Umweltbelastung: Streit um Diesel-Pkw geht am Problem vorbei
Herr Rohrer, durch die Regulierung von Diesel-Pkw soll die Luft in den Innenstädten sauberer werden. Sie sind skeptisch, ob auf diesem Weg das Problem der Überschreitung der Stickoxidgrenzwerte gelöst werden kann. Warum?
Franz Rohrer: Dazu muss man sich nur anschauen, woher die Stickoxide in deutschen Innenstädten stammen. Aus Untersuchungen im Labor kann man die verschiedenen Quellen hochrechnen. Ein Pkw der Marke XY emittiert beispielsweise pro Kilometer eine bestimmte Menge Stickoxide. Mit der Kenntnis der Verkehrsdichte und der Art der Fahrzeuge lässt sich berechnen, wie viel Stickoxid auf einer bestimmten Strecke emittiert wird. Zusätzlich gibt es gute Laboruntersuchungen dazu, wie sich die Abgase verändern, wenn ein Pkw oder ein Lkw mit 20, 30 oder mit 50 km/h unterwegs ist oder beschleunigt. Man kann so Stop-and-go-Verkehr berücksichtigen. Schließlich addiert man alle Verkehrsteilnehmer und sieht, welchen Anteil jeder Einzelne an der Belastung trägt.
Was kommt dabei heraus?
Die Lkw-Flotte, Kleintransporter und Busse emittieren – so wie sie heute unterwegs sind – unserer Berechnung nach mehr als 50 Prozent der Stickoxide in deutschen Innenstädten. Die Einsparmöglichkeiten sind dort deswegen viel größer als bei den Diesel-Pkw, die nur ein Drittel der Stickoxide verursachen
.Sie sprechen von Laborwerten. Meinen Sie die offiziellen Messwerte von den Prüfständen, bei denen geschummelt wurde und die den Diesel-Skandal ausgelöst haben?
Nein, wir verwenden Werte, die aus dem Labor stammen, aber dem realen Verkehr entsprechen. Der Diesel-Skandal ist entstanden, weil bei den Pkw die Katalysatoren auf der Straße aus verschiedenen Gründen gezielt abgeschaltet wurden. Bei den Lkw trifft das nicht zu. Da gibt es keinen Skandal. Generell funktionieren dort die SCR-Katalysatoren, die die Stickoxide abfangen. Aber das gilt nur, wenn ständig eine große Motorleistung abgefordert wird, wie es auf der Autobahn der Fall ist. Der Abgasstrang unter dem Lkw ist dann sehr warm und die Entfernung der Stickoxide durch die SCR-Kats arbeitet zuverlässig. Aber auf den Straßen in der Innenstadt herrscht oft Stop-and-go. Rote Ampeln, Busse stoppen an Haltestellen, Müllfahrzeuge halten an Mülltonnen. Dadurch kühlt der Katalysator ab und funktioniert nicht mehr. In den Innenstädten hat die Abgasreinigung der Lkw und der Busse ein Temperaturproblem.
Heißt das, die Lkw fahren durch die Innenstadt, als hätten sie gar keinen Kat?
So könnte man das beschreiben. Es kommt darauf an, wie gut die Abgasnachbereitung arbeitet. In der Innenstadt fährt ein Lkw nur wenig, aber er emittiert viel. Bei 25 Kilometer pro Stunde emittiert ein Lkw fünfmal mehr Stickoxide als im Mittel auf der Autobahn. Die Lkw-Flotte ist zu 90 Prozent noch Euro 5, die haben fast alle das Temperaturproblem. Dann kommen Sie schnell darauf, dass Lkw und Busse in der Innenstadt eine dominante Rolle spielen.
Warum wird darüber im Vergleich zu den Pkw so wenig gesprochen?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das Problem ist lange bekannt. Bei den neuesten Katalysatoren wird das berücksichtigt; da versucht man den Katalysator auch bei Fahrten durch die Stadt aktiv zu halten. Neuerdings gibt es Prüfzyklen, die ähnlich sind wie eine Innenstadtfahrt. Um dann die Abgasvorschriften einzuhalten, müssen die Hersteller selbst bei den meisten modernen Euro-6-Fahrzeugen nachbessern.
Das klingt alles sehr theoretisch. Wie sicher sind die Rechnungen?
Die Leistung, die ein Lkw benötigt, um durch eine Stadt zu fahren, lässt sich genau ausrechnen: Masse, Luftwiderstand, Frontfläche des Autos, durchschnittliche Ladung, diese Faktoren sind alle bekannt. Der Motor hat eine bekannte Effizienz. Solche Annahmen benötigen Sie, um daraus statistisch signifikante Werte für den mittleren Lkw in der deutschen Stadt hochzurechnen. Dazu benötigen Sie noch Vorgaben, wie schnell das Fahrzeug durch eine Straße fährt, ob es bremst oder beschleunigt. Dann kann man ganz genau ausrechnen, wie viel Treibstoff an welcher Stelle in einer Straße bei einer bestimmten Geschwindigkeit oder Beschleunigung verbraucht wird. Und das bestimmt dann letztendlich auch, wie viel Schadstoffe emittiert werden.
