Epidemie in Peru: Was steckt hinter dem Guillain-Barré-Syndrom?
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS), an dem zwischen Januar und Juli 2023 in Peru 180 Menschen erkrankt sind, ist kein neues Phänomen. Im Gegenteil: Weltweit erkranken im Durchschnitt jedes Jahr ein bis zwei von 100 000 Menschen an den mysteriösen Lähmungen. Allerdings ist die Zahl der Fälle in Peru in der ersten Jahreshälfte 2023 deutlich höher, als man erwarten würde – der Grund dafür ist bisher unbekannt.
Das Landrief wegen der ungewöhnlich vielen Kranken einen Gesundheitsnotstand aus, was tatsächlich etwas weniger dramatisch ist, als es klingt. Durch diesen Verwaltungsakt kann der Staat allerdings besser Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit ergreifen, zum Beispiel ihre Ausbreitung gezielt überwachen oder Erkrankten Medikamente zur Verfügung stellen.
Forscherinnen und Forscher beobachten schon länger, dass GBS immer mal wieder gehäuft auftritt. Auch Peru verzeichnete bereits 2019 einen deutlichen, sehr ungewöhnlichen Anstieg der Fallzahlen. Solche Häufungen hängen wahrscheinlich mit der wichtigsten Ursache des Guillain-Barré-Syndroms zusammen: Hinter den meisten Fällen von GBS steckt eine vorhergehende Infektion. Etwa 60 bis 80 Prozent der Erkrankungen, schätzen Fachleute, gehen auf Viren oder Bakterien zurück.
Viele Viren und Bakterien können GBS auslösen
Tatsächlich ist eine ganze Liste von Erregern bekannt, die die sehr seltene, aber ernste Erkrankung auslösen können. Unter den Viren sind vor allem das Cytomegalievirus (CMV) und das Epstein-Barr-Virus, das Pfeiffersches Drüsenfieber auslöst, sowie HIV für viele GBS-Fälle verantwortlich. Daneben können aber ebenso einige Tropenkrankheiten GBS auslösen, darunter das sich auch in Deutschland verbreitende Westnilvirus, Sars-CoV-2 und in den vergangenen Jahren besonders das Zikavirus. Nach Impfungen, zum Beispiel mit dem Lebendimpfstoff gegen Gelbfieber und Vektorimpfstoffen gegen Covid-19, sind ebenfalls einzelne GBS-Fälle aufgetreten.
Von einigen bakteriellen Erregern wie Mycoplasma pneumoniae ist außerdem bekannt, dass sie mit GBS in Verbindung stehen können. Besonders bedeutend ist jedoch das Bakterium Campylobacter jejuni, eine der bedeutendsten Ursachen für Magen-Darm-Infekte weltweit. Bei mit diesem Erreger infizierten Menschen tritt GBS etwa 100-fach häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung. Bei einem großen Ausbruch von GBS in Peru im Jahr 2019 mit fast 700 Fällen vermuteten Fachleute ebenfalls eine Verbindung zu dem Bakterium.
Die Lähmungen, die für das Guillain-Barré-Syndrom typisch sind, beginnen meist einige Tage bis Wochen nach der ursprünglichen Infektion mit Taubheit und Kribbeln in den Händen, später treten Koordinationsstörungen und Lähmungen auf, die verschiedene Körperteile betreffen können.
Eine Autoimmunreaktion beschädigt die Nerven
Hinter den Symptomen stecken Schäden an den Nervenzellen. Dadurch können diese nur noch schlecht Signale zu den Muskeln leiten. Alles deutet darauf hin, dass dafür das Immunsystem selbst verantwortlich ist – das Guillain-Barré-Syndrom ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Immunzellen in einer überschießenden Reaktion körpereigenes Gewebe angreifen. In diesem Fall die Myelinscheiden, die die Fortsätze von Nervenzellen isolieren, sowie die Nervenzellen selbst.
Ursache der Autoimmunerkrankung ist ein als molekulare Mimikry bezeichneter Prozess. Dabei ähneln Bestandteile des Krankheitserregers körpereigenen Molekülen. So erzeugt die Immunreaktion auf Campylobacter jejuni Antikörper, die auch auf als Ganglioside bezeichnete Zellmembranbestandteile reagieren, die in Nervenzellen besonders häufig vorkommen. Welche Proteine bei Viren den Prozess auslösen, und auf welche körpereigenen Moleküle dieser dann zielt, ist bisher nicht im Detail bekannt – ebensowenig, warum bei manchen Menschen GBS ausbricht, bei der großen Mehrheit jedoch nicht.
Je nach Ausmaß der Schädigung verläuft GBS unterschiedlich schwer. In schweren Fällen erstreckt sich die Lähmung auch auf die Atemmuskeln und die Patienten müssen beatmet werden. Die meisten Betroffenen erholen sich wieder, aber ein Teil von ihnen, etwa zehn Prozent, trägt dauerhafte Nervenprobleme davon. Wie viele Menschen an der Krankheit sterben, schwankt stark und reicht von einem bis zu 13 Prozent; in Peru starben bisher vier Menschen daran.
Die genaue Ursache bleibt womöglich unbekannt
Unterschiede in den Erregerproteinen und damit auch dem körpereigenen Zielmolekül könnten womöglich auch erklären, dass es verschiedene Ausprägungen des Guillain-Barré-Syndroms gibt: einerseits die akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP), bei der Immunzellen die Ummantelung der Nervenzellfortsätze angreifen, und andererseits die akute motorische axonale Neuropathie (AMAN), bei der die Nervenfortsätze selbst angegriffen werden. Dabei scheint es einen Zusammenhang mit dem Erreger zu geben. Letztere Form tritt häufiger nach Infektion mit Campylobacter jejuni auf, während Menschen, die nach Zika oder Covid-19 an GBS erkranken, bevorzugt AIDP ausbilden.
Wird die Krankheit rechtzeitig erkannt, ist sie meistens gut heilbar. Die Therapie erfolgt häufig mit intravenösem Immunoglobulin (IVIG), einem Antikörperpräparat aus Spenderblut, mit dem man eine ganze Reihe von entzündlichen und Autoimmunerkrankungen behandelt. Auch Peru hat zur Behandlung der GBS-Erkrankten größere Mengen Immunglobulin geordert.
Welche Ursache hinter der aktuellen Häufung des Guillain-Barré-Syndroms in Peru steckt, ist noch unklar – und angesichts der großen Vielzahl der mit GBS in Verbindung stehenden Erreger auch sehr schwer herauszufinden. Die Häufung selbst könnte auf einen epidemisch auftretenden Erreger hindeuten und der Subtyp des GBS ebenso weitere Hinweise geben wie epidemiologische Daten und Befragungen der Betroffenen.
Wirklich sicher wird man es aber womöglich nie wissen: Viele der Infektionen, die das Guillain-Barré-Syndrom nach sich ziehen können, verlaufen vergleichsweise mild, nicht zuletzt die von Campylobacter verursachten Magen-Darm-Infekte. Auch beim großen peruanischen GBS-Ausbruch von 2019 ist der Auslöser bis heute nicht geklärt – Indizien deuten zwar auf das Bakterium, beweisen lässt sich das aber nachträglich nicht.
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