dadurch entsteht eine Art Vesikel-Pool, aus dem einzelne Bläschen nur langsam wieder freikommen. »Es könnte sein, dass der Pool als Reserve dient«, spekuliert Burré. Wenn eine Nervenzelle ein besonders starkes Signal weitergeben muss, könnten die dafür notwendigen Botenstoffe durch den Vesikelvorrat in ausreichender Menge bereitgestellt werden. Fehlt Alpha-Synuclein, verkleinert sich die Vesikelreserve.

Amyloid, der Tausendsassa

Bei der Alzheimerdemenz lagern sich gleich mehrere Proteine im Gehirn ab. Eines von ihnen, Beta-Amyloid, bildet schädliche Plaques zwischen den Nervenzellen. Es wird von einer Gruppe von Enzymen, den Beta- und Gamma-Sekretasen, aus dem Vorläufermolekül Amyloid-Precursor-Protein (APP) herausgeschnitten, auch im gesunden Gehirn. Dort hat es sich jedoch als ziemlich nützlich erwiesen: Beta-Amyloid hält den Aktivitätspegel von Nervenverbindungen innerhalb eines Netzwerks stabil und kann ihn bei Bedarf hoch- und herunterregulieren. Jene so genannte synaptische Plastizität wird dann wichtig, wenn Teile des Nervensystems geschädigt sind und ihr Ausfall kompensiert werden muss: Senden einzelne Zellen zu starke Signale, feuern andere dafür weniger und umgekehrt. Ohne Beta-Amyloid fehlt den Nervenzellen diese Fähigkeit, wie Fachleute unter Beteiligung von Ulrike Müller von der Universität Heidelberg 2021 zeigten. »Beta-Amyloid macht aber nur ein kleines Stück des Vorläufer-Proteins APP aus«, sagt die Alzheimerforscherin. Denn APP besitzt vielseitige, zum Teil überlebenswichtige Funktionen.

Beta-Amyloid hält den Aktivitätspegel von Nervenverbindungen innerhalb eines Netzwerks stabil

Eine seiner wichtigsten Aufgaben laut Müller: eine Brücke zwischen zwei Zellen zu schlagen. Dazu schließen sich zwei einzelne APP-Moleküle, die in den Membranen zweier Zellen verankert sind, zu einem Dimer zusammen. Das scheint die prä- und postsynaptischen Membranen miteinander zu verbinden und die Signalübertragung zwischen den Zellen zu fördern. Dadurch trage APP insbesondere dazu bei, dass die Zellen vermehrt Synapsen bilden, sagt Müller. Außerdem soll es unabdingbar für die Entwicklung sein: Schaltet man APP und das mit ihm verwandte Amyloid-Precursor-Like-Protein 2 (APLP2) in Mäusen aus, sterben die Tiere kurz nach der Geburt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass man mit dem Eingriff die Signalübertragung an den Synapsen zwischen Nerven und dem für die Atmung wichtigen Zwerchfell stört. Das geschieht allerdings nur, wenn sowohl APP als auch APLP2 ausgeschaltet sind. Offenbar haben die beiden Moleküle zum Teil die gleichen Aufgaben. »APLP2 ist quasi ein Backup für die physiologische Funktion von APP«, sagt Müller.

Um diese besser verstehen zu können, haben sie und ihr Team im Jahr 2015 überlebensfähige Mäuse gezüchtet, denen die beiden Proteine nur im Gehirn fehlten. Dann bestimmten sie die Zahl der Synapsen im Hippocampus, der als zentrale Hirnregion für Lern- und Gedächtnisprozesse gilt. Wie sich herausstellte, besaßen Mäuse ohne APP und APLP2 weniger Synapsen als üblich. Das spiegelte sich auch in Verhaltenstests wider, in denen die Nager bereits im jungen Erwachsenenalter schlechter abschnitten als die Tiere einer unbehandelten Kontrollgruppe. Darüber hinaus war die synaptische Plastizität eingeschränkt: Die Synapsen konnten Signale weniger effektiv über einen längeren Zeitraum verstärken oder abschwächen. Doch das wäre nötig für ein funktionierendes Gedächtnis.

Kritische Schaltstelle | Ausgangspunkt für die Bildung von schädlichen Amyloid-Plaques ist das Amyloid-Precursor-Protein (APP). Es sitzt in der Plasmamembran vieler Zellen – am häufigsten im Gehirn, wo es die Funktion von Neuronen unterstützt. APP kann von drei Enzymen zerschnitten werden, der Alpha-, der Beta- und der Gamma-Sekretase. Erstere zerteilt es in Fragmente, die harmlos für die Zelle sind. Einem davon, dem löslichen APP-Alpha, werden sogar schützende Eigenschaften nachgesagt. Die beiden anderen Enzyme jedoch trennen das für Morbus Alzheimer entscheidende Beta-Amyloid aus dem APP heraus. Es verklumpt zu großen Plaques, die das Hirngewebe schädigen.

