Naturschutz: Ökotourismus für den Frieden?
Gegen Ende Juni, wenn in den Ausläufern der kolumbianischen Serranía de la Macarena die Regenfälle einsetzen, ereignet sich am Fluss Caño Cristales ein magisches Schauspiel. Mit dem steigenden Wasser beginnt eine krautige Wasserpflanze namens Macarenia clavigera, die das Flussbett wie ein Teppich bedeckt, in einer farbenprächtigen Explosion aus Gelb, Orange und einem besonders eindrucksvollen tiefen Himbeerrot zu blühen. Mitten im Wald bildet sich ein "flüssiger Regenbogen", wie Einheimische dieses Phänomen bezeichnen.
Bis vor Kurzem färbte dagegen ein anderer Rotton die Region um La Macarena ein, denn das Gebiet wurde von den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) kontrolliert. Die linksgerichtete Guerillatruppe war für das Entführen und Töten von Zivilisten berüchtigt und handelte in ihrem Ziel, die kolumbianische Regierung zu stürzen, regelmäßig brutal. Der blutige, 54 Jahre währende Konflikt zwischen der FARC und dem kolumbianischen Staat gilt als einer der längsten Kriege der Geschichte; er kostete 220 000 Menschen das Leben und vertrieb schätzungsweise 5,7 Millionen Kolumbianer aus ihrer Heimat.
Auch von der Umwelt forderte der Krieg einen hohen Tribut. Nach Angaben des kolumbianischen Planungsministeriums führten der unkontrollierte Bergbau, die Bombardierungen von Ölpipelines, der illegale Anbau von Koka – die Basis von Kokain – und allgemeine Zerstörungen durch die FARC und andere kriminelle Gruppen zu jährlichen Schäden in Höhe von 7,1 Milliarden US-Dollar (etwa 6,1 Milliarden Euro). Der Konflikt brachte der Umwelt allerdings auch einen unerwarteten Vorteil: Bei Luftangriffen waren die Kämpfer der FARC nämlich auf den Schutz angewiesen, den ihnen Bäume boten, und die Guerilla setzte daher mit Waffengewalt Abholzungsbeschränkungen durch. Aus diesem Grund befinden sich die Regenwälder und tropischen Trockenwälder in der Gegend von La Macarena heute weitgehend in einem intakten Zustand. Der Gewalt ist es zudem zu verdanken, dass andere Herrschaftsgebiete der FARC vor der großflächigen Umweltzerstörung bewahrt wurden, die viele der verhältnismäßig sicheren Regionen Kolumbiens heimsuchte. In diesen Landesteilen hatten sich Unternehmen mit staatlicher Unterstützung auf eine intensive Suche nach mineralischen Rohstoffen, Erdölvorkommen und landwirtschaftlichen Nutzflächen begeben.
Am 27. Juni 2017 hat die FARC nach jahrelangen Verhandlungen und Demobilisierungen nun offiziell ihre Waffen abgegeben. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert zeichnet sich ein leichter Hoffnungsschimmer am Horizont ab, doch gleichzeitig müssen viele Hindernisse überwunden werden. Für Kolumbien ist jetzt ein wichtiger Zeitpunkt gekommen, an dem das Land über seine Zukunft und damit ebenso über das Schicksal der umfangreichen, ehemals von der FARC besetzten Territorien entscheiden muss. Während einige bereits über die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in den neu zugänglichen Gebieten nachdenken, bemühen sich Umweltschützer, die kolumbianische Nationalparkverwaltung und das Tourismusministerium darum, ehemalige Konfliktzonen in Zentren des Ökotourismus zu verwandeln – in der Hoffnung, die zerstörte Wirtschaft des Landes neu zu beleben und seinen ländlichen Gemeinden den Rücken zu stärken.
Der Wiederaufbau einer Wirtschaft
Im Gegensatz zu den meisten Städten Kolumbiens, die in den vergangenen 50 Jahren verhältnismäßig sichere Orte darstellten, bekamen die ländlichen Regionen das volle Ausmaß des Kriegs zu spüren. In den von der Guerilla beherrschten Regionen gab es über viele Jahrzehnte nur unzureichende bis gar keine staatliche Präsenz, und das Fehlen einer von der Regierung gelenkten Wirtschaft leistete illegalen Aktivitäten Vorschub. Während der meisten Zeit des Konflikts war Kolumbien der weltweit größte Produzent und Exporteur von Kokain. Durch den illegalen Handel damit verdiente die FARC 200 Millionen bis 3,5 Milliarden US-Dollar (etwa 172 Millionen bis 3 Milliarden Euro) pro Jahr. Auch wenn der Drogenhandel in den letzten Jahren weniger als ein Prozent des kolumbianischen Bruttoinlandprodukts ausmachte, bedeutet dies für das Land noch immer ein ungeheures Geschäft. Daher ist es wenig wahrscheinlich, dass dieser Markt auf Grund der Entmachtung der FARC einfach zusammenbricht.
