Klimawandel: Minusbilanzen
Der eisfreie Nordpol ist nur eine Frage der Zeit - prophezeien Computermodelle und Klimaforscher. Die Realität scheint ihnen Recht zu geben, denn die Arktis taut. Und die Antarktis auch. Aber um wie viel und durch welche Einflüsse ist immer noch ein Rätsel, der modernen Technik zum Trotz.
Ein Schreckensszenario: Die Erde heizt sich so weit auf, dass die gesamten Eispakete von Arktis und Antarktis verschwinden. Die Meeresspiegel steigen um siebzig Meter; Hamburg, New York und Hongkong, fast die gesamten Niederlande und weite Teile Bangladeshs, Florida, die Malediven und viele pazifische Inseln verschwinden im Meer, hunderte Millionen Menschen sind auf der Flucht vor dem steigenden Wasser, Volkswirtschaften kollabieren und Gesellschaften lösen sich auf. Pure Fiktion? Nicht ganz, denn Daten zu vergangenen Warmzeiten zeigen, dass steigende Temperaturen tatsächlich die Meere um bis zu zwanzig Meter steigen lassen können – allerdings in einem Zeitraum von mehreren hundert Jahren.
Schwierige Rechnung
Um überhaupt auf diesen Wert zu kommen, müssen Wissenschaftler eine einigermaßen komplizierte Rechnung durchführen, in der ein Massezuwachs der Gletscher – da wärmere Luft mehr Feuchtigkeit aufnimmt, kann es im Landesinneren mehr schneien – dem Verlust durch Verdunstung, Schmelze und verstärktem Kalben im Meer gegenübergestellt werden muss. Die Schwierigkeit daran beruht weniger auf der reinen Algebra als vielmehr auf der Datengewinnung, wie Andrew Shepherd von der Universität Edinburgh und Duncan Wingham vom University College London in einer neuen Auswertung darlegen [1].
Als neue Geheimwaffe setzen Glaziologen deshalb auf die GRACE-Satelliten, die feinste Schwerkraftunterschiede nachweisen können und darüber Änderungen der polaren Eismassen berechnen. Doch die Gravitationsmessung ist ein relativ junges Verfahren und die Diskussion über etwaige Messfehler und Fehlerkorrekturen noch nicht abgeschlossen. Eine Datenkontaminierung durch Masseveränderungen in Ozean oder Atmosphäre könne deshalb stattfinden und im positiven oder negativen Sinne verfälschen, so Shepherd und Wingham.
Unterschiedliches Schmelzen
Trotz aller Fehlermargen und Unwägbarkeiten weisen die drei Methoden aber alle in dieselbe Richtung: Antarktis und Grönland verlieren beide an Eismasse – wenngleich regional deutlich unterschiedlich. So wächst anscheinend das Inlandeis der Ostantarktis, der größte Kühlschrank der Erde, um bis zu knapp 25 Gigatonnen im Jahr, weil es hier mehr schneit. Damit hemmt die Region den Meeresspiegelanstieg ein wenig. Ganz anders verhält sich dagegen die kleinere Westantarktis, die vor allem im Amundsen-Sektor taut. Insgesamt 47 bis 59 Gigatonnen Eis gingen hier in den 1990er Jahren laut Messungen alle zwölf Monate verloren und trugen auf diese Weise zur Aussüßung der Ross-See bei. Neuere Daten sprechen von verdreifachten Verlusten seit 2002, die beiden Forschern misstrauen diesen Werten allerdings noch, da das erfasste Gebiet zu klein war, um Gesamtaussagen zu treffen.
Etwas anders stellt sich die Situation in Grönland dar, wo Ende des 20. Jahrhunderts einem moderaten Zuwachs in den höheren Inlandsgebieten starke Verluste in tieferen Lagen und an der Küste gegenüberstehen. Nach dem Jahrtausendwechsel hat sich die Situation noch einmal verschärft und das Schmelzen sich verdreifacht, seit Ende 2005 scheinen sich die Verluste jedoch vorerst wieder auf dem Niveau der 1990er Jahre einzupendeln – immer noch ein Minus von immerhin 100 Gigatonnen pro Jahr. Teilweise geht dies auf höhere Temperaturen zurück, schnellere Fließgeschwindigkeiten der Gletscher tragen ein Übriges dazu bei: Viele von ihnen strömen um zwanzig bis hundert Prozent beschleunigt gen Meer und werden angetrieben durch Schmelzwasser, das bis zur Basis des Eisstroms sickert und dort die Reibung herabsetzt.
