Tschernobyl: Der Wald erinnert sich
Was einmal in die Luft geht, kommt irgendwann auch wieder herunter. Am 26. April 1986 drangen aus dem geborstenen Dach von Reaktorblock vier des sowjetischen Kraftwerks Tschernobyl radioaktive Nuklide und verbreiteten sich. Der Wind blies die Facht zunächst über Russland und die Gebiete der heutigen Ukraine und Weißrusslands. Belastete Wolken kreuzten Finnland und Schweden und erreichten schließlich Ost- und Westdeutschland. Bis heute liegen in den hier zu Lande betroffenen Böden nicht zerfallene Überreste jener Tage vor 30 Jahren. Während Landwirte damit nur kurzfristig beschäftigt waren, sind die Spuren des Fallouts in einigen Wäldern bis heute erstaunlich gut messbar.
Drei Tage nach der Explosion erreichte zunächst eine Wolke von Osten her die DDR. Es gab wegen freundlichen Wetters aber kaum Niederschläge. Erst Anfang Mai setzte vor allem über dem Süden und in höheren Lagen der Bundesrepublik ergiebiger Regen ein. Entsprechend verteilten sich auch die radioaktiven Nuklide recht unregelmäßig über die Böden. Weite Teile der Nordhälfte Deutschlands blieben von erhöhten Messwerten verschont. Südlich einer Linie zwischen Ulm und Regensburg gab es radioaktive Niederschläge. Vereinzelt landeten im Bayrischen Wald vermehrt Radionuklide, teilweise auch im Thüringer Wald, auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald.
Für Landwirte war der radioaktive Fallout vor allem direkt nach dem Unfall von Tschernobyl ein Problem. Die Milch aus den betroffenen Gebieten Bayerns wurden 1986 durch belastetes Futter sogar zum Politikum. Zu Molkepulver verarbeitet, wechselte eine Menge von 242 Eisenbahnwaggons mehrfach den Besitzer und lagerte zwischenzeitlich sogar in einem atomaren Zwischenlager. Die Bundesregierung sah sich gezwungen, allzu stark mit Zäsium belastete Molke aufzukaufen. Die Kosten der Molke hatte sich vervielfacht, bis fast drei Jahre später ein Verfahren gefunden war, das Zäsium aus dem Pulver abzutrennen, um die Molke gereinigt zumindest als Dünger auf Felder ausbringen zu können.
Insgesamt hielt sich die Belastung landwirtschaftlicher Produkte aus Deutschland allerdings in Grenzen, was an der Zusammensetzung des Fallouts lag. Denn was aus den Wolken regnete, waren vor allem die flüchtigsten Zerfallsprodukte aus dem Reaktorkern mit eher kurzen Zerfallszeiten. Während schwere Kerne wie Uran und Plutonium fast ausschließlich im Umfeld Tschernobyls niedergingen, schafften es das Leichtmetall Zäsium in Form von Aerosol-Kügelchen und das leicht zu verdampfende Jod über die Atmosphäre bis nach Deutschland. Das freigesetzte Jod-131 war mit einer Halbwertszeit von wenigen Tagen schnell zerfallen. Dagegen zerfällt Zäsium-134 erst nach fünf Jahren zur Hälfte und belastete somit manche süddeutsche Äcker mäßig. Trotzdem war die Belastung in den meisten Lebensmitteln schon nach mehreren Monaten stark gesunken.
Obwohl Zäsium eher langsam zerfällt, kann es auf Ackerböden vergleichsweise schnell verschwinden: Aus der obersten Bodenschicht wird das Nuklid mit dem Regenwasser rapide ausgewaschen. "Was dann noch im Boden verbleibt, wird sehr effizient an die Oberflächen der Tonminerale angelagert oder sogar eingebaut, weil sie eine für Zäsium passende Sandwichstruktur bieten", sagt Georg Steinhauser vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Universität Hannover. Dieses gebundene Zäsium ist für Wurzeln kaum noch erreichbar.
Mysterium am Waldboden
Ein Teil des häufigsten Isotops aus dem Fallout bleibt: Zäsium-137. Seine Halbwertszeit liegt bei 30 Jahren, die gerade erst abläuft. Das heißt, die Hälfte des Metalls steckt vor allem noch in Waldböden. Denn die werden nicht gepflügt und nur wenig ausgewaschen. Im Gegenteil: Im Wald funktioniert das Recycling sehr gut. Pflanzen, Tiere und Pilze geben das Zäsium zwar nach ihrem Tod ab. Aber wenn Kadaver und Pflanzenteile verwesen, werden sie von Bodenorganismen zersetzt und von Pflanzen und vor allem Pilzen wiederum als Nährstoffe verwendet. Der Kreislauf beginnt von vorn.
Dabei nehmen nicht alle Arten gleich viel Zäsium auf. Allein verschiedene Pilzarten akkumulieren das Element sehr unterschiedlich. Während etwa Birkenpilze oder Semmelstoppelpilze aus Risikoregionen immer wieder stärker belastet sind, bleiben getestete Parasolpilze heute fast immer unter den Grenzwerten. In Blattpflanzen ist die Aktivität in den letzten 30 Jahren sogar schon fast komplett abgesunken. Einem aktuellen Bericht des Bayerischen Landesamts für Umwelt zufolge zeigen Waldbeeren heute nur noch ein Bruchteil ihrer ursprünglichen Belastung. In den letzten drei Jahren war in Bayern keine der getesteten Erd-, Preisel- oder Heidelbeeren über dem strengen Grenzwert für Säuglingsnahrung. Entsprechend sind auch blattfressende Tierarten wie Rehe und Hirsche selbst in Risikoregionen nur noch selten mit Zäsium-137 belastet.