"Nach dem Friedensschluss ist die Gewalt im Zusammenhang mit Drogen in einigen Gebieten sogar angestiegen", erklärt Bruce Bagley, Professor an der University of Miami, der sich mit dem Thema Konflikt und Drogenhandel in Kolumbien beschäftigt. "Es existieren kriminelle Gruppen, die den Platz der FARC einnehmen und deren Geschäfte weiterführen. Mindestens in den nächsten fünf Jahren, wenn nicht sogar noch länger, wird es in Kolumbien weitere, mit dem Kokahandel assoziierte Gewaltzentren geben."
Um ländliche Gebiete davor zu bewahren, sich in einer stetigen Abwärtsspirale in Brennpunkte der Kriminalität zu verwandeln, und um zudem den dort lebenden Menschen die dringend benötigten Einkommensquellen zu verschaffen, muss die Regierung für eine Ankurbelung der ländlichen Wirtschaft sorgen. Den kolumbianischen Bauern, die zurzeit auf einer Fläche von etwa 1457 Quadratkilometern Kokapflanzen anbauen, gewährte die FARC über einen langen Zeitraum Schutz und eine großzügige Bezahlung; verglichen mit der Kultivierung herkömmlicher Feldfrüchte verdienten einige Bauern mit dem Kokaanbau sogar mehr als das Doppelte.
Als Gegenmaßnahme startete die kolumbianische Regierung daher im Jahr 2016 eine Reihe von Anbausubstitutions- und Subventionsprogrammen. Auch wenn solche Fördermaßnahmen vielleicht die Einstellung der Menschen auf lokaler Ebene beeinflussen können, führen sie nicht immer zum gewünschten Erfolg. Denn um für ein Substitutionsprogramm in Frage zu kommen, muss eine gesamte Region zunächst einmal frei von Koka werden. Das bedeutet in der Praxis, dass die Bauern nach Beendigung des Kokaanbaus mehrere Monate, zuweilen sogar Jahre auf die versprochene staatliche Unterstützung warten müssen. Sogar in Gebieten, die sich für den Anbau von Ersatzkulturen als geeignet erwiesen, verdienen manche Farmer mit dem Verkauf ihrer Ernte zuzüglich der staatlichen Zuschüsse noch immer weniger Geld als mit der Kokaproduktion; das Fehlen von Straßen und anderer Infrastruktur schränkt zudem die Möglichkeiten der ländlichen Bevölkerung weiter ein.
Zwar stellt die Landwirtschaft – die legale wie die illegale – die größte Einkommensquelle der auf dem Land lebenden Kolumbianer dar, doch die Rohstoffindustrien spielen in diesen Gegenden ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle. Kolumbien ist reich an Bodenschätzen, und seine umfangreichen Vorkommen an Kohle, Erdöl, Gold und Edelsteinen werden von großen Bergbauunternehmen und Ölgesellschaften zu Tage gefördert. Während des Kriegs war die Regierung des Landes in hohem Maß auf die Einnahmen aus diesem Industriezweig angewiesen, und der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos ist für das Umwerben multinationaler Konzerne bekannt, um diese für groß angelegte Projekte im Bereich der Bergbau und Rohstoffförderung zu gewinnen. In Friedenszeiten und durch den Zugang zu neuen Gebieten mit reichem Mineralienvorkommen kann das dringend benötigte Wirtschaftswachstum dazu führen, die Abhängigkeit von diesen Industrien weiter zu verstärken.