Sind Ihre Ergebnisse wissenschaftlich von den Kollegen akzeptiert?
Wir haben das vor zwei Jahren publiziert und damit im Kollegenkreis einiges Aufsehen erzeugt. Daraufhin ist aber nichts passiert. Jetzt, wo die Dieselproblematik hochkommt, können wir unsere Ergebnisse einfach wieder hervorziehen. Ich habe sie überprüft, die Zahlen stimmen im Wesentlichen noch immer. Das liegt auch daran, dass der Technologiewandel in der Fahrzeugflotte sehr langsam abläuft, so etwas dauert acht bis zehn Jahre.
Die ständige Beheizung der vorhandenen SCR-Katalysatoren könnte dieses Problem beheben. Warum fordert das keiner?
Als Wissenschaftler will ich nicht kommentieren, was Politik und Industrie sich ausdenken. Ich kann nur sagen, ob es mir sinnvoll erscheint, an dieser oder jener Schraube zu drehen, oder eben nicht.
Ihre Zahlen stammen aus Modellrechnungen. Kann man das auch richtig messen?
Ja, diese Option gibt es. Man könnte Messgeräte an einzelne Lkw anbringen und damit durch die Stadt fahren. Dann könnte man direkt messen, was aus dem Auspuff kommt. Solche Messungen sind jetzt ja für neue Diesel-Pkw teilweise vorgeschrieben. Das müsste man auch bei den Lkw für eine große Zahl an Modellen genauso machen. Bei den Pkw finden Sie dann übrigens Unterschiede je nach Jahreszeit. Im Winter emittieren Pkw sehr viel mehr Stickoxide als im Sommer. Und die bis vor Kurzem für den Verkehr angesetzten Stickoxidemissionen bezogen sich aber auf Sommerwerte.
Der Verkehr ist nur eine von mehreren Quellen für schlechte Luft. Nach den Zahlen des Umweltbundesamtes von 2016 stammen nur etwa 40 Prozent der Stickoxide vom Verkehr. Werden die Dieselabgase in der Diskussion um saubere Luft überbewertet?
Wenn man nur auf die Gesamtmenge der Emissionen schaut, könnte man diesen Eindruck gewinnen. Aber in den Straßen ist die Situation ganz anders. Nehmen wir zum Beispiel den Kamin oder Heizungen: Dort kommen die Stickoxide oben aus dem Kamin, nur ein kleiner Teil erreicht unten die Straße. Auch die Emissionen der Industrieanlagen werden meistens großräumig verteilt. In den Straßen der Innenstädte ist praktisch nur der Verkehr von Bedeutung. Wenn ein Auto durch eine Straße fährt, sind die Fußgänger nur wenige Meter entfernt, und die Abgase des Fahrzeugs sind noch nicht so stark verdünnt.
Die Menschen, die weit entfernt von den Messstellen wohnen, haben vermutlich eine ganz andere Belastung, als es die offiziellen Zahlen ergeben.
Das stimmt, aber so sind nun mal die gesetzlichen Vorgaben zur Bestimmung der Stickoxide. Es gibt verkehrsnahe Messstationen und welche, die an Orten mit wenig Autoverkehr aufgestellt wurden. An den Hauptverkehrsstraßen findet man heraus, wie hoch die Belastung sein kann. Und überall da, wo gemessen wird, sind ja auch Menschen. Die verkehrsnahen Messstationen, die die Mittelwerte für Stickoxide ermitteln, stehen auf dem Bürgersteig in zwei Meter Höhe. Sie sind so nah an der Quelle, wie das nur möglich ist.
Müsste es aus wissenschaftlicher Sicht nicht mehr Messstellen geben, um die Belastung der Bevölkerung präziser zu bestimmen?
Wissenschaftler wollen immer möglichst viel messen. Sicherlich könnte man dann genauer beurteilen, wer wie stark betroffen ist. Andererseits haben wir schon weit mehr als 1000 Messtellen in Deutschland. Irgendwann muss es auch genug sein.
Aber man könnte schon viel genauer messen?
Ja, sicher. Wenn wir mit dem Messfahrzeug des Forschungszentrums Jülich durch die Städte fahren, ergibt sich eine Riesenbandbreite der Messwerte. Manchmal ist in einer Straße eine gewaltige Stickoxidkonzentration festzustellen, und 100 Meter weiter ist die Situation schon ganz anders. Das kann um den Faktor zehn oder mehr abweichen. Das richtet sich danach, ob es eine Häuserschlucht gibt. Und wie stark und wie schnell der Wind die Luftmassen durch die Häuserschlucht wirbelt und verdünnt. Das Wetter spielt natürlich auch eine Rolle. Ob es Ampeln gibt oder Verkehrshindernisse. All diese Faktoren beeinflussen die Stickoxidkonzentration. Aber der Hauptpunkt ist die Verkehrsdichte.