Vom Verlust der arktischen Eisdecke
Neben den Gletschern an Land schwindet auch das Meereis, und das ebenfalls verstärkt in der Arktis. Nach Ansicht von Wissenschaftlern um Mark Serreze von der Universität von Colorado in Boulder könnte der sommerliche Rückgang des nordpolaren Packeises mittlerweile bereits einen Punkt erreicht haben, in dem es sich unumkehrbar auflöst – mit globalen Konsequenzen [3]. Die Auswertung ihrer Satellitendaten zeigt, dass in jedem Monat seit 1979 das Eis im Vergleich zum Vorjahr stetig zurückging. Am stärksten ausgeprägt war dieser Trend jeweils im September, in dem die zugefrorene Fläche in jedem Jahr im Schnitt um 100 000 Quadratkilometer kleiner wurde. In jüngerer Zeit wurde in den folgenden Wintern dieser Verlust zusätzlich nicht mehr ausgeglichen, sondern bildete sich ebenfalls weniger Eis als zuvor üblich, was den sommerlichen Rückgang weiter beschleunigte.
All diese Trends und gegenseitigen Verstärkungen bestätigen kürzlich veröffentlichte Studien, die eine im Sommer meereisfreie Arktis für das Jahrzehnt zwischen 2040 bis 2050 vorhersagen. Und das könnte weit reichende Folgen haben – erste davon sind bereits sichtbar: So lässt reduziertes Meereis die angrenzenden Küsten stärker bröckeln, weil es als Wellenschutz ausfällt. Zudem gefährden dünnere Eisschichten das Überleben der Eisbären, die darauf im Winter an Atemlöchern erfolgreich Robben erbeuten, und den Fortbestand der Inuit-Kultur, deren traditionelle Jagdmethoden ebenfalls stark auf vorhandenem Packeis basieren.
Wenigstens trägt das Meereis nicht zum Anstieg der Ozeane bei, doch sollte das nicht vorschnell beruhigen. Denn hitzebedingte Ausdehnung und Gletscherschmelze könnten die Wasserstände bis zum Ende des Jahrhunderts um sechzig Zentimeter nach oben treiben. Das klingt nach wenig, doch bereits heute nagen die Meere an vielen Orten stärker an der Küste und droht öfter Land unter.
Verglichen dazu nehmen sich die momentan durch die Erderwärmung anwachsenden Pegel scheinbar harmlos aus – um gerade einmal drei Millimeter steigen sie pro Jahr an. Ein Großteil davon ist den physikalischen Eigenschaften des Wassers geschuldet, das sich durch die Aufheizung schlicht im Volumen ausdehnt. Bis zu neunzig Prozent des gemessenen Anstiegs sollen nach diversen Berechnungen auf diesen Effekt zurückgehen und nur die restlichen 0,3 Millimeter durch schmelzendes Eis beigesteuert werden.
Schwierige Rechnung
Um überhaupt auf diesen Wert zu kommen, müssen Wissenschaftler eine einigermaßen komplizierte Rechnung durchführen, in der ein Massezuwachs der Gletscher – da wärmere Luft mehr Feuchtigkeit aufnimmt, kann es im Landesinneren mehr schneien – dem Verlust durch Verdunstung, Schmelze und verstärktem Kalben im Meer gegenübergestellt werden muss. Die Schwierigkeit daran beruht weniger auf der reinen Algebra als vielmehr auf der Datengewinnung, wie Andrew Shepherd von der Universität Edinburgh und Duncan Wingham vom University College London in einer neuen Auswertung darlegen [1].
