Polarforschung: Tauwetter
Die Antarktis ist die große Unbekannte im globalen Klimapoker: Verliert sie netto an Eismasse und steigert damit den Meeresspiegel? Oder schneit es tatsächlich mehr, und ihre Gletscher gewinnen an Volumen? Neue Daten überraschen und erregen Besorgnis.
Neunzig Prozent der globalen Eismassen türmen sich in der Antarktis und binden drei Viertel aller Süßwasserreserven des Planeten. An seiner dicksten Stelle misst der Eispanzer viereinhalb Kilometer und bedeckt im Winter – wenn das Meer zufriert – maximal dreißig Millionen Quadratkilometer. Gerade einmal zweieinhalb Prozent des Südkontinents bleiben dauerhaft eisfrei, weil es dort zu trocken ist oder das Terrain zu steil: Die Antarktis kann also getrost als Gefrierfach der Erde bezeichnet werden.
Folglich schmelzen dort die Eiszungen und schwindet das Schelfeis: Neun von zehn Gletschern haben sich in den letzten Jahrzehnten zurückgezogen und nackten Fels freigelegt. Gleichzeitig zerbröckelt das große Larsen-Eisschelf vor der Küste, das nach bisherigem Kenntnisstand während der letzten 10 000 Jahre durchweg stabil war. Nun aber gibt sein Verlust die Küste und die dortigen Gletscher den Kräften des Meeres preis, was beider Erosion verstärkt. Rund sechzig Milliarden Tonnen Eis sollen dort allein 2006 verschwunden sein.
Uneinheitliche Hälften
Etwas komplizierter sieht das Bild für den großen Rest der Antarktis aus, die von Wissenschaftlern grob in einen kleineren West- und in einen größeren Ostteil unterschieden wird. Ihre Entwicklung geht bislang nach mehrheitlicher Meinung auseinander: Im Westen tauen die Gletscher wohl langsam ab und verloren wiederum 2006 etwa 132 Milliarden Tonnen Masse, wie Eric Rignot von der Universität von Kalifornien in Irvine und seine Kollegen nun bekanntgaben. Bereits kurz vorher meldeten Wissenschaftler um Marco Tedesco vom Joint Center for Earth Systems Technology, dass sich seit Mitte der 1980er Jahre die zeitweilige Schmelze bis zu 800 Kilometer entfernt von der Küste ausgebreitet hat und selbst Höhen von 1600 Metern über dem Meeresspiegel erreicht. Zugleich herrscht an immer mehr Tagen Tauwetter.
Schwierige Datenlage
Um überhaupt an belastbare Zahlen zu kommen, müssen sich Forscher vor allem auf Satelliten verlassen, da auf dem riesigen und harschen Kontinent nur punktuell am Boden Messungen durchgeführt werden können. Mit Hilfe der GRACE-Mission (Gravity Recovery and Climate Experiment) beobachten sie deshalb aus dem All, wie sich die Erdanziehung in der Antarktis verändert. Schließlich unterliegt die Gravitation jahrezseitlichen oder periodischen Schwankungen – etwa durch wechselnde Eis- und Wassermengen über Land und im Meer, die örtlich die Schwerkraftverhältnisse mitbestimmen. Dünnt ein Gletscher zum Beispiel aus, sinkt in diesem Bereich die Gravitation, während sie am ozeanischen Zuflusspunkt ansteigt. Dabei müssen die Glaziologen allerdings beachten, dass sich die Erdkruste hebt, wenn sie vom Eis entlastet wird, und diesen Einfluss herausrechnen. Die so gewonnenen Daten bestätigen jedenfalls Netto-Verluste im Westen der Antarktis und Gewinne im Osten.
Alternativ können sie auf die Satelliten-Altimetrie zurückgreifen, die schlicht die Höhe der Land- und Eismassen ermittelt. Im Gegensatz zu GRACE, das erst seit seit 2002 im Einsatz ist, reichen ihre Daten schon länger zurück beziehungsweise lassen sich gut mit Messungen am Boden vergleichen. Diese Methode belegt ebenfalls schwindsüchtige Gletscher, deren Verluste wohl vornehmlich auf höhere Fließgeschwindigkeiten Richtung Meer zurückgehen. Der Nachweis durch Laser wird allerdings bei steileren Hängen verzerrt und konnte bislang technisch noch nicht jenseits des 82. Breitengrads eingesetzt werden, sodass ebenfalls weiße Lücken auf den Eiskarten bleiben.
Rignot und seine Mannschaft setzten deshalb auf die Hilfe der so genannten Radarinterferometrie, die ebenfalls aus dem All Fließgeschwindigkeiten von Gletschern einigermaßen gut ermittelt, indem sie die unterschiedlichen Empfangsstärken der von Geländeoberflächen reflektierten Signale erfasst. Je schneller eine Eiszunge ins Meer strömt, desto größer dürften ihre Verluste sein – sofern man weiß, wie viel Schnee im Landesinneren fällt und wie dick das Paket von der Basis bis zur Oberfläche ist.
