Tiere in Tschernobyl: Trotz oder wegen der Strahlung?
Er ist bis heute einer der am stärksten radioaktiv kontaminierten Orte der Welt: der Rote Wald, die zehn Quadratkilometer umfassende Zone westlich des Kernkraftwerks von Tschernobyl. Er steht bis heute für das Maß an Zerstörung, das ionisierende Strahlung anrichten kann. Das Kiefernwaldstück hieß nicht immer so. Die Kernschmelze in Reaktor 4 beförderte zehn Tage lang radioaktive Isotope von Jod, Strontium, Zäsium, Plutonium sowie winzige Stückchen Uran in die Umgebung. Es dauerte nur wenige Tage, bis die Kiefern starben – die Nadeln verfärbten sich rotbraun, fielen ab, und der Wald wurde umgetauft. Der alte Name, der übersetzt in etwa "Wermut-Wald" lautete, ist seither vergessen. Panzer trugen die oberen Erdschichten ab, die als nuklearer Müll vergraben wurden. Sämtliche Nutztierbestände wurden geschlachtet, von evakuierten Bewohnern der Zone zurückgelassene Hunde erschossen. Doch die Konsequenzen für das Ökosystem ließen sich dadurch nicht aufhalten. Viele Tiere starben oder kamen missgebildet zur Welt. Übrig blieb eine postapokalyptische und steril erscheinende Mondlandschaft. Umso erstaunlicher erscheinen die Meldungen, die seit über einem Jahrzehnt die insgesamt 4200 Quadratkilometer große Sperrzone um Tschernobyl als zukünftiges Wildtierreservat beschreiben.
Ungefähr ab der Jahrtausendwende berichteten Forscher und Laien verstärkt von Sichtungen außergewöhnlicher Tierarten in der Sperrzone: ein Braunbär, Wölfe und Wildschweine, ein Seeadler, der seine Kreise drei Meilen weit um das ehemalige Kernkraftwerk zog, ein Uhu, der auf einem Bagger auf dem Gelände vor sich hin döste, und sogar ein Bison. Eine Herde von seltenen Przewalski-Pferden hatte sich fünf Jahre zuvor in die Sperrzone begeben und seither ihre Größe auf mehr als 60 Tiere verdreifacht.
Letztlich legte das Tschernobyl-Forum selbst, eine internationale Versammlung von 100 Experten (einberufen von der UN, der WHO und der IAEA), im Jahr 2006 einen Bericht vor (PDF). Darin zeigten die Experten, dass die Radioaktivität – von ein paar Ausnahmen wie dem Roten Wald mal abgesehen – stark abgenommen hatte und somit Tiere wie Menschen wieder dort leben könnten. Darüber hinaus brachten die Wissenschaftler zu Papier, dass durch geringe Strahlenbelastung keine negativen Auswirkungen auf Pflanzen und Tiere nachgewiesen werden konnten. Artenvielfalt und Populationsgrößen hatten laut dem Bericht zugenommen. Der Grund: Die Zone war seit zwei Jahrzehnten nahezu menschenleer und dadurch auch für sehr scheue Wildtiere wie Luchse und Wölfe interessant geworden. Vereinfacht gesagt: Menschen sind für die Natur schwerer zu verdauen als ionisierende Strahlung.
Erste Erkenntnisse über Tiere unter Strahlen
Diese zunächst einmal optimistisch bis naiv erscheinende Prognose begann mehr oder weniger mit einem Mann: dem ukrainischen Forscher Sergei Gaschak. Kaum hatte er sein Biologiestudium abgeschlossen, wurde er vom Militär im Juli 1986 als Liquidator und somit für die Aufräumarbeiten in und um Tschernobyl einberufen. Von Strahlung hatte der junge Akademiker keine Ahnung, aber von Vögeln, die er selbst in der "Todeszone" beobachten konnte. Vier Jahre später kehrte er zurück in die Sperrzone, um auf einer Versuchsfarm mit drei Kühen und einem Bullen zu arbeiten. Alpha, Beta und Gamma, wie die Wissenschaftler die Kühe getauft hatten, waren durch die akute Strahlenbelastung zunächst unfruchtbar geworden, doch sie erholten sich im Lauf weniger Jahre wieder. Gaschak war überrascht und konnte sich die Ergebnisse nicht erklären.
Anfang der 1990er Jahre wendete er sich von Nutztieren ab und begann damit, in der freien Wildbahn zu forschen. Erstmals schaute er sich in der gesamten Sperrzone um und nahm Proben von Wildtieren. Er fing an, die Anzahl von Arten und die jeweiligen Populationen zu zählen, ohne davon viel veröffentlichen zu können – die finanzielle Förderung seiner Forschung war desolat. Um über die Runden zu kommen, lieh er zum einen seine Expertise der ukrainischen Kernkraftindustrie, zum anderen verkaufte er seine Daten an Wissenschaftler aus aller Welt.