»Wenn man so große Moleküle wie APP deaktiviert, stellt sich die Frage: Welcher Teil davon ist für die Funktion verantwortlich?«, sagt Müller. Eine Antwort darauf lieferte ein Folgeversuch mit Mäusen, die zwar kein APP und APLP2 bildeten, dafür aber lösliches APP-Alpha (APPs⍺). Das Molekül entsteht normalerweise, indem es durch das Enzym Alpha-Sekretase aus seinem Vorläufer APP herausgeschnitten wird. In dem Experiment injizierte Müllers Team den Mäusen ein Virus, das ein Gen zur Produktion des Proteins in ihre Hirnzellen einbaute. Sobald die Tiere APPs⍺ herstellten, waren ihre Synapsen wieder in etwa so anpassungsfähig und zahlreich wie bei den Vergleichsmäusen.

Wie APPs⍺ in Tieren mit alzheimertypischen Plaques wirkt, wiesen die Fachleute 2016 nach. Dabei zeigte sich: Je aktiver die Alpha-Sekretase war, desto weniger Beta-Amyloid wurde gebildet. Und nicht nur das. Einem Synapsenverlust, der durch ein anderes für Alzheimer charakteristisches Protein namens Tau bedingt war, das sich im Inneren der Nervenzellen faserartig ablagert, wirkte APPs⍺ sogar entgegen. Das entdeckte die Gruppe um Müller 2022. Zudem verhinderte es, dass sich weitere Tau-Fasern einlagerten.

Das kleine Fragment APPs⍺ kann noch viel mehr: Studien zufolge schützt es die Nervenzellen nach einer Hirnverletzung oder nach Durchblutungsstörungen, etwa bei einem Schlaganfall; es fördert ihre Neubildung und die kognitive Leistungsfähigkeit bei Erwachsenen. Heilen kann APPs⍺ die Alzheimererkrankung allerdings nicht, räumt Müller ein. »Es bringt die untergegangenen Nervenzellen nicht zurück, aber es stellt die neuronale Plastizität wieder her. Daher ist es ein attraktives therapeutisches Ziel.«

Huntingtin für ein schnelles Mundwerk

Das Protein, das sich bei Menschen mit Chorea Huntington ablagert, wurde nach der Krankheit benannt. Es heißt Huntingtin. In seiner fehlerhaften Form verklumpt es in den Zellkernen von Neuronen – insbesondere im für Bewegungsabläufe wichtigen Striatum, aber auch in der Hirnrinde und im Hirnstamm. Schuld daran ist eine bestimmte Variante jenes Gens, das für das Huntingtin codiert. Es enthält bei den Betroffenen einen Abschnitt, in dem sich eine Reihe von DNA-Bausteinen unnatürlich oft wiederholt. Die Nukleinbasen Cytosin, Adenin und Guanin (CAG) tauchen mindestens 36-mal hintereinander auf – normal sind 10 bis 30 Wiederholungen. Das daraus entstehende Protein bildet leicht Klümpchen, die die Nervenzellen in ihrer Funktion einschränken und schließlich absterben lassen.

So schädlich die mutierte Variante ist, so unentbehrlich ist das nicht mutierte Gen. Es wirkt an der DNA-Reparatur mit sowie am Vesikeltransport in der Synapse und schützt vor Zelltod. Darüber hinaus scheint Huntingtin ein entscheidender Faktor in der Embryonalentwicklung zu sein. Mäuse ohne ein funktionsfähiges Gen dafür sterben noch als Embryo, wie sich 1995 zeigte. Warum das so ist, fanden Elena Cattaneo und ihr Team von der Universität Mailand 2012 heraus: Das Protein sorgt dafür, dass sich Nervenzellen miteinander verknüpfen. Der Zellkontakt ist notwendig, damit sich das Nervensystem im wachsenden Embryo ausbilden kann.

Eine Frage der Länge | Bei Chorea Huntington lagern sich Aggregate eines Proteins namens Huntingtin im Gehirn ab, die die Nervenzellen schädigen. Das Eiweiß neigt allerdings nur dann zum Verklumpen, wenn das codierende Gen an einer bestimmten Stelle mehr als 36 Wiederholungen der Basenfolge Cytosin, Adenin, Guanin (CAG) besitzt.