In Anbetracht der Risiken des Rohstoffabbaus und der mit der Landwirtschaft verbundenen Einschränkungen sind Umweltschützer der Ansicht, der Ökotourismus könnte ein notwendiges wirtschaftliches Gegengewicht darstellen, um das Land stärker auf den Umweltschutz zu fokussieren. Die Idee ist durchaus berechtigt, denn der Tourismus übertraf im Jahr 2016 den Kohlebergbau und wurde zur größten ausländischen Einnahmequelle Kolumbiens. "Jetzt ist ein kritischer Zeitpunkt, denn das Land muss sich entscheiden, ob es ein auf dem Ökotourismus basierendes Modell nach dem Vorbild Costa Ricas verfolgt oder einfach aus all seinen verfügbaren Rohstoffressourcen Kapital schlägt", verdeutlicht John Myers, Leiter des Bereichs Naturschutz und Innovation beim World Wide Fund For Nature in Kolumbien. "Tourismus und Naturschutz müssen auf geschickte Weise zu Verbündeten werden, denn es gibt eine Vielzahl konkurrierender Interessen, die mit äußerst aggressiven Mitteln vorangetrieben werden."
Risiken und Ressourcen
In Kolumbien herrscht wahrlich kein Mangel an Naturschönheiten, um die Begeisterung ausländischer Reisender zu wecken. Unter den artenreichsten Ländern der Erde rangiert es direkt nach Brasilien auf Platz zwei; nirgendwo auf der Welt findet man eine größere Vielfalt an Vogel- und Orchideenarten. Was die Zahl der Amphibien betrifft, wird Kolumbien nur von einem Land übertroffen. Das Land liegt teilweise im Amazonasregenwald, zu seinem Territorium zählt ein breiter Streifen der Anden, und seine Küsten grenzen sowohl an den Pazifischen als auch an den Atlantischen Ozean. Diese besondere geografische Lage beschert Kolumbien eine ungeheure Vielfalt an Ökosystemen, die nur von wenigen Ländern der Erde überboten wird.
Seit Beginn der Friedensgespräche 2012 haben lokale Reiseveranstalter begonnen, Fahrten in die wieder zugänglichen Regionen des Landes anzubieten, darunter auch Reiseziele wie die Ciudad Perdida, eine alte, noch bis vor Kurzem von der FARC kontrollierte Ruinenstadt, sowie der Regierungsbezirk Chocó, ein Treffpunkt für Walbeobachter, wo Entführungen und Morde einst regelmäßig an der Tagesordnung waren. Zwar ist das Reisen in diese entfernt gelegenen Regionen noch immer nicht ganz ungefährlich, doch die nachlassende Aktivität der FARC hat tatsächlich einen Rückgang der Gewalttaten – eines der Haupthindernisse in dem Versuch, Kolumbien als Urlaubsland zu etablieren – bewirkt. In der Zeit von 2000 bis 2015 ging die Zahl der jährlichen Entführungen von mehr als 3500 auf 210 zurück, und die Mordrate erreichte im Jahr 2016 ihren niedrigsten Wert seit 40 Jahren.
Staatliche Tourismusagenturen haben sich diese Gelegenheit zu Nutze gemacht und Millionenbeträge in Werbekampagnen für kolumbianische Urlaubsziele und die Organisation von Reisen in ehemalige Konfliktzonen investiert. Bislang scheint diese Strategie zu funktionieren. Seit etwa 2005 verzeichnet die kolumbianische Tourismusbranche ein durchschnittliches jährliches Wachstum von über zwölf Prozent und konnte sich damit um mehr als das Dreifache des weltweiten Durchschnitts steigern. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf speziellen, fachbezogenen Ökoreisen, etwa dem Beobachten von Vögeln oder der Suche nach Orchideen. Diese Art von Aktivitäten erfordern sachkundige Führer, die für ihre Tätigkeit eine entsprechend höhere Bezahlung erhalten, und konzentrieren sich im Allgemeinen auf isolierte, ländliche Regionen, die nur wenig touristisch erschlossen sind. Laut Schätzungen des World Travel and Tourism Council soll der Tourismus bis zum Jahr 2025 insgesamt etwa 154 000 neue Arbeitsplätze in Kolumbien entstehen lassen und zwischen 17,6 und 22,5 Milliarden US-Dollar (etwa 15,2 bis 19,4 Milliarden Euro) an jährlichen Einnahmen bringen. Diese Zahlen klingen zwar viel versprechend, allerdings gibt es keine Erfolgsgarantie.
