Energiekrise: Was den Reservebetrieb von Atomkraftwerken kompliziert macht
Das Szenario von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck klang einfach: Die drei verbleibenden Kernkraftwerke in Deutschland – Emsland, Isar-2 und Neckarwestheim II – produzieren ab Ende 2022 keinen Strom mehr, wie es das von der früheren schwarz-gelben Bundesregierung verabschiedete Atomgesetz vorsieht. Sollte es hingegen im Winter 2023 zu einer Stromknappheit kommen, vor der zum Beispiel die vier großen Stromnetzbetreiber nach einem Stresstest warnen, werden die Reaktoren der beiden Kraftwerke Isar-2 und Neckarwestheim II bei Bedarf kurzzeitig wieder angeschaltet.
»Reservebetrieb« nennt der Minister das Konzept, das ihm alle Möglichkeiten offenhalten würde: Einerseits liefert der Grünen-Politiker damit den lange ersehnten Atomausstieg zum Ende des Jahres, auf den viele in seiner Partei und in der Umweltbewegung hinfiebern. Andererseits könnte man ihm nicht vorwerfen, einen Blackout riskiert zu haben. Sollten mangels Atomstrom Anfang 2023 doch akute Versorgungsengpässe drohen, ließe sich ein kurzfristiger Weiterbetrieb der Anlagen wohl selbst gegenüber den kompromisslosen Atomkraftgegnern rechtfertigen. Und spätestens Mitte April wären die Brennelemente in den Reaktorkernen beider Anlagen ohnehin erschöpft.
Mit erschöpftem Brennstoff können Reaktoren nicht neu starten
Doch Reaktortechnik und Sicherheitsauflagen machen Habeck nun einen Strich durch den Plan für einen derartigen Reservebetrieb: Experten und dem Bundesumweltministerium zufolge könnten Isar-2 und Neckarwestheim II nicht einfach in weitgehend abgebranntem Zustand wieder zur Stromproduktion genutzt werden. Die Reaktorkerne müssten neu bestückt werden – mit leistungsfähigeren Brennelementen aus Reservebecken.
Wie stark die Brennstäbe in den verbleibenden deutschen Kernkraftwerken bereits erschöpft sind, zeigte am 19. September die Mitteilung des Bundesumweltministeriums über ein leckes Ventil im Kernkraftwerk Isar-2. Der Betreiber PreussenElektra habe die bayerischen Behörden und auch die Bundesregierung darüber bereits in der vergangenen Woche informiert. Vor Ende 2022 sei eigentlich keine Reparatur notwendig, für einen möglichen Fortbetrieb 2023 aber schon. »Um über den 31. Dezember 2022 hinaus für einen Leistungsbetrieb zur Verfügung zu stehen, muss laut PreussenElektra ein Stillstand mit einer Reparatur erfolgen«, teilte das Bundesumweltministerium mit. Dieser Stillstand müsse laut Betreiberangaben schon im Oktober erfolgen, »da die Brennelemente des Reaktorkerns bereits im November eine zu geringe Reaktivität hätten, um die Anlage aus dem Stillstand heraus dann wieder hochzufahren«.
Mit dieser Angabe bestätigten sich Warnungen des Chefs der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) Uwe Stoll, der zuerst bei »RiffReporter« und zehn Tage später in der »Süddeutschen Zeitung« vor einem Hochfahren von Reaktoren mit erschöpften Brennelementen gewarnt hatte. Die GRS ist eine wichtige Instanz für die Reaktorsicherheit. Sie gehört zu je 46 Prozent dem Bund und dem TÜV, die übrigen acht Prozent teilen sich Bayern und Nordrhein-Westfalen. Stoll zufolge seien in Deutschland noch nie Reaktoren mit stark erschöpften Brennelementen wieder hochgefahren worden. Dass dieser Zustand bei Isar-2 nun bereits im November eintreten würde, wurde erst durch die Mitteilung des Bundesumweltministeriums vom Montag bekannt.
Erfahrungswerte fehlen
»Eine solche Art des Wiederhochfahrens hatten wir schlichtweg noch nicht, damit gibt es in Deutschland keine Erfahrungen«, sagt Stoll. Betriebserfahrung zähle zu den wichtigsten Dingen in der Kerntechnik. Gebe es die nicht, bestehe ein Risiko.
Kernreaktoren funktionieren anders als etwa Kohle- und Gaskraftwerke, bei denen Brennstoff kontinuierlich nachgefüllt und verbrannt wird. Atomkraftwerke werden in der Regel nur einmal pro Jahr im Rahmen einer so genannten Revision heruntergefahren, bei der der Reaktorkern neue Brennelemente erhält und dann mit hoher Leistungsfähigkeit wieder ans Netz geht.
Das Kernkraftwerk Isar-2 in der Nähe von Landshut wird von der Eon-Tochter PreussenElektra betrieben. Es ging 1988 in Betrieb und gehört zu den leistungsstärksten Reaktoren der Welt. In den Vorjahren lieferte es rund 12 Prozent des in Bayern verbrauchten Stroms. Neckarwestheim Block II, südlich von Heilbronn gelegen, gehört dem Stromkonzern EnBW und ging 1989 ans Netz. Die Anlage deckte 2021 nach Betreiberangaben knapp 17 Prozent des Stromverbrauchs von Baden-Württemberg.