So veröffentlichen der kanadische Biologe Timothy Mousseau und sein dänischer Kollege Anders Møller 2007 eine Studie mit Vogelpopulations-Daten von Sergei Gaschak, der noch weitere Nistkästen in der Zone mit der höchsten Strahlenbelastung (ergo dem Roten Wald) für die westlichen Wissenschaftler verteilte. Als Gaschak das fertige Paper sah, war er geschockt. Was seine Daten seiner Meinung nach wirklich zeigen konnten, war, dass erhöhte Strahlung in der Umgebung der Vögel oder ihren Nahrungsquellen zu starken Veränderungen von Körper und Organen sowie erhöhter Kükensterblichkeit führten.
Mousseau und Møller zogen aus den Zahlen allerdings Schlüsse, die sich nach Gaschaks Ansicht daraus absolut nicht ableiten ließen. In der Veröffentlichung brachten die beiden Biologen hohe Strahlungswerte mit niedrigen Besetzungsquoten der installierten Vogelhäuschen in Verbindung. Laut Gaschak war sein Experiment nie auf solche Korrelationen ausgelegt gewesen – dazu hätte es keine geeigneten Kontroll-Nistplätze gegeben. Dass im Roten Wald weniger Nistkästen von Fliegenschnäppern belegt wurden, hätte laut dem Datensammler vielmehr daran gelegen, dass diese Vogelart bevorzugt in Kiefern brütet – also ausgerechnet den Bäumen, deren letztes Stündchen schon wenige Wochen nach dem Reaktorunfall geschlagen hatte.
"In der Wissenschaft existiert nichts ohne Peer Review. So gesehen existieren Gaschaks Daten einfach nicht"Anders Møller
Woher also wissen, ob die Vögel wegen der Strahlung oder dem abwesenden Lieblingsbaum fernblieben? Gaschak bat darum, seinen Namen aus der Publikation zu streichen, doch Anders Møller verweigerte das. Damit war die Zusammenarbeit der drei Forscher bis auf Weiteres beendet – keinesfalls aber der zu Grunde liegende Disput. Der dänische Wissenschaftler Møller, inzwischen Professor an der Université Paris Sud, wirft Gaschak bis heute vor, dieser hätte seinen Namen nicht auf einem Paper haben wollen, das die negativen Auswirkungen von Strahlung zeigte. Da Gaschak der Sperrzone tatsächlich großes Potenzial für ein menschenfreies Naturschutzgebiet zuspricht, ergibt dieser Vorwurf in gewisser Hinsicht auch Sinn. Spricht man Møller auf Gaschaks – heute noch seltener offiziell publizierte – Ergebnisse an, antwortet er: "In der Wissenschaft existiert nichts, wenn es keinen Peer Review durchlaufen hat und in entsprechender Literatur erscheint. So gesehen existieren Gaschaks Daten einfach nicht." Er und sein kanadischer Kollege stehen nach wie vor zu ihren publizierten Ergebnissen von 2007.
Werden die Auswirkungen der Strahlung auf Ökosysteme verharmlost?
Und es folgten viele weitere Veröffentlichungen von Møller und Mousseau, oft arbeiteten sie zusammen. Der 2006er Bericht des Tschernobyl-Forums störte die beiden Wissenschaftler sehr. In ihren Augen wurden hier die verheerenden Auswirkungen von ionisierender Strahlung auf Ökosysteme verharmlost. So berichteten sie unter anderem davon, dass Vögel um Tschernobyl durchschnittlich kleinere Gehirne besitzen, dass bunte Vögel durch Strahlung gefährdeter sind als ihre Artgenossen mit gedeckt farbigem Gefieder und dass es auch 20 Jahre nach dem Reaktorunfall weniger Spinnen und Insekten innerhalb der Sperrzone gab. Oft wurden ihre Methoden oder die Schlüsse, die sie aus ihren Ergebnissen zogen, kritisiert – häufig ging es dabei um die Auswahl der Gebiete ihrer Feldstudien, die nicht selten außerhalb der eigentlichen Sperrzone lagen. Doch mindestens genauso heftig fiel die regelmäßige (und berechtigte) Kritik von Møller und Mousseau an den Wissenschaftlern aus, die die These vertreten, dass der GAU keine besonders negativen Einflüsse auf die Tierdichte gehabt hätte: "Es gibt keine quantitativ nachvollziehbaren Statistiken, die das beweisen könnten."