Auch der Übergang vom kriegsgeschundenen Staat zu einem Land, das fremde Besucher willkommen heißt, wird keine einfache Aufgabe sein. Es ist nicht leicht, Touristen in ein Krisengebiet zu locken – ganz gleich, wie schön oder artenreich die Gegend ist. Ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, den ausländischen Besuchern an ihrem Reiseziel einen sicheren und angenehmen Aufenthalt zu garantieren. Im Vergleich zu den fest etablierten Wildtierreservaten und Naturparks in vielen anderen Regionen der Welt ist die touristische Infrastruktur Kolumbiens sehr überschaubar. In den meisten ländlichen Gebieten fehlt es an Hotels und Restaurants sowie dem entsprechend ausgebildeten Personal für die Organisation und Leitung von Erlebnisreisen. Und dieselben nicht vorhandenen Straßen, die die Möglichkeiten der kolumbianischen Landbevölkerung einschränken, erweisen sich auch als ein Hindernis für Ökotouristen, die diese entlegene Gebiete besuchen möchten, ohne teure Flüge chartern oder beschwerliche Dschungelmärsche auf sich nehmen zu müssen.
Dennoch bezeichnen hochrangige Politiker Kolumbiens den Tourismus häufig als einen entscheidenden Wirtschaftsfaktor in der Zeit nach Beendigung des Konflikts, und erst im Februar 2017 gaben einige Friedensnobelpreisträger eine Erklärung ab, in der sie die Ausweitung des Tourismus als einen Schlüssel zur Erhaltung des Friedens bekräftigten. Die Befürworter dieser Strategie untermauern ihre Argumente häufig mit der Erfolgsgeschichte von Caño Cristales. Der Fluss, den jedes Jahr etwa 10 000 Touristen besuchen, zählt mittlerweile zu den Hauptattraktionen im Angebot der Erlebnisreiseveranstalter und hat sich für die ortsansässigen Führer in La Macarena zu einer unverzichtbaren Einkommensquelle entwickelt. Auch in den staatlichen Tourismuskampagnen, die jährlich mehr als 2,5 Millionen ausländische Besucher nach Kolumbien locken, nimmt der Caño Cristales einen besonderen Platz ein.
Doch nicht nur Reiseveranstalter sind daran interessiert, aus den wieder zugänglichen Gebieten Kapital zu schlagen. Im März 2016 wurde der Hupecol Operating Company, einem in den USA gegründeten Mineralölkonzern, die Erlaubnis zur Erdölgewinnung durch Fracking an der Grenze des Nationalparks Serranía de la Macarena, ganz in der Nähe des Caño Cristales, gewährt. Im Rahmen des Genehmigungsprozesses wurde jedoch keine Bewertung von möglichen schädlichen Umweltauswirkungen vorgenommen, die das Projekt auf den angrenzenden Fluss haben könnte. Als dieses Versäumnis bekannt wurde, löste die potenzielle Gefährdung der wertvollen Tourismusressource eine Welle der öffentlichen Entrüstung aus und zwang Präsident Santos, den Projektvertrag bis zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsuntersuchung aufzuheben. Viele sehen diesen Aufschub als einen Sieg der Befürworter des Ökotourismus an. Allerdings steht die endgültige Entscheidung immer noch aus, und auch der Druck auf die Rohstoffexploration in anderen Teilen Kolumbiens nimmt weiter zu.
Vor Ort
Das Schulhaus von Santa Rita de la Sierra hat keine Wände. Unter einem Dach aus Zinkblech stehen die Schreibpulte auf einem Betonfußboden, über den sich ganz allmählich der dichte Dschungel hereinschleicht. Für die heutige Unterrichtsstunde ist das die richtige Umgebung – es findet nämlich gerade ein Lehrgang für Wanderführer statt. Die Teilnehmer kommen aus der Gemeinde Santa Rita, einem etwa 16 Quadratkilometer umfassenden Gebiet in den Ausläufern der Sierra Nevada de Santa Marta im nördlichen Kolumbien. Im Rahmen eines staatlichen Umsiedelungsprogramms für Menschen, die ihr Land durch den bewaffneten Konflikt verloren haben, sind alle 89 Familien des Ortes im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte in diese Gegend gekommen.
Der vom Friedenkorps veranstaltete Lehrgang begann am 25. August 2016, genau einen Tag nach dem Ende der Friedensgespräche mit der FARC, und ist Teil eines Programms, das den hauptsächlich für den Eigenbedarf produzierenden ortsansässigen Bauern die Gelegenheit geben soll, als Fremdenführer tätig zu werden. Die Guides von Santa Rita beginnen ihre Ausbildung mit der Ausarbeitung eines Wanderwegs, der an den verschiedenen Sehenswürdigkeiten in den Bergen nahe der Stadt entlangführt, und üben im nächsten Schritt ihre praktischen Fähigkeiten, indem sie Touristen auf Wanderungen begleiten.
