»Das Tor Europas«: Die Geschichte der Ukraine – ein Streben nach Unabhängigkeit
Ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein Ende des Krieges nicht abzusehen. Klar ist aber, dass Putin ein entscheidendes Kriegsziel nicht erreichen konnte: Die Ukraine ist immer noch ein unabhängiges Land; und im Widerstand gegen Russland wahrscheinlich vereinter als je zuvor. Der Harvard-Historiker Serhii Plokhy hat mit »The Gate of Europe« die Geschichte dieses Landes aufgeschrieben. Jetzt liegt die deutsche Übersetzung vor – »Das Tor Europas« –, die im Vorwort auch auf den aktuellen Krieg eingeht.
Das Buch berichtet hauptsächlich von Ereignissen, die zum Teil viele Jahrhunderte zurückliegen. Es ist also nicht seine primäre Aufgabe, den Krieg verständlicher zu machen, zumal es im Original 2015, also vor der aktuellen Eskalation, erschienen ist. Die eigentliche Erzählung setzt mit Herodot ein, der die Völker der nördlichen Schwarzmeerküste und der Steppen dahinter als Erster vor knapp 2500 Jahren beschrieben hat. Es treten auf die mythischen Skythen, Reiternomaden, die in der pontischen Steppe lebten und den Handel zwischen griechischen Kolonien und dem Hinterland beherrschten. In den Wirren der Völkerwanderung ziehen Hunnen, Bulgaren und Awaren durch die Gebiete, bis sich im sechsten Jahrhundert die ersten slawischen Stämme zwischen Donau und Dnjepr niederlassen. Im neunten Jahrhundert werden die Kiewer Rus zum ersten Mal erwähnt. Unter dem Einfluss skandinavischer Fernhändler und lokaler Slawen hatte sich Kiew auf Grund seiner günstigen Lage zu einem Machtzentrum entwickelt, das bald darauf sogar Byzanz herausfordert.
Und doch finden sich gerade in der zweiten Hälfte des Buches wichtige Motive für den aktuellen Konflikt. Das »Tor Europas« zeichnet die lange Tradition des Aufbegehrens der lokalen Bevölkerung gegen die Fremdherrschaft nach: Bereits im 15. Jahrhundert rebellieren die Eliten der Rus gegen die Benachteiligung durch ihre katholischen polnisch-litauischen Herrscher. Ende des 16. Jahrhunderts bildet sich nördlich des Schwarzen Meers ein großes Herrschaftsgebiet der Kosaken heraus, aus dem nach einem Aufstand gegen die polnisch-litauische Adelsrepublik 1648 ein staatenähnliches Gebilde, das Hetmanat, hervorgeht.
Spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelt sich eine ukrainische Nationalbewegung: 1798 entsteht die Enejida, die erste literarische Dichtung in modernem Ukrainisch. 1818 folgt die erste Grammatik der ukrainischen Sprache und 1847 mit der »Genesis des ukrainischen Volkes« das erste politische Programm für die nationale Unabhängigkeit.
Mit dem zunehmenden Einfluss des Zarenreiches tritt seit dem 19. Jahrhundert der Konflikt zwischen russischem Hegemonieanspruch und ukrainischem Unabhängigkeitsbestreben immer deutlicher zu Tage: 1863 werden im russischen Herrschaftsgebiet ukrainische Publikationen verboten, 1876 folgt die Einschränkung der ukrainischen Sprache. Der erste Versuch einer ukrainischen Unabhängigkeit nach Ende des Zarenreiches scheitert, weil 1918 bis 1920 die Kriege gegen Polen und Russland verloren gehen. Auch innerhalb der Sowjetunion versucht die Ukraine ein Mindestmaß an Selbstständigkeit zu erlangen; viele Bauern widersetzten sich der Zwangskollektivierung. Durch den Widerstand sah Stalin die Sowjetunion in ihrer Existenz bedroht. Es folgte der Holodomor, die absichtlich herbeigeführte Hungersnot, der rund vier Millionen Ukrainer zum Opfer fielen. (Das EU-Parlament hat Ende 2022 den Holodomor als Völkermord anerkannt.)
Staatliche Unabhängigkeit erlangt die Ukraine erst 1991: Bei den ersten freien Wahlen stimmten 90 Prozent der Wähler und Wählerinnen für die Selbstständigkeit und versetzen damit der Sowjetunion den endgültigen Todesstoß. Mehrheiten gab es übrigens auch in der Region Donezk (83 Prozent) und auf der Krim (54 Prozent). Die ukrainische Unabhängigkeit und die Weigerung der Ukraine, integraler Bestandteil der neu entstandenen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zu werden, werden in Russland immer noch als Affront aufgefasst. Die Einmischungen Russlands in die inneren Angelegenheiten der Ukraine bis hin zu der Annexion der Krim und dem Angriff im Februar 2022 sind also Versuche, die Ablösung der Ukraine um jeden Preis rückgängig zu machen.
Serhii Plokhy schreibt über all das ebenso lebendig wie detailliert. Eine ausführliche Zeittafel und ein Personenregister helfen bei der Orientierung. »Das Tor Europas« ist ein Buch, das dabei hilft, die aktuelle Konfrontation historisch einordnen zu können. Außerdem ist es das vielschichtige Porträt einer Nation, die mitsamt ihrer reichen Geschichte gerade von der Landkarte getilgt werden soll.
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