Die erste richtige, langfristige Statistik
Bis Ende 2015 stimmte das auch – es waren vielmehr gesammelte individuelle Beobachtungen von Menschen wie Sergei Gaschak, die suggerierten, dass zusätzlich zu den ohnehin stabilen Tierpopulationen immer mehr und vor allem seltene Tiere das Gebiet um den Unglücksort besiedelten. Im Oktober 2015 jedoch publizierte ein internationales Forscherteam um Jim Smith von der University of Portsmouth in England eine Studie, die dem Anspruch der quantitativen Analyse der Tierpopulationen extrem nahe kommt.
Bei dem untersuchten Gebiet handelt es sich um den belarussischen Teil der Sperrzone, der mit 2165 Quadratkilometern ziemlich genau die Hälfte davon ausmacht. Auch die Strahlenbelastung ist mit der des ukrainischen Teils vergleichbar. Die Wissenschaftler kombinierten die Daten von unterschiedlichen Zählungen, führten neue durch und verglichen die Ergebnisse mit den Zahlen von vier nahe liegenden Nationalparks, die nach Tschernobyl nicht kontaminiert wurden. "Wir behaupten nicht, dass wir genau wissen, wie viele Tiere es tatsächlich gibt. Die Daten stammen aus unterschiedlichen Zähltechniken. In den 1990er Jahren machte man das aus Helikoptern, nach 2000 orientierte man sich an der Anzahl der Wildtierspuren im Schnee. Auf ganz präzise Zahlen zu kommen, ist schwer – aber es reicht erstmals, die Populationsdichte nachzuvollziehen und wie sie sich in den letzten 20 Jahren geändert hat", erklärt Jim Smith.
Mit den gesammelten Daten wurden unterschiedliche Hypothesen getestet, mit denen die Wissenschaft zu erklären versucht, wie die Wildtiere in der Sperrzone auf die Auswirkungen einer derartigen nuklearen Katastrophe reagieren. Zum einen, dass die Populationen Jahre nach der Katastrophe zunächst abnahmen, zum anderen, dass die Tierdichte in unkontaminierten Gebieten höher sein müsste, und schließlich, dass die Stärke der Strahlungsbelastung direkt mit niedrigeren Populationszahlen zusammenhängt.
"Wissen wir, ob die großen Säugetiere deswegen mehr geworden sind, weil es keine Menschen um Tschernobyl gab? Nein!"Anders Møller
Letztlich bewahrheitete sich keine der Hypothesen. Die Populationen nahmen nicht nennenswert ab, sondern stabilisierten sich zehn Jahre nach dem Unfall. In den frühen 1990er Jahren flohen messbar viele Tiere aus den umliegenden Ländern in die Sperrzone – wahrscheinlich eine Konsequenz aus dem Fall der Sowjetunion, der durch die Verarmung der ländlichen Gegenden auch dazu führte, dass für die Pflege des Wildtierbestands keine Mittel mehr übrig waren.
Nach Meinung von Jim Smith "profitieren Tiere davon, dass sie in dem Gebiet weder gejagt noch durch land- oder forstwirtschaftliche Faktoren gestört werden". Natürlich heiße das nicht, dass die akute Strahlenbelastung keinen Effekt auf die Tiere hätte. Nur steckten Tierpopulationen den Verlust mehrerer erkrankter oder gestorbener Individuen besser weg als beispielsweise Menschen – so hart das klänge.
Eine Einigung scheint dennoch nicht in Sicht
Jim Smith teilt eine lange Tradition mit Anders Møller und Timothy Mousseau: das (meist negativ ausfallende) Evaluieren der Veröffentlichungen der anderen. Doch diesmal freut sich Timothy Mousseau über die vorliegende Studie Smiths: "Das ist eine sehr positiv zu bewertende Entwicklung, um auf Dauer besser potenzielle Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt untersuchen zu können. Allerdings lässt sich durch diese Studie nicht aussagen, wie sich Strahlung auf Fortpflanzung, Überleben oder die allgemeine Gesundheit der Tiere genau auswirkt."
Møller hingegen sieht darin keinen Beweis dafür, dass die Sperrzone ein besonderer Zufluchtsort ist. Die Populationen von großen Säugern hätten auch in Polen, dem Alpengebiet und Russland zugenommen. "Und wissen wir, ob die großen Säugetiere wie Rotwild, Elche oder Wildschweine deswegen mehr geworden sind, weil es keine Menschen um Tschernobyl gab? Nein!" Ein Problem, das einem Kompromiss zwischen den beiden Seiten im Weg steht, wird immer sein, dass es keinerlei Daten über die Menge, die Vielfalt und den Zustand der Tiere in der Sperrzone aus dem Hut zaubern kann, die aus der Zeit stammen, in welcher der Rote Wald noch Wermut-Wald hieß. Der direkte Vergleich wird also immer fehlen.
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