Heute fand ein Probelauf statt, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte der 52-jährige Lehrgangsteilnehmer Wilfredo Acósta keine Angst davor, in den Wald zu gehen. Nach einer anstrengenden Wanderung am Vormittag sind seine Gummistiefel schlammverkrustet, und unter seiner Baseballmütze haben sich Schweißtropfen gebildet, die über seine Stirn rinnen. Voller Begeisterung spricht Acósta über den Ökotourismus in der Region. "Wenn die Menschen hierherkommen, dann hoffen wir, dass sie all diese Geschichten über den Konflikt vergessen", meint der Kolumbianer. "Wir möchten ihnen zeigen, dass wir das hinter uns gelassen haben und jetzt nach einem anderen Leben Ausschau halten."
Diese Art des Neuanfangs ist Acósta nicht fremd. Der aus einer ländlichen Gegend stammende Bauer wurde ein Jahr vor Beginn des Kriegs geboren und kannte bis vor Kurzem keine andere Lebensweise. Er musste mitansehen, wie seine Familie von paramilitärischen Kräften der FARC getötet wurde und wie sich bewaffnete Rebellen sein Land aneigneten. Nachdem er zum zweiten Mal aus seiner Heimat vertrieben worden war, kam der Kolumbianer im Jahr 2000 schließlich nach Santa Rita. Doch bereits ein Jahr nach seiner Ankunft schwärmten rechte Paramilitärs – kriminelle Gruppen, die sich von privaten, zur Bekämpfung der FARC gegründeten Milizen abgespalten hatten – in den Bergen aus, besetzten seine Felder und verbreiteten Angst und Schrecken. Dreimal wurde Acóstas Kakaopflanzung durch Chemikalien vergiftet, die kolumbianische Regierungsflugzeuge mit Unterstützung der US-amerikanischen Drogenbekämpfung versprüht hatten und die eigentlich für die nahe gelegenen Kokaplantagen bestimmt waren.
Durch blutige Militäreinsätze und erbitterte Verhandlungen hat die kolumbianische Regierung jedoch in den vergangenen vier Jahren einen Rückgang der paramilitärischen Aktivitäten in Santa Rita erreicht, und die Region ist nun wesentlich sicherer geworden. Auf Acóstas Feldern wachsen mittlerweile wieder gesunde Kakaopflanzen, deren Früchte er an eine lokale Genossenschaft zum weiteren Export verkauft, und der Kolumbianer erhofft sich durch den Tourismus zusätzliche Finanzmittel für seine Gemeinde. Doch wie genau dies geschehen soll und wer letztlich davon profitiert, sind Punkte, die weiterhin für Spannung sorgen.
Das Aufteilen der Beute
Nach Ansicht der kolumbianischen Regierung stellt der Ökotourismus neben seinem potenziellen Nutzen für die lokale Wirtschaft und ländliche Entwicklung eine der vielversprechendsten Beschäftigungsmöglichkeiten für ehemalige FARC-Kämpfer dar, die in ihr ziviles Leben zurückkehren. "Die Angehörigen der Guerilla haben viele Jahre im Dschungel verbracht und dabei einiges über die Pfade, Flüsse und wild lebenden Tiere erfahren, um die Gebiete während des Bürgerkriegs sinnvoll bewirtschaften zu können", bemerkt Julián Guerrero, Vizepräsident für Tourismus bei ProColombia, einer Behörde der kolumbianischen Regierung, die sich für die Exportförderung einsetzt. "Jetzt können sie diese Kenntnisse im Dienst des Friedens anwenden."
Auch die FARC hat ein persönliches Interesse an der Förderung der ländlichen Entwicklung, denn von ihren kriminellen Aktivitäten abgesehen ist die Guerillatruppe eigentlich eine selbst ernannte marxistisch-leninistische Armee. Führende Köpfe der FARC unterstützen die Idee, für das Volk zu kämpfen und sich für eine verbesserte Stellung der Landbevölkerung einzusetzen. Das Friedensabkommen verschafft der FARC ein Mitspracherecht in politischen Angelegenheiten und gibt ehemaligen Anführern der Guerilla die Möglichkeit, für ein politisches Amt zu kandidieren und ihre Ideale auf diesem Weg zu verwirklichen. Die Fähigkeit der FARC, den Fortschritt in den von ihnen beeinflussten ländlichen Gebieten voranzutreiben, ist daher gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung, um politische Anhänger zu gewinnen.
