Schreiben zur Selbsterkenntnis: »Ziel ist es, die Gedanken ungefiltert zu Papier zu bringen«
Seit mehr als 30 Jahren leitet die Ärztin und Autorin Silke Heimes Gruppen dazu an, Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen und aufzuschreiben. Wie läuft das ab? Kann man dabei etwas falsch machen? Und was, wenn das Blatt leer bleibt? Die Schreibdozentin erklärt, wie es gelingt, Hemmungen zu überwinden und die Innenwelt nach außen zu bringen.
Frau Professor Heimes, wenn man schreiben möchte, um sich selbst besser zu verstehen: Wie fängt man das am besten an?
Es gibt Schreibübungen, zum Beispiel in so genannten Ausfülltagebüchern, da wird mir dieser erste Schritt abgenommen, weil ich mir direkt zu einer Frage eine Antwort überlegen kann. Aber wenn ich einfach so anfangen möchte, ohne Hilfsmittel, dann am besten mit der Methode des automatischen Schreibens. Das heißt: Ich setze mir ein kurzes Zeitfenster, vielleicht fünf Minuten, in denen ich durchgängig schreibe – ohne nachzudenken, ohne den Stift abzusetzen oder das Geschriebene noch einmal zu lesen. Das Ziel ist es, die Gedanken möglichst ungefiltert zu Papier zu bringen, damit der innere Zensor sich nicht einschalten kann oder jedenfalls nicht zu laut wird. Dabei hilft es, das Ziel nicht zu hoch zu hängen, also nicht zu viel zu erwarten, sondern dieses Schreiben gewissermaßen als Auszeit zu verstehen oder als eine Art Aufwärmübung.
Ist es nicht hilfreich, sich konkrete Fragen zu stellen?
Wenn man das möchte, kann man Programmen folgen, die zum Beispiel gezielte Fragen in Themenblöcken organisieren. Aber das kann zuweilen auch hemmend wirken. Denn bei solchen Fragen arbeitet vor allem der Kopf und produziert rationale Antworten. Die Fragen lenken die Gedanken oftmals auf vorgefertigte Bahnen. Manchmal ist es ohne sie fast leichter, auch einmal den Bauch die Richtung vorgeben zu lassen.
Und was, wenn einem einfach nichts einfällt?
Dann kann die Halbsatzmethode helfen, also einen vorgegebenen Halbsatz zu ergänzen, wie »Als ich heute früh erwachte …« oder »Was mir heute passiert ist …«. Schreibt man morgens, bietet sich die erste Variante an. Da jeder, der am Tisch sitzt, morgens erwacht ist, fällt auch jedem dazu etwas ein. Gleiches gilt für den zweiten Halbsatz, wenn man ihn am Abend verwendet und zwangsläufig bis dahin den Tag über etwas erlebt hat. Um einen Einstieg zu finden, aber trotzdem den Kopf zu umgehen, kann man auch zu den Buchstaben des eigenen Namens spontan und ungeordnet Wörter notieren und daraus einen Text schreiben.
Kann man beim Schreiben auch etwas falsch machen?
Beim Schreiben selbst eigentlich nicht. Doch genau wie beim Denken kann man sich natürlich auch beim Schreiben in seinen eigenen Gedanken verheddern oder in Grübelschleifen festhängen. Das liegt dann aber wie gesagt nicht am Schreiben selbst, sondern ist nur etwas, was auf dem Papier offensichtlich wird. Da es beim Schreiben oft um emotionale Themen geht, kann es auch passieren, dass man sich vorübergehend schlecht fühlt, weil etwas aufwühlt oder man getriggert wird. Dann sollte man eine Pause machen und etwas anderes tun oder mit jemandem darüber reden. Sollte der Zustand länger anhalten, empfiehlt es sich, sich professionelle Hilfe zu holen.
»Fragen lenken die Gedanken auf vorgefertigte Bahnen«
Macht es einen Unterschied, ob man per Hand oder auf einer Tastatur schreibt?