Ausweitung der Schmelzzone?
Immerhin von 85 Prozent der antarktischen Küste lagen den Forschern Werte aus den Jahren 1992, 2000 und 2006 vor. Diese setzten sie in Bezug zu Berechnungen eines ausschließlich regionalen Klimamodells, das den antarktischen Schneefall in der Zeit zwischen 1980 und 2004 auf Basis von Wetterbeobachtungen ermitteln sollte. Das Ergebnis stimmt bedenklich: Allein 2006 verlor das Gebiet um den Südpol netto knapp 200 Milliarden Tonnen Eis – eine Steigerung um 75 Prozent während der letzten 14 Jahre. Selbst die Ostantarktis steuerte dazu offensichtlich vier Milliarden Tonnen bei, statt wie bislang angenommen an Eismasse zuzulegen.
Zugleich können auch Rignots Leute insgesamt keinen stärkeren Schneefall aus ihren Resultaten herauslesen, weshalb die größere Fließgeschwindigkeit nicht auf einen Massezuwachs im Nährgebiet, sondern auf stärkere Verluste im Zehrgebiet und den Totalverlust kleinerer Schelfeisflächen zurückzuführen ist. Überhaupt hat sie eines überrascht: Jene Regionen, in denen die Forscher vereinzelt einen etwas verstärkten Niederschlag herauslesen konnten, zeichneten sich durch besonders hohe Eisverluste aus.
Starke Meeresströmungen und Winde, die den Südpol umkreisen, isolieren den Eiskontinent vom Rest der Welt. Doch gänzlich abschirmen können sie ihn nicht, sodass die Erderwärmung auch vor der Antarktis nicht Halt macht. Doch wie konkret sie sich dort unten ausdrückt, diskutiert die Fachwelt – vielfach auch mangels ausreichender Daten – heiß und innig. Gesichert ist beispielsweise, dass sich die Antarktische Halbinsel, die am weitesten nach Norden Richtung Südamerika reicht, stark erwärmt. Um rund 2,5 Grad Celsius stiegen ihre Durchschnittstemperaturen während der letzten knapp sechzig Jahre.
Folglich schmelzen dort die Eiszungen und schwindet das Schelfeis: Neun von zehn Gletschern haben sich in den letzten Jahrzehnten zurückgezogen und nackten Fels freigelegt. Gleichzeitig zerbröckelt das große Larsen-Eisschelf vor der Küste, das nach bisherigem Kenntnisstand während der letzten 10 000 Jahre durchweg stabil war. Nun aber gibt sein Verlust die Küste und die dortigen Gletscher den Kräften des Meeres preis, was beider Erosion verstärkt. Rund sechzig Milliarden Tonnen Eis sollen dort allein 2006 verschwunden sein.
Uneinheitliche Hälften
Etwas komplizierter sieht das Bild für den großen Rest der Antarktis aus, die von Wissenschaftlern grob in einen kleineren West- und in einen größeren Ostteil unterschieden wird. Ihre Entwicklung geht bislang nach mehrheitlicher Meinung auseinander: Im Westen tauen die Gletscher wohl langsam ab und verloren wiederum 2006 etwa 132 Milliarden Tonnen Masse, wie Eric Rignot von der Universität von Kalifornien in Irvine und seine Kollegen nun bekanntgaben. Bereits kurz vorher meldeten Wissenschaftler um Marco Tedesco vom Joint Center for Earth Systems Technology, dass sich seit Mitte der 1980er Jahre die zeitweilige Schmelze bis zu 800 Kilometer entfernt von der Küste ausgebreitet hat und selbst Höhen von 1600 Metern über dem Meeresspiegel erreicht. Zugleich herrscht an immer mehr Tagen Tauwetter.
Die Ostantarktis widerspricht dagegen auf den ersten Blick der These von zunehmender Erwärmung, denn dort legen die Eismassen sogar noch an Volumen zu: Kleineren Verlusten an der Küste steht ein Gewinn im Landesinneren gegenüber, der jährlich etwa 45 Milliarden Tonnen betragen soll. Der Auslöser: Da wärmere Luft mehr Luftfeuchtigkeit aufnehmen kann, die letztlich als Schnee wieder ausfällt, nährte das die ostantarktischen Gletscher – zumindest theoretisch, denn aussagekräftige Zahlen zum antarktischen Niederschlag sind Mangelware. Und die wenigen Daten, die es gibt, deuten sogar im Gegenteil an, dass es weniger schneit. Der Zuwachs beruhte demnach wohl eher auf der schnelleren Umwandlung der Niederschläge in Eis.