"Hier haben wir Regionen, in denen vereinzelt Wildschweine stärker belastet sind als in den 1980er Jahren"Georg Steinhauser
"Wildschweine sind für uns dagegen ein Mysterium", sagt Georg Steinhauser. Denn unter den erlegten Tieren sind immer noch einige schwer mit Zäsium-137 belastet. Vor allem aber der zeitliche Trend erscheint verwirrend: Steinhauser analysierte die Belastung geschossener Wildschweine über die Jahrzehnte und verglich sie mit Messwerten von Tieren aus der japanischen Präfektur Fukushima. Der hiesige durchschnittliche Gehalt von Zäsium-137 sei in den letzten 30 Jahren gleich geblieben oder sogar leicht angestiegen. Spitzenreiter ist ein 2013 in der Oberpfalz im Landkreis Cham erlegtes Wildschwein. Das Tier sei mit 9800 Becquerel pro Kilogramm sogar rund 20 Prozent schwerer belastet als das höchstkontaminierte Wildschwein aus der Präfektur Fukushima. "Hier haben wir Regionen, wo vereinzelt Wildschweine stärker belastet sind als in den 1980er Jahren", sagt Steinhauser. Und das, obwohl Bayern rund 1400 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt und nun schon über die Hälfte des Zäsiums im Boden zerfallen ist.
Die Ursachen dafür lassen sich auch wegen der Lebensweise von Wildschweinen schwer aufklären. Sie sind als Allesfresser in der Lage, ihre Nahrungsbasis schnell umzustellen. Solange sie am Waldboden noch Eicheln oder Bucheckern finden, ist ihre Kost zäsiumarm. Auch Feldfrüchte wie Mais sind eine beliebte Futterquelle, solange sie auf den Äckern stehen. Zieht sich aber ein Winter in die Länge oder ist der Boden dauerhaft schneebedeckt, beginnen die Tiere zunehmend nach Nahrung zu graben. Auch wenn durch zu geringe Jagdquoten die Population stark ansteige, könnte der Druck auf Nahrung im Waldboden zunehmen.
Spurensuche bei Wildschweinen
Weil bei der Zäsiumbelastung in der Natur die physikalische Halbwertszeit nicht immer das ganze Bild zeigt, sprechen Ökologen auch von der biologischen Halbwertszeit. Zwar zerfällt ein einzelnes Zäsiumisotop nach physikalischen Regeln. Aber ein Tier kann etwa durch wechselnde Nahrungsquellen in seltenen Fällen immer mehr Zäsium-137 anreichern. Und Wildschweine können sich spielend in Tiefen von neun bis zwölf Zentimetern wühlen, wo in Risikoregionen heute noch der Großteil des Zäsiums steckt: Die Tiere gehen auf die Suche nach schmackhaften Pilzen wie den so genannten Hirschtrüffeln, die Metalle wie Zäsium aus dem Boden geradezu aufsaugen. Aber auch zäsiumaffine Flechten oder Würmer gehören dann zur Kost.
Ob sich aus den vorhandenen Daten aber überhaupt ein Trend ableiten lässt, bezweifeln die Behörden teilweise. Das in Bayern für Messungen zuständige Landesamt für Umwelt nimmt pro Jahr 1800 Stichproben aus Gewässern, Böden, Pilzen sowie pflanzlichen und tierischen Produkten. Aus den letzten drei Jahren finden sich in dem öffentlich zugänglichen Datensatz gut 700 getestete Wildschweine, von denen gerade 35 Tiere über dem gesetzlichen Grenzwert für Nahrungsmittel liegen. "Die Datenmenge reicht für eine statistisch belastbare Aussage über eine Abnahme der Aktivität allerdings nicht aus", teilt das Landesamt mit. Das Bundesinstitut für Risikobewertung schrieb dagegen 2011 in einer Broschüre (PDF)über die Folgen von Tschernobyl, dass bei Wildschweinen "nach einer stetig geringer werdenden Abnahme und einer Stagnation seit 1995 eine erneute Aktivitätszunahme beobachtet werden kann."
Der Pressesprecher des Deutschen Jagdverbands Torsten Reinwald sieht in der vereinzelt starken Belastung derweil kein großes Problem, schon weil sich die erhöhten Messwerte auf Teile der Mittelgebirge in Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen beschränken. "Es gibt dort wahrscheinlich kein Tier, das nicht unter einen Geigerzähler kommt", sagt Reinwald. In den bekannten Fallout-Regionen seien Messstationen installiert, in denen Wildschweine regelmäßig beprobt werden. Und das Bundesinstitut für Risikobewertung will auch nicht per se davon abraten, sich gelegentlich eine heimische Wildsau oder ein Pilzgericht zuzubereiten: Eine Pilzmahlzeit mit 200 Gramm höher kontaminierten Semmelstoppelpilzen aus Südbayern hätte selbst nur eine Strahlenbelastung von 0,01 Millisievert zur Folge – gerade fünf Prozent der jährlichen natürlichen Strahlendosis in Deutschland.
Warum aber die Zahl stärker belasteter Wildschweine aus Risikogebieten bis heute kaum zurückgeht, bleibt weiter ein Rätsel. Georg Steinhauser sieht eine der möglichen Erklärungen auch im Wildschwein selbst. "Irgendwo in dessen Körper könnte es eine Senke für Zäsium geben", vermutet er. Der Physiker beginnt momentan ein Forschungsprojekt mit Veterinärmedizinern der Universität Wien, um die Organe erlegter Wildschweine genauer zu untersuchen.
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