Während die Regierung Kolumbiens widerwillig zustimmte, die FARC und ihre Verbündeten in die Entwicklungspläne mit einzubeziehen, lehnen viele Kolumbianer eine staatliche Unterstützung von Anführern der Guerilla, ihren Soldaten sowie allen anderen, die – wie etwa die Kokabauern – von den jahrzehntelangen illegalen Aktivitäten der Organisation profitiert haben, vehement ab. "Das Friedensabkommen hinterlässt bei mir einen bitteren Nachgeschmack", gesteht Acósta. "Die Regierung will Menschen, die viele Jahre unter Missachtung aller Gesetze gelebt haben, Geld und eine Chance geben – dabei sollte sie eigentlich uns helfen, den Opfern und den Armen."
Über die staatlichen Subventionen hinaus bestehen weitere Bedenken, wer von Kolumbiens historischem Friedensabkommen profitieren wird. Viele sind besorgt, dass sich die neuen Investitionen und das Wirtschaftswachstum im privaten Sektor in erster Linie auf große Kapitalgesellschaften und multinationale Konzerne konzentrieren werden. Auch wenn der Ökotourismus häufig als ein Mittel dargestellt wird, um Landflächen vor dem Zugriff durch Unternehmen zu schützen, trägt der Tourismus ganz allgemein nicht gerade unerheblich zum "big business" bei. Einige große US-amerikanische Hotelketten wie Best Western oder Wyndham haben beispielsweise seit 2012 ihr Geschäft in Kolumbien ausgeweitet, während viele lokale Unternehmen einfach nicht das nötige Investitionskapital besitzen, um Strukturen in einer solchen Größenordnung aufzubauen.
"Es ist noch immer nicht klar, ob die vom Krieg betroffenen Menschen in den armen Gemeinden von diesem Aufschwung im Tourismussektor profitieren werden oder ob er lediglich den großen Hotelketten oder Reiseveranstaltern zugutekommt", gibt Luis Fernando Castillo zu bedenken, der Direktor von Calidris, der größten Organisation Kolumbiens zum Schutz und zur Beobachtung von Vögeln. "Speziell im Bereich Vogelbeobachtung und Ökotourismus müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass Kolumbien gewisse Schwächen aufweist, insbesondere einen Mangel an spezialisierten Naturführern."
Wenn zuweilen die Interessen von Naturschutz und Tourismus kollidieren, schalten sich Nichtregierungsorganisationen ein und rufen neue Projekte ins Leben, die den unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden. Während etwa die United States Agency for International Development (USAID) in ganz Kolumbien Schulungen im Bereich Tourismus durchführt, um entscheidende Lebensräume zu erhalten, hat die Audubon Society ein Netz von Pfaden zur Vogelbeobachtung in verschiedenen Gebieten des Landes angelegt und hilft interessierten Vogelfreunden bei der Suche nach ortskundigen Naturführern und Unterkünften. Eine Region, die bereits von diesen Maßnahmen profitiert, ist das Naturschutzgebiet Santuario de Fauna y Flora los Flamencos. Mit seiner Vielzahl von Küstenlagunen und Mangroven stellt dieses Naturreservat einen wichtigen Lebensraum für Vögel in den tropischen Trockenwäldern und Wüsten der entlegenen Halbinsel La Guajira dar.
Ein Schritt in die richtige Richtung
An einem Nachmittag im Jahr 2016, kurz nach dem Ende der Friedensgespräche, schließe ich mich einer Gruppe dick mit Sonnenschutzmittel eingecremter französischer Touristen an der Lagune in Los Flamencos an. Alle hier tätigen Naturführer sind Angehörige der im Naturschutzgebiet ansässigen indigenen Gemeinschaft der Wayuú; die Reiseleiter sind Teil einer örtlichen Vereinigung, deren Mitglieder im Jahr 2013 von der USAID für die Tätigkeit im Tourismus ausgebildet wurden.