Schwierige Datenlage
Um überhaupt an belastbare Zahlen zu kommen, müssen sich Forscher vor allem auf Satelliten verlassen, da auf dem riesigen und harschen Kontinent nur punktuell am Boden Messungen durchgeführt werden können. Mit Hilfe der GRACE-Mission (Gravity Recovery and Climate Experiment) beobachten sie deshalb aus dem All, wie sich die Erdanziehung in der Antarktis verändert. Schließlich unterliegt die Gravitation jahrezseitlichen oder periodischen Schwankungen – etwa durch wechselnde Eis- und Wassermengen über Land und im Meer, die örtlich die Schwerkraftverhältnisse mitbestimmen. Dünnt ein Gletscher zum Beispiel aus, sinkt in diesem Bereich die Gravitation, während sie am ozeanischen Zuflusspunkt ansteigt. Dabei müssen die Glaziologen allerdings beachten, dass sich die Erdkruste hebt, wenn sie vom Eis entlastet wird, und diesen Einfluss herausrechnen. Die so gewonnenen Daten bestätigen jedenfalls Netto-Verluste im Westen der Antarktis und Gewinne im Osten.
Alternativ können sie auf die Satelliten-Altimetrie zurückgreifen, die schlicht die Höhe der Land- und Eismassen ermittelt. Im Gegensatz zu GRACE, das erst seit seit 2002 im Einsatz ist, reichen ihre Daten schon länger zurück beziehungsweise lassen sich gut mit Messungen am Boden vergleichen. Diese Methode belegt ebenfalls schwindsüchtige Gletscher, deren Verluste wohl vornehmlich auf höhere Fließgeschwindigkeiten Richtung Meer zurückgehen. Der Nachweis durch Laser wird allerdings bei steileren Hängen verzerrt und konnte bislang technisch noch nicht jenseits des 82. Breitengrads eingesetzt werden, sodass ebenfalls weiße Lücken auf den Eiskarten bleiben.
Rignot und seine Mannschaft setzten deshalb auf die Hilfe der so genannten Radarinterferometrie, die ebenfalls aus dem All Fließgeschwindigkeiten von Gletschern einigermaßen gut ermittelt, indem sie die unterschiedlichen Empfangsstärken der von Geländeoberflächen reflektierten Signale erfasst. Je schneller eine Eiszunge ins Meer strömt, desto größer dürften ihre Verluste sein – sofern man weiß, wie viel Schnee im Landesinneren fällt und wie dick das Paket von der Basis bis zur Oberfläche ist.
Ausweitung der Schmelzzone?
Immerhin von 85 Prozent der antarktischen Küste lagen den Forschern Werte aus den Jahren 1992, 2000 und 2006 vor. Diese setzten sie in Bezug zu Berechnungen eines ausschließlich regionalen Klimamodells, das den antarktischen Schneefall in der Zeit zwischen 1980 und 2004 auf Basis von Wetterbeobachtungen ermitteln sollte. Das Ergebnis stimmt bedenklich: Allein 2006 verlor das Gebiet um den Südpol netto knapp 200 Milliarden Tonnen Eis – eine Steigerung um 75 Prozent während der letzten 14 Jahre. Selbst die Ostantarktis steuerte dazu offensichtlich vier Milliarden Tonnen bei, statt wie bislang angenommen an Eismasse zuzulegen.
Umgerechnet bedeutet dies, dass die Antarktis in diesem einen Jahr einen halben Millimeter zum Meeresspiegelanstieg beitrug – immerhin ein Sechstel der gesamten Zunahme in diesem Zeitraum, die neben der Gletscherschmelze auf die wärmebedingte Ausdehnung des Wassers zurückzuführen ist. Diese drei Millimeter, die die Ozeane mittlerweile jährlich ansteigen, klingen nicht nach viel. Doch könnte die Antarktis erst am Anfang ihres eigenen Klimawandels stehen, wie Rignot und andere Wissenschaftler zu bedenken geben. So wirken die ausgedehnten Schelfeisgebiete rund um den Kontinent noch wie ein Schutzschirm, der verhindert, dass relativ warme Luft vom Ozean auf das Festland strömt und dort die Gletscherschmelze antreibt. Diese Schilde zerfallen jedoch gegenwärtig stetig, weshalb sich bald negative Rückkoppelungen auf dem Eis einstellen könnten. Gerade das Ausdünnen von Schelfeis in der Ostantarktis lässt die Glaziologen die Stirn runzeln: Aus der Senke scheint eine Quelle zu werden.
Zugleich können auch Rignots Leute insgesamt keinen stärkeren Schneefall aus ihren Resultaten herauslesen, weshalb die größere Fließgeschwindigkeit nicht auf einen Massezuwachs im Nährgebiet, sondern auf stärkere Verluste im Zehrgebiet und den Totalverlust kleinerer Schelfeisflächen zurückzuführen ist. Überhaupt hat sie eines überrascht: Jene Regionen, in denen die Forscher vereinzelt einen etwas verstärkten Niederschlag herauslesen konnten, zeichneten sich durch besonders hohe Eisverluste aus.
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