Tabus in der Wissenschaft: Worüber niemand gerne spricht
»Mein Name ist Kate Sweeny, und ich bin abgelehnt worden. Viele Male. Ich habe Manuskripte und Anträge eingereicht, die hart kritisiert wurden, mich für viele Stellen beworben, die ich nicht bekommen habe.« Sweeny hat ein Dutzend Preise gewonnen und ist Professorin für Psychologie an der University of California in Riverside; sie erforscht die Zusammenhänge zwischen Stress, Sorgen und Gesundheit. Doch lange hatte sie zu kämpfen: Manche ihrer Manuskripte seien nie gedruckt worden, einige erst beim fünften oder sechsten Versuch. Von 160 eingereichten Manuskripten hätte sie 75 direkt zurückbekommen, mit unmissverständlichen Anmerkungen wie »bitte nicht noch einmal versuchen«.
Über diese schmerzlichen Rückschläge berichtet Sweeny in einem ungewöhnlichen Kommentar, den zehn US-Psychologinnen und -Psychologen gerade gemeinsam in den »Perspectives on Psychological Science« veröffentlicht haben. Der gemeinsame Nenner der darin enthaltenen zehn Erfahrungsberichte: Selbstzweifel. Sie brechen damit ein Tabu, das keines sein sollte, wie die Gruppe um Lisa Jaremka fordert. »Die Wissenschaftskultur muss sich ändern.«
Den Grundstein legten einige von ihnen bei einem Symposium auf der diesjährigen Konferenz der Society for Personality and Social Psychology. Als sie dort von Ablehnungen, Selbstzweifeln und Burnout erzählten, hätten sie Tränen in den Augen der Fachkolleginnen und -kollegen gesehen. Vielen sei wohl bewusst geworden, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein seien.
Koautor Nick Rule gesteht, er habe sich als Sohn einer Arbeiterfamilie an einem Ivy League College wie ein Hochstapler gefühlt. Selbst als er die Karriereleiter längst erklommen hatte, habe er sich für nicht gut genug gehalten, habe seine Erfolge als Ausnahmen angesehen und nicht als Beweis für das eigene Können. Kollegin Brooke Vick stellt ironisch fest, sie fühle sich eigentlich nicht einmal würdig, zu diesem Kommentar über Versagen beizutragen: »Sogar die Fehlschläge meiner Koautoren sind beeindruckender als meine eigenen.«
Ein Lebenslauf der Fehlschläge
Dass man Niederlagen durchaus zur Schau stellen sollte, schlug die Bioinformatikerin Melanie Stefan schon 2010 in »Nature« vor. Sie bemängelte, dass der Lebenslauf von Wissenschaftlern stets nur Erfolge präsentiere, nicht aber die Fehlschläge und die Arbeit, die hinter diesen stecke. Der Vorschlag von Stefan, die inzwischen eine Professur an der University of Edinburgh innehat: »Schreibt einen Lebenslauf der Fehlschläge.« Er werde sechsmal so lang sein wie der übliche und auf den ersten Blick deprimierend. Doch er erinnere an den eigentlichen Kern des Wissenschaftlerdaseins.
Joshua Ackerman von der University of Michigan ist der Aufforderung im Anhang des aktuellen Kommentars gefolgt. Er listet auf: abgelehnte Forschungsarbeiten, Konferenzbeiträge, Anträge, Bewerbungen. Nur auf knapp drei Prozent seiner Bewerbungen, so rechnet er vor, habe er ein Angebot bekommen.
»Jede Ablehnung, die du erfährst, haben andere ebenso oder noch schlimmer erlitten«
Kate Sweeny, University of California in Riverside
Die wichtigste Erkenntnis für Sweeny, die sich selbst als »Profi im Abgelehntwerden« bezeichnet: Eine Ablehnung zu bekommen, sei kein Versagen. Man möge Kritik sorgfältig überdenken, doch auf sich vertrauen und sich etwas Zeit geben, bevor man weitermache. Die Scham vergehe, wenn man sie mit Kollegen und Freunden teile. »Jede Ablehnung, die du erfährst, haben andere ebenso oder noch schlimmer erlitten.«
Auch wenn die zehn allesamt der Wissenschaft treu geblieben sind: Ihre Einsichten wollen sie nicht als Karrieretipps verstanden wissen. Es geht ihnen um eine Kritik an den Bedingungen des Wissenschaftsbetriebs; dieser müsse sich ändern. Fachzeitschriften sollten auf unnötige negative Rückmeldungen verzichten und Gutachter sich als anonyme Mentoren begreifen, nicht als »Gatekeeper« der Wissenschaft. Wer in der Hierarchie oben stehe, möge eigene Schwierigkeiten offenbaren, Work-Life-Balance vorleben und neue Normen etablieren.
Schöne Gedanken formuliert die Gruppe um Sweeny: Es sei ein Mythos, dass man in bestimmter Weise aussehen oder reden müsse oder dass man einem bestimmten Prototyp von Professor entsprechen müsse. Es gebe schließlich viele verschiedene Arten, erfolgreich zu sein. Doch Versuche, den Wissenschaftsbetrieb humaner zu machen, gibt es ebenfalls zuhauf. Dass sich dort etwas grundsätzlich geändert hätte, hat man bisher in den führenden Fachjournals nicht lesen dürfen. Aber vielleicht gilt auch hier: Es braucht viele Anläufe, bis sich die Anstrengungen auszahlen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.