»Wir wissen nicht, wie sich der Reaktor bei diesem Prozess verhält«Uwe Stoll, Experte für Reaktorsicherheit
Werden Druckwasserreaktoren unter normalen Bedingungen wieder hochgefahren, ist die Energieleistung von frischem Uran so groß, dass die Kernreaktion gebremst werden muss. Dazu werden die frei werdenden Neutronen mit Borsäure eingefangen.
Sollen Isar-2 und Neckarwestheim II im Reservebetrieb weiterlaufen, wären sie jedoch in einem grundsätzlich anderen Zustand als sonst nach einer Revision. Ihre Brennelemente sind erschöpft, und für den Neustart darf das Kühlwasser am besten gar keine bremsende Borsäure enthalten. Dazu müsste der Stoff vor dem Neustart des Reaktors aufwändig dem Kühlwasser entzogen werden. »Wir wissen nicht, wie sich der Reaktor bei diesem Prozess verhält, ob es zum Beispiel zu Schwingungen kommt«, sagt Reaktorexperte Stoll. Ein weiteres Mitglied der Reaktorsicherheitskommission, das namentlich nicht genannt werden will, teilt diese Einschätzung.
Das Szenario eines simplen Reservebetriebs ist vom Tisch
Die Warnungen von Experten haben nun dazu geführt, dass Habecks Szenario eines simplen Reservebetriebs bei den Gesprächen zwischen Bundesregierung und Betreibern vom Tisch genommen wurde. »Dass die beiden für den Notfallbetrieb vorgesehenen Atomkraftwerke mit dem aktuellen Kern zum Jahreswechsel 2022/23 heruntergefahren werden und dieser Kern dann zu einem späteren Zeitpunkt angefahren wird, ist keines der Szenarien, die derzeit zwischen der Bundesregierung und den Betreibern als mögliches Szenario besprochen werden«, erklärte ein Sprecher des für Reaktorsicherheit zuständigen Bundesumweltministeriums auf Anfrage.
Das von der Grünen-Politikerin Steffi Lemke geführte Umweltministerium arbeitet an den Plänen für einen möglichen Einsatz von Isar-2 und Neckarwestheim II im Winter aktiv mit. »Jetzt geht es darum, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Kraftwerke über den 31. Dezember 2022 hinaus im Notfall in den Leistungsbetrieb gehen können«, sagte ein Sprecher Lemkes.
Doch mit der Mitteilung von PreussenElektra, dass Isar-2 schon im Oktober zur Reparatur eines Ventillecks vorübergehend stillgelegt werden müsste, wenn es 2023 zur Stromproduktion zur Verfügung stehen soll, hat sich die Lage nun grundsätzlich geändert. Nur bei Neckarwestheim II ist nun denkbar, dass der Reaktor einfach über das Jahresende hinaus »durchfährt«, wie es das Bundesumweltministerium nennt. Die Anlage war erst im Juni in Revision und auch die alle zehn Jahre anstehende periodische Sicherheitsüberprüfung ist erst wenige Jahre her.
In Isar-2 ist die Lage brisant, weil dort die periodische Sicherheitsüberprüfung schon seit 2019 überfällig ist
Anders sieht es bei Isar-2 aus. Das Ventilleck stellt nach Ansicht von Experten zwar keine Sicherheitsgefahr dar. Druckventile in einem Reaktor unterliegen einem ganz normalen Verschleiß und es wird kontinuierlich gemessen, wie viel Dampf durch undichte Stellen austritt. Erst wenn dabei ein bestimmter Schwellenwert überschritten wird, muss der Betreiber handeln. Überraschend ist an dem Vorgang offenbar wenig. Bis zum Jahresende könnte die Anlage nach Betreiberangaben problemlos durchlaufen.
Doch um für einen möglichen Versorgungsengpass auch 2023 Strom produzieren zu können, müsste sie schon jetzt repariert werden. Denn schon im November könnte man sie mit erschöpften Brennelementen nicht einfach wieder hochfahren. In Isar-2 ist die Lage obendrein brisant, weil dort die periodische Sicherheitsüberprüfung schon seit 2019 überfällig ist und nur wegen des nahenden Ausstiegsdatums auf sie verzichtet wurde.
Ein simples Durchfahren über das Jahresende hinaus ist für Isar-2 also keine Option mehr. Die Bundesregierung muss auf Grund der Reparatur vielmehr schon jetzt entscheiden, ob sie will, dass der Reaktor für einen Betrieb 2023 ertüchtigt wird und nicht erst im Dezember, wie sich Wirtschaftsminister Habeck das gewünscht hat.