Mit Hilfe der so genannten Radarinterferometrie (InSAR), die unterschiedliche Empfangsstärken der von Geländeoberflächen reflektierten Signale erfasst, lassen sich heute beispielsweise die Fließgeschwindigkeiten von Gletschern einigermaßen gut feststellen. Um einen eventuellen Massenverlust an den Ozean oder Netto-Gewinn zu ermitteln, muss jedoch die Schneefallrate und die Eisdicke bekannt sein: Beides hat man bis heute nur lückenhaft in der Antarktis gemessen, wo kaum Eis schmilzt, aber womöglich vieles schneller ins Meer fließt. Die Zahlen für den jährlichen Schneeeintrag schwanken deshalb zwischen 1475 und 2331 Gigatonnen. Ähnliche Probleme wirft die Laser-Altimetrie auf, mit der von Satelliten aus die Höhe des Eises gemessen wird: Sie verzerrt bei steileren Hängen und konnte bislang technisch noch nicht jenseits des 82. Breitengrads eingesetzt werden.
Als neue Geheimwaffe setzen Glaziologen deshalb auf die GRACE-Satelliten, die feinste Schwerkraftunterschiede nachweisen können und darüber Änderungen der polaren Eismassen berechnen. Doch die Gravitationsmessung ist ein relativ junges Verfahren und die Diskussion über etwaige Messfehler und Fehlerkorrekturen noch nicht abgeschlossen. Eine Datenkontaminierung durch Masseveränderungen in Ozean oder Atmosphäre könne deshalb stattfinden und im positiven oder negativen Sinne verfälschen, so Shepherd und Wingham.
Unterschiedliches Schmelzen
Trotz aller Fehlermargen und Unwägbarkeiten weisen die drei Methoden aber alle in dieselbe Richtung: Antarktis und Grönland verlieren beide an Eismasse – wenngleich regional deutlich unterschiedlich. So wächst anscheinend das Inlandeis der Ostantarktis, der größte Kühlschrank der Erde, um bis zu knapp 25 Gigatonnen im Jahr, weil es hier mehr schneit. Damit hemmt die Region den Meeresspiegelanstieg ein wenig. Ganz anders verhält sich dagegen die kleinere Westantarktis, die vor allem im Amundsen-Sektor taut. Insgesamt 47 bis 59 Gigatonnen Eis gingen hier in den 1990er Jahren laut Messungen alle zwölf Monate verloren und trugen auf diese Weise zur Aussüßung der Ross-See bei. Neuere Daten sprechen von verdreifachten Verlusten seit 2002, die beiden Forschern misstrauen diesen Werten allerdings noch, da das erfasste Gebiet zu klein war, um Gesamtaussagen zu treffen.
Der Antarktischen Halbinsel schließlich, wo sich der Klimawandel am Südpol am deutlichsten offenbart, messen Shepherd und Wingham kaum Bedeutung für den Meeresspiegelanstieg bei. Sie ist in der Fläche zu klein, und Eisverluste an der Küste werden durch stärkeren Niederschlag auf dem Dyer-Plateaugletscher ausgeglichen. Insgesamt ist die Antarktis also noch ein eher schlafender weißer Riese, was wohl damit zusammenhängt, dass hier – mit Ausnahme der Halbinsel – die Temperaturen noch nicht so stark gestiegen sind wie in der Arktis. Vielmehr strömen die Eiszungen schneller ins Meer, wo sie sich von unten her auflösen oder schlicht zerfallen. Die Ursache: noch nicht exakt bekannt, aber wahrscheinlich durch erwärmtes Meerwasser ausgelöst.
Etwas anders stellt sich die Situation in Grönland dar, wo Ende des 20. Jahrhunderts einem moderaten Zuwachs in den höheren Inlandsgebieten starke Verluste in tieferen Lagen und an der Küste gegenüberstehen. Nach dem Jahrtausendwechsel hat sich die Situation noch einmal verschärft und das Schmelzen sich verdreifacht, seit Ende 2005 scheinen sich die Verluste jedoch vorerst wieder auf dem Niveau der 1990er Jahre einzupendeln – immer noch ein Minus von immerhin 100 Gigatonnen pro Jahr. Teilweise geht dies auf höhere Temperaturen zurück, schnellere Fließgeschwindigkeiten der Gletscher tragen ein Übriges dazu bei: Viele von ihnen strömen um zwanzig bis hundert Prozent beschleunigt gen Meer und werden angetrieben durch Schmelzwasser, das bis zur Basis des Eisstroms sickert und dort die Reibung herabsetzt.