Ja. Das Schreiben mit der Hand ist eine sehr komplexe Bewegung, die mehr Areale im Gehirn aktiviert, was dazu führt, dass man kreativer ist. Außerdem bedeutet es in der Regel eine Verlangsamung, die zum Innehalten und Luftholen einlädt. Zudem hat das Schreiben mit der Hand etwas Sinnliches und Einzigartiges, da unsere Handschrift zum einen sehr individuell ist und zum anderen uns selbst etwas über unseren Gemütszustand verrät. Meist wird die Handschrift nämlich runder und schwungvoller, wenn wir gut gestimmt sind, und kleiner oder enger, wenn es uns nicht so gut geht. Das Tippen auf der Tastatur kann dagegen etwas Beruhigendes haben, weil es sehr rhythmisch ist, wenn man es kann. Weiterhin hat es den Vorteil, dass man seine Texte schneller mit anderen teilen kann. Ich finde es immer gut, wenn man über beide Kompetenzen verfügt und diese auch nutzt.
Sie haben schon viele Gruppen im Schreiben angeleitet. Wie läuft das typischerweise ab?
Wir machen zuerst kleine Schreibübungen zum Aufwärmen. Viele kommen mit der Erwartungshaltung, dass sie sich hinsetzen und das Schreiben sofort klappt, dass sie praktisch aus dem Stegreif eine Glanzleistung hinlegen. Aber kein Sportler, kein Musiker würde das von sich erwarten – gerade die Profis wissen es besser. Und es gibt noch mehr verbreitete Irrtümer. Der größte lautet: Ich kann nicht schreiben. Mit dieser Einstellung kommen sehr viele Menschen zu mir in die Seminare. Aber wir alle können schreiben, sofern wir es in der Schule oder auf andere Weise einmal gelernt haben. Das Problem sind vielmehr die eigenen oft überzogenen Ansprüche. Ich zitiere dann gerne den französischen Schriftsteller André Breton, der das automatische Schreiben erfunden hat. Er sagte sinngemäß: Wenn Sie schreiben wollen, suchen Sie sich einen schönen Platz, setzen Sie sich in Ruhe hin und sehen Sie ganz von Ihrer Genialität ab.
Gibt es noch etwas, womit sich die Leute beim Schreiben besonders schwertun?
Die Rede war jetzt ja schon von den eigenen Leistungsansprüchen. Was aber ebenfalls zu Hemmungen führen kann, ist die Angst vor Emotionen oder der eigenen Biografie, der Auseinandersetzung mit möglicherweise schmerzlichen Themen. Weitere Probleme treten dann meist erst wieder auf, wenn Menschen die eigenen Texte in eine literarische Form bringen wollen, um sie zu publizieren.
Was, wenn jemand nur Floskeln produziert oder wenn es banal oder oberflächlich klingt?
Wer entscheidet das? Das ist eine Wertung, die sich für mich im kreativen und therapeutischen Schreiben verbietet. Jeder bringt das zum Ausdruck, was für ihn in diesem Augenblick wichtig, richtig und möglich ist, und ich finde, dass genau das Wertschätzung verdient.
Worüber schreiben die Menschen in Ihren Gruppen häufig?
Über das Thema Selbstwert, also die Angst, nicht zu genügen. Darüber, nicht gehört oder gesehen zu werden. Und über das Thema Freiheit versus Sicherheit, vor allem im Beruf.
»Gedanken zu Papier zu bringen, macht den Kopf frei«
Und mit welchen Erkenntnissen gehen sie wieder nach Hause?
Das ist ganz unterschiedlich. Doch häufig nehmen sie viele Zettel mit, und daran erkennen sie, dass sie etwas erreicht haben und durchaus schreiben können. Sie haben etwas produziert und sind zu Recht stolz darauf. Das steigert den Selbstwert und sie trauen sich künftig mehr zu. Außerdem schärft Schreiben die Wahrnehmung und fördert Achtsamkeit. Die Leute merken damit schneller, wenn ihnen etwas nicht guttut. So finden sie auch zu einem besseren Umgang mit sich selbst. Und wenn sich die Gedanken im Kreis drehen, dann macht es den Kopf frei, wenn man sie zu Papier bringt. Danach ist wieder mehr Kapazität für andere Dinge da.
Ist das auch empirisch nachweisbar?
Es gibt rund 200 Studien zur Wirkung des expressiven oder therapeutischen Schreibens. Viele davon stammen vom US-Psychologen James Pennebaker, der vor allem mit Studierenden experimentiert hat.
Schreiben Sie selbst viel?
Ja, jeden Tag. Zum einen schreibe ich täglich an einem Roman oder Sachbuch und zum anderen notiere ich morgens drei Minuten lang meine Gedanken. Diese paar Minuten Psychohygiene sind für mich so wichtig und selbstverständlich wie das tägliche Zähneputzen.
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