Allerdings besitzt es diese Funktion nur in Lebewesen mit CAG-Sequenzen im Huntingtin-Gen. Das erste Mal in der Evolution traten jene bei Neumündern wie Seeigeln auf, die sich vor hunderten Millionen Jahren entwickelt haben. Während sich die Basenfolge in ihrem Gen nur zweimal wiederholte, stieg die Anzahl im Lauf der Evolution immer weiter an. Zugleich wurde auch das Nervensystem komplexer. Cattaneo folgerte daraus, dass die CAG-Wiederholungen zur Entwicklung eines komplexen Nervensystems beigetragen haben.

Für ihre These sprechen die Ergebnisse des deutschen Neurologen Carsten Saft und seiner US-amerikanischen Kollegen Peggy Nopoulos und Jordan Schultz aus dem Jahr 2021. Die Fachleute ließen 502 junge Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren verschiedene kognitive Tests absolvieren. 385 der Versuchspersonen waren mit mindestens 36 CAG-Wiederholungen Träger der Huntington-Genmutation, zeigten jedoch noch keine Symptome. Dafür fiel etwas anderes auf: Sie schnitten in einigen Tests etwas besser ab als die Teilnehmer mit weniger Tripletts. Eine weitere Studie ergab, dass mehr CAG-Wiederholungen mit einem höheren Intelligenzquotienten bei Kindern einhergingen. Das galt allerdings nur für bis zu 41 Wiederholungen – bei noch mehr sank der IQ wieder.

Personen mit Huntington-Gen sprachen schneller, aber unregelmäßiger als die Vergleichsprobanden

Vor Ausbruch der Krankheit steigern die überschüssigen DNA-Stücke also die Hirnleistung, und das auch in Bezug auf die Sprache: In einer Untersuchung von 2016 verglichen Saft und sein Team, wie schnell ihre Versuchspersonen sprechen konnten. Je 28 Gesunde sowie zu dem Zeitpunkt noch symptomlose Träger der Huntington-Mutation absolvierten mehrere Aufgaben, bei denen sie laut vorlesen oder Silben aufsagen sollten. Eine Analyse der Sprachaufnahmen ergab, dass Personen mit Huntington-Gen schneller, aber unregelmäßiger sprachen und vorlasen als die Vergleichsprobanden. Die Geschwindigkeit nahm ab, je näher sie dem statistisch berechneten Krankheitsbeginn waren. Bildgebende Verfahren zeigten außerdem, dass schnelle Sprecher mehr graue Substanz im Kleinhirn und im linken Gyrus frontalis inferior besaßen. Dieser Bereich im Großhirn ist an der Sprachverarbeitung und dem Sprachverständnis beteiligt. Weil Menschen mit symptomatischer Huntington-Krankheit langsamer sprechen als Gesunde, könnte das Sprechtempo ein gutes Maß für das Fortschreiten der Erkrankung sein, folgern die Autorinnen und Autoren.

Die richtige Balance finden

Das Wissen über die normale Funktion der Proteine ist gerade mit Blick auf die Behandlungsmöglichkeiten wichtig: Bislang werden vorrangig Medikamente entwickelt, die die Konzentration von Huntingtin, Beta-Amyloid oder Alpha-Synuclein senken sollen. Dabei sind sich die Fachleute uneins darüber, was die Erkrankung auslöst: Machen allein die Proteinablagerungen Beschwerden, oder entstehen die Probleme auch durch den Verlust der gesunden Funktionen?

»Ich denke, es ist ein Mix aus beiden Erklärungen«, sagt Jacqueline Burré. Für Parkinson sei denkbar, dass die verklumpten Proteine funktionsfähiges Alpha-Synuclein unwiederbringlich binden. »All die Proteine, die die Zelle neu produziert, werden direkt wie ein Schwamm von den Aggregaten aufgesogen«, vermutet die Biochemikerin. Einmal angedockt, können sie sich aus dem Eiweißklumpen nicht mehr lösen und ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen. Je größer die Aggregate, desto schneller würden sie die Eiweiße anziehen. Dafür sprechen mehrere Studien: »In Zellen mit vielen Aggregaten gibt es nur ganz wenig gelöstes Alpha-Synuclein«, sagt die Forscherin. Die Frage bleibt, wann der Mechanismus einsetzt und welchen Anteil er an der Krankheitsentstehung hat.

Die Alzheimerforscherin Ulrike Müller vertritt eine ähnliche Ansicht: »Wir sind der Meinung, dass es eine Balance zwischen der Alpha- und der Beta-Sekretase-Spaltung gibt und dass dieses Verhältnis darüber entscheidet, ob wir ein gesundes oder ein krankes Gehirn haben. Es gibt genetische Mutationen, die die Aktivität der Alpha-Sekretase reduzieren und mit einem erhöhten Demenzrisiko einhergehen.« Ob auch Erkrankte ohne solche Mutationen zu wenig APPs⍺ haben, sei dagegen noch nicht gezeigt worden.