Wir folgen unseren Guides, die gerade blaue Holzboote vom Strand in Richtung Wasser schieben. Die weißen Segel der Boote flattern im Wind, als ob sie die Flügel der im seichten Wasser watenden Silberreiher nachahmen wollten. Als wir die Lagune erreichen, dringt aus einem nahe gelegenen Haus laute Bachatamusik, und in den Büschen, die den Strand säumen, hängen Plastiktüten und Lebensmittelverpackungen. Juan, einer der Naturführer, bemerkt meine kritischen Blicke angesichts des Mülls und kommt zu mir herüber. Er hasse die Musik, erklärt der Kolumbianer, denn sie übertöne die Rufe der Vögel. Was den Müll betrifft, fügt Juan hinzu: "Sie arbeiten daran." Es wurde eine Aufklärungskampagne gestartet, die eine Abfallbeseitigung innerhalb der Gemeinde anregen soll.
Diese vergleichsweise unbedeutenden Ärgernisse stellen die jüngsten Kämpfe in dem Bemühen dar, das Naturschutzgebiet touristenfreundlicher zu gestalten. Auch wenn immer noch kleine Mängel beseitigt werden müssen, hat das Reservat in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte erzielt. Seit dem Beginn des Waffenstillstands ist die jährliche Zahl der Besucher in Los Flamencos von einer Gruppe Vogelbeobachter auf mehrere hundert Touristen angestiegen. Im Gegensatz zu früher, als es keinerlei Unterkunftsmöglichkeiten gab, stehen jetzt sechs kleine Hütten in der Nähe der Lagune, und 17 ausgebildete Guides bieten täglich geführte Touren durch das Naturschutzgebiet zu einem Preis von 40 US-Dollar (etwa 35 Euro) pro Person an.
Nachdem die Männer unsere Boote ins Wasser befördert haben, holen die Fischer in der Lagune ihre Netze ein, um uns passieren zu lassen. Vier pinkfarbene Kubaflamingos (Phoenicopterus ruber) fliegen auf, und die Touristen zücken rasch ihre Kameras, um die synchrone Landung der Vögel im Wasser etwa 50 Meter von uns entfernt festzuhalten. In den frühen 2000er Jahren wäre diese Szene für die Bewohner des Reservats ein unvorstellbarer Anblick gewesen. Zu jener Zeit war der kolumbianische Bürgerkrieg noch in vollem Gang, und nur die unerschrockensten Vogelbeobachter wagten sich nach Los Flamingos. Als später die ersten Touristen kamen, befürchteten die Wayuú, diese mit Spektiven und Kameras ausgerüsteten Menschen würden ihr Territorium genau inspizieren – in der Absicht, es ihnen wegzunehmen, wie es bereits die Guerillakämpfer und die Angehörigen der paramilitärischen Gruppen getan hatten. Andere Einheimische wiederum dachten, die Kameras würden den Vögeln irgendeinen Schaden zufügen.
Um die wirkliche Gefahr der Touristen für ihre Gemeinschaft abschätzen zu können, schickten die Wayuú den neunjährigen José Luis Pushaiana los. Der Junge sollte herausfinden, was die Fremden tatsächlich vorhatten. Der Naturführer der Gruppe von Vogelbeobachtern, ein Kolumbianer aus der benachbarten Provinz, erklärte ihm daraufhin die Idee des Ökotourismus und auf welche Weise dieser zur Stärkung der lokalen Wirtschaft beitragen könnte. Er zeigte den Einheimischen auch, wie die Fotoausrüstung funktionierte, und konnte dadurch ihre Befürchtungen zerstreuen.
Jahre später, als die kolumbianische Vogelschutzorganisation Calidris in der Region einen Lehrgang für Führer vogelkundlicher Wanderungen veranstaltete, erinnerte sich Pushaiana an sein lange zurückliegendes Gespräch mit dem Naturführer und meldete sich voller Enthusiasmus an. Heute zählt er zu den besten vogelkundlichen Führern Kolumbiens und leitet ein Programm, in dem weitere Mitglieder seiner Gemeinde eine entsprechende Ausbildung erhalten. "Früher haben wir, die Wayuú, die Vögel für uns selbst geschützt, weil wir sie achten, aber jetzt schützen wir sie für alle Menschen", macht Pushaiana deutlich. "Denn mit Hilfe der Vögel werden wir für das Wachstum unserer Gemeinschaft sorgen. Dies ist Kolumbiens Weg in die Zukunft."
Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel "Colombia's Rallying Cry" bei "bioGraphic", einem digitalen Magazin der California Academy of Sciences.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.