Ein mehrwöchiger Stillstand des Kraftwerks schon 2022 könnte für die Bundesregierung teuer werden. Wenn auf ihr Geheiß hin mehrere Wochen repariert wird, können die Betreiber in dieser Zeit keinen Strom verkaufen. Wird dann auch 2023 die Reserveleistung nicht in Anspruch genommen, müsste der Staat die Ausfälle begleichen.
Bei beiden Reaktoren muss zudem eine wichtige technische Grundsatzfrage geklärt werden: Wie kann man es vermeiden, dass die Brennelemente zu erschöpft sind, um den Reaktor sicher neu starten zu können, ob nach Reparatur, für einen Reservebetrieb oder nach einer anderweitigen Betriebsunterbrechung? Die Warnungen von GRS-Chef Stoll, dass noch nie Reaktoren mit derart ausgelaugten Kernen wieder angeworfen worden seien, sind jedenfalls in Berlin angekommen. Die Bundesregierung plant nun mit, dass die Reaktorkerne für einen Reservebetrieb neu zusammengebaut werden müssten.
Brennelemente, die neu gekauft werden müssten und die potenzielle Laufzeit erheblich verlängern würden, sollen dabei nicht zum Einsatz kommen. Stattdessen würde man auf Reserve-Brennelemente zurückgreifen, die in getrennten Becken schon im Reaktorkern liegen.
Reserve-Brennelemente ermöglichen längere Stromproduktion
Das Einsetzen von Reserve-Brennelementen hat in der öffentlichen Debatte um die Laufzeitverlängerung bisher kaum eine Rolle gespielt. Technisch ist es möglich, weil bei den jährlichen Revisionen manchmal Brennelemente entnommen werden, die noch gar nicht vollständig abgebrannt sind. Das kann nötig sein, damit sich im Kern nicht zu viel frisches, spaltbares Uran ballt und es zu einer Überhitzung kommt.
Während neu gekaufte Brennelemente vor ihrem Einsatz außerhalb des Kerns an speziellen Orten auf dem Kraftwerksgelände gelagert werden, werden die Reserve-Brennelemente im Reaktorkern aufbewahrt, um im Rahmen von Revisionen einen ideal konfigurierten Kern zusammenstellen zu können. Dabei werden frische Brennstäbe mit bereits benutzten Brennstäben kombiniert und so räumlich angeordnet, dass der Reaktorkern ohne Überhitzung optimale Leistung liefern kann. »Diese Optimierung (…) würde die Stromausbeute maximieren«, sagt Reaktorexperte und GRS-Chef Stoll. Damit könne man Neckarwestheim II statt nur bis Februar bis mindestens Ende März und Isar-2 statt nur bis Ende März bis Ende Juni »gut betreiben«.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck steckt letztlich gleich in einer mehrfachen Zwickmühle: Hält er hart am Atomausstieg zum 31. Dezember 2022 fest und kommt es zur Versorgungsnot, wird er einer aufgebrachten Öffentlichkeit als der Schuldige gelten – ob das nun, da der Energieengpass ursächlich von der durch Amtsvorgänger verschleppten Energiewende herrührt, sachlich gerechtfertigt ist oder nicht. Geht hingegen etwas schief und kommt es zu einem Störfall, ist auch hier klar, wer den Kopf hinhalten muss.
Werden die Anlagen 2023 tatsächlich in den Reservebetrieb versetzt und dafür zuerst stillgelegt, bestehen zudem zwei Risiken: Jeder neu zusammengebaute Reaktorkern muss vor dem Neustart des Reaktors von den Atombehörden abgenommen und genehmigt werden. Bei der unvermeidlichen Sicherheitsüberprüfung könnten Probleme auftauchen. Die Anlage bleibt dann zwangsweise für immer vom Netz, obwohl auch Habeck sie eigentlich dringend in der Stromproduktion haben will.
»Für einen sicheren Betrieb von Kernkraftwerken braucht es eine gute Planung und Vorbereitungen bis ins letzte Detail«Uwe Stoll
Und selbst wenn die Prüfer grünes Licht geben, könnte dem Minister von Seiten von Union und FDP die Debatte ins Haus stehen, ob es angesichts der erheblichen Aufwände und Kosten für die Umrüstung der Kerne sowie der vorhandenen Stromengpässe nicht sinnvoller sei, das Potenzial der Anlagen zur Stromerzeugung voll ausnutzen – die Atomkraftnutzung also möglicherweise bis Juni zu verlängern. Atomkraftgegner in den eigenen Reihen würden eine Aufrüstung des Kerns dagegen wahrscheinlich als Affront und Verrat am Atomausstieg werten.
Die Zeit für die Entscheidung drängt, denn neben den Anlagebetreibern wünscht sich schließlich auch die durch hohe Energiepreise verunsicherte Öffentlichkeit Klarheit darüber, wie die Regierung durch den Winter kommen will. »Für einen sicheren Betrieb von Kernkraftwerken braucht es eine gute Planung und Vorbereitungen bis ins letzte Detail«, sagt auch GRS-Chef Uwe Stoll. Er warnt: »Wenn man in der Kerntechnik etwas hoppladihopp macht, ist das riskant.«
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