Gibt es wissenschaftliche Projekte, die das genauer erforschen?
Das Interessante ist, dass die Werte und Zusammenhänge bei Experten schon lange bekannt sind. Das Umweltbundesamt (UBA) vergibt regelmäßig Aufträge an Forschungseinrichtungen. Beispielsweise nach Graz, daher stammen auch unsere Daten. Dort wird bei einzelnen Autos am Auspuff gemessen, was rauskommt. Das Institut in Graz wusste schon seit zehn Jahren, dass bei Diesel-Pkw die Grenzwerte nicht eingehalten werden. Man kann das in wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Pressemitteilungen nachlesen, aber keiner hat damals darauf reagiert.
Sie verweisen immer wieder darauf, dass Stickoxide aus NO und NO2 bestehen. Warum ist dieser Hinweis wichtig?
Aus wissenschaftlicher Sicht muss man bedenken, dass Fahrzeuge überwiegend Stickstoffmonoxid NO ausstoßen. Etwa 85 Prozent der Stickoxide werden als NO emittiert, nur 15 Prozent als NO2. Gesetzlich begrenzt ist aber nur NO2, weil das wesentlich schädlicher ist als NO. NO2 wird an den verkehrsnahen Messstellen in den Innenstädten gemessen. Dort hat man die direkte Emission an NO2 aus dem Verkehr, die aber meist niedrig ist. Der große Rest des beobachteten NO2 entsteht durch die Umwandlung von NO in NO2 durch Ozon.
Die Ozonkonzentration in der Luft beeinflusst also die NO2-Menge?
Diese Zusammenhänge sind seit Jahrzehnten bekannt. Man sieht das sehr gut im Sommer. Wenn es besonders warm ist, gibt es natürlicherweise auch mehr Ozon. Dann werden in den Städten sofort höhere NO2-Werte gemessen, auch wenn sich am Verkehr nichts geändert hat. Das kommt daher, weil mehr NO umgewandelt wird.
Ist es nicht egal, woher das NO2 in der Luft stammt?
Nein. Ozon wird beispielsweise durch Wind aus der Umgebung in die Stadt transportiert. In Deutschland messen wir im Jahresmittel über die letzten Jahrzehnte sehr ähnliche, ganz leicht abnehmende Ozonkonzentrationen im Hintergrund. Für die Innenstädte bedeutet das: Sie können nicht mehr NO in NO2 umwandeln, als Ozon da ist. Wenn das Ozon weg ist, kann die Konzentration an NO2 kaum noch steigen, selbst wenn der Verkehr deutlich zunimmt. Dafür nimmt die NO-Konzentration stark zu. Diesen Zusammenhang findet man bei allen Messungen und an allen Messstationen fast identisch vor.
Ich habe immer noch nicht verstanden, warum das so wichtig ist.
Das bedeutet, dass es keinen linearen Zusammenhang zwischen der Verkehrsdichte und der NO2-Konzentration in der Luft gibt. Wenn man den Verkehr um zehn Prozent reduziert, sinkt der NO2-Wert an den Messstellen mit hoher Belastung nur um etwa fünf Prozent. Das ist ein wichtiger Punkt. Diese Information müsste viel stärker in die Öffentlichkeit getragen werden. Die Erkenntnisse aus der Forschung erreichen die Verantwortlichen meist nicht. Viele Verantwortliche in den Kommunen glauben, dass wenn sie die Verkehrsemissionen um ein Drittel reduzieren, dann auch NO2 um ein Drittel sinkt. Das ist aber nicht der Fall. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen einschneidende Maßnahmen ergriffen werden. In meinen Augen muss das aber auch die weitere Öffentlichkeit verstehen, so schwierig ist das nicht. Dies ist ein grundlegender Punkt, wenn sie fundierte Entscheidungen treffen will.
Wie stark müssten sich denn die Emissionen verringern?
Wir haben ein mathematisches Verfahren entwickelt, das den Zusammenhang zwischen NO2-Werten und Verkehrsemissionen aus den vorhandenen Daten einer Station ausrechnet. Damit können wir für jeden Standort sagen, wie stark der Verkehr mindestens reduziert werden müsste, um an dieser Stelle den Grenzwert einzuhalten.
Können Sie eine Zahl nennen?
Das kommt auf den Standort an. Wir bereiten für alle Messstationen in Deutschland ein Web-Interface vor, das jedermann nutzen kann. Ich nenne ihnen ein Beispiel: Am Clevischen Ring in Köln liegen die Stickoxide heute im Durchschnitt bei 60 Mikrogramm pro Kubikmeter. Dort muss man die Emissionen des derzeitigen Verkehrs um 50 bis 60 Prozent reduzieren, um die NO2-Werte auf 40 Mikrogramm zu reduzieren und damit unter den Grenzwert zu kommen.
Der Artikel erschien unter dem Titel »Streit um Diesel-Pkw geht am Problem vorbei« bei den »Riffreportern«.
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