Und da nun die Verluste überwiegend auf dieses Bewegungsverhalten der Gletscher zurückzuführen ist und nicht auf das Tauen allein, befürchten die beiden Wissenschaftler, dass bisherige Prognosen zum Beitrag des polaren Eises zum Meeresspiegelanstieg nicht mehr haltbar sein könnten. In den Computermodellen wird diese Dynamik noch kaum berücksichtigt; bis dato galt, dass die Schmelze durch stärkeren Schneefall mehr oder weniger ausgeglichen wird.
Vom Verlust der arktischen Eisdecke
Neben den Gletschern an Land schwindet auch das Meereis, und das ebenfalls verstärkt in der Arktis. Nach Ansicht von Wissenschaftlern um Mark Serreze von der Universität von Colorado in Boulder könnte der sommerliche Rückgang des nordpolaren Packeises mittlerweile bereits einen Punkt erreicht haben, in dem es sich unumkehrbar auflöst – mit globalen Konsequenzen [3]. Die Auswertung ihrer Satellitendaten zeigt, dass in jedem Monat seit 1979 das Eis im Vergleich zum Vorjahr stetig zurückging. Am stärksten ausgeprägt war dieser Trend jeweils im September, in dem die zugefrorene Fläche in jedem Jahr im Schnitt um 100 000 Quadratkilometer kleiner wurde. In jüngerer Zeit wurde in den folgenden Wintern dieser Verlust zusätzlich nicht mehr ausgeglichen, sondern bildete sich ebenfalls weniger Eis als zuvor üblich, was den sommerlichen Rückgang weiter beschleunigte.
Zudem trieben veränderte Windströmungen dickere Meereis-Pakete aus dem Nordpolarmeer südwärts in den Atlantik, wo sie schmolzen. Ersetzt wurden sie von dünneren Lagen aus jüngerem Eis, das sich wiederum schneller auflöst und damit zeitiger die See der Sonneneinstrahlung aussetzt, statt diese zu reflektieren. Das dunkle Wasser speichert die einkommende Energie und wärmt so die Umgebung, sodass eine für das Eis weitere sich negativ auswirkende Rückkoppelung einsetzt. Und um dem ganzen noch eine zusätzliche Heizspirale zu verpassen, strömt seit Mitte der 1990er Jahre immer wieder warmes Wasser aus dem Nordatlantik in das Nordpolarmeer und drängt die südliche Eisgrenze weiter zurück.
All diese Trends und gegenseitigen Verstärkungen bestätigen kürzlich veröffentlichte Studien, die eine im Sommer meereisfreie Arktis für das Jahrzehnt zwischen 2040 bis 2050 vorhersagen. Und das könnte weit reichende Folgen haben – erste davon sind bereits sichtbar: So lässt reduziertes Meereis die angrenzenden Küsten stärker bröckeln, weil es als Wellenschutz ausfällt. Zudem gefährden dünnere Eisschichten das Überleben der Eisbären, die darauf im Winter an Atemlöchern erfolgreich Robben erbeuten, und den Fortbestand der Inuit-Kultur, deren traditionelle Jagdmethoden ebenfalls stark auf vorhandenem Packeis basieren.
Neben diesen lokalen Problemen dürfte der Wechsel von Eis zu offenem Wasser zudem das Wettergeschehen der Nordhalbkugel nachhaltig verändern: Zumindest nach Simulationen – und mitunter in der Realität schon angedeutet – werden Europas Winter unter diesem Szenario milder und feuchter, da mehr Sturmtiefs vom Atlantik durchkommen und polare Kaltluftvorstöße seltener werden. Gleichermaßen fällt weniger Schnee im Westen der Vereinigten Staaten, denn auch hier bleiben arktische Fronten häufiger aus, was Wasserversorgung wie Tourismus der Region gefährdet und Dürren verschärft.
Wenigstens trägt das Meereis nicht zum Anstieg der Ozeane bei, doch sollte das nicht vorschnell beruhigen. Denn hitzebedingte Ausdehnung und Gletscherschmelze könnten die Wasserstände bis zum Ende des Jahrhunderts um sechzig Zentimeter nach oben treiben. Das klingt nach wenig, doch bereits heute nagen die Meere an vielen Orten stärker an der Küste und droht öfter Land unter.
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