APPs⍺ könnte also ein hervorragender Kandidat für einen neuen Behandlungsansatz sein – wenn es gelingt, das Protein ins menschliche Gehirn einzuschleusen. Bisher haben Fachleute versucht, vermehrt APPs⍺ zu produzieren, indem sie ein Gen namens ADAM10 hochregulieren, das für die Alpha-Sekretase codiert. Allerdings besitzt das Gen noch weitere Funktionen, so dass man mit unerwünschten Nebenwirkungen rechnen müsse, wenn man seine Produktion steigere, so Müller. »Die Herausforderung wird sein, APPs⍺ oder Teile des Proteins über die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn einzubringen, vielleicht über Nanopartikel oder ein Virus«, erklärt die Alzheimerforscherin. Das sei aber noch Zukunftsmusik.

Die Hälfte ist das Minimum

Interessanterweise scheint das Huntingtin durch die Veränderung nicht zwangsläufig seine Funktion zu verlieren. Auch das fehlerhafte Protein übernimmt die relevanten Aufgaben und unterstützt die Hirnentwicklung bis ins Erwachsenenalter, wie eine Studie aus dem Jahr 2016 zeigt.

Weil die menschliche Gehirnentwicklung ungefähr bis zum 30. Lebensjahr andauert, stellt sich die Frage, ab welchem Alter man eine Therapie beginnen kann, deren Ziel es ist, die Konzentration des für die Hirnreifung wichtigen Proteins zu senken. Und wie weit kann man es überhaupt dezimieren? Bislang geht man davon aus, dass wenigstens die halbe Menge des funktionierenden Proteins für eine normale Reifung notwendig ist. Geringere Konzentrationen sind zumindest in der frühen Entwicklung schädlich.

»Die Zelle tut nichts, wenn es nicht nötig ist«Jacqueline Burré, Weill Cornell Medical College, New York

Auch im Fall von Morbus Parkinson hält Jacqueline Burré den Ansatz, die Menge der Proteine so weit wie möglich zu reduzieren, nur bedingt für sinnvoll. »Mein Biochemie-Professor hat immer gesagt: Die Zelle tut nichts, wenn es nicht nötig ist«, erzählt die Forscherin. Das Protein zu produzieren, sei ein Riesenaufwand. Außerdem können noch ganz andere Probleme entstehen, wenn man das Molekül entfernt, etwa Bewegungsstörungen und sogar ein früherer Tod, wie Burré in ihrem Mäuseexperiment gezeigt hat.

Die aktuelle Forschung scheint ihr Recht zu geben: Zwei viel versprechende Antikörper gegen das Eiweiß konnten die Parkinsonerkrankung in klinischen Tests weder aufhalten noch verlangsamen. Bevor man Antikörper gegen die Proteine entwickelt, sollte daher zunächst das Ziel sein, herauszufinden, wie viel man von den Molekülen mindestens benötigt, damit die wichtigen Funktionen erhalten bleiben.

Aktuell arbeiten Burré und ihr Team daran zu verstehen, wodurch das Gleichgewicht zwischen Alpha-Synuclein in seiner gelösten und seiner membrangebundenen, funktionalen Form bestimmt wird. Dahinter steckt die Idee, Alpha-Synuclein dazu zu bewegen, sich vermehrt an die Membranen der Vesikel zu binden. Denn nur so kann es seine Aufgaben erfüllen. Vielleicht ließe sich dadurch die Erkrankung verzögern oder sogar aufhalten. »Wenn wir die Stellschrauben kennen, können wir sie selbst beeinflussen«, sagt Burré.

WEITERLESEN MIT SPEKTRUM - DIE WOCHE

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen »spektrum.de« Artikeln sowie wöchentlich »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Genießen Sie uneingeschränkten Zugang und wählen Sie aus unseren Angeboten.

Zum Angebot

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen

Bold, C. S. et al.: APPsα rescues Tau-induced synaptic pathology. Journal of Neuroscience 42, 2022

Galanis, C. et al.: Amyloid-beta mediates homeostatic synaptic plasticity. Journal of Neuroscience 41, 2021

Leavitt, B. R.: Huntingtin-lowering therapies for Huntington disease: A review of the evidence of potential benefits and risks. JAMA Neurology 77, 2020

Schaser, A. J. et al.: Alpha-synuclein is a DNA binding protein that modulates DNA repair with implications for Lewy body disorders. Scientific Reports 9, 2019

Schultz, J. L. et al.: Association of CAG repeat length in the Huntington gene with cognitive performance in young adults. Neurology 96, 2021

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.