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»Der gute Vorfahr«: Von Kathedralendenken und Tiefenzeit

Roman Krznaric plädiert eindringlich dafür, den Horizont unseres Denkens und Vorstellens zu weiten. Nur so könnten wir das Scheitern unserer Zivilisation verhindern.
Eine gerenderte Erdkugel mit schwarzen Stiefelabdrücken vor einem wolkigen Himmel.

»Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?« Schon diese in Vorstellungsgesprächen beliebte Frage stellt uns häufig vor Herausforderungen, denken wir im Alltag doch meist in kürzeren Zeitspannen an die Zukunft. Aber wo sehen wir uns in zwanzig, dreißig Jahren?

Roman Krznaric kritisiert, dass in der heutigen Gesellschaft meist kurzfristiges Denken dominiere, etwa in unserem Konsumverhalten oder in politischen Prozessen. Infolgedessen gelinge es uns, so der Autor, aktuell nicht, auf Krisen wie Klimawandel, Pandemie, Verlust von Biodiversität oder wachsende Ungleichheit angemessen zu reagieren – und wir verpassen die Chance, uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Die Privilegierten und Mächtigen, so Krznaric weiter, reagieren oft spät auf Krisen – sie ergreifen erst dann die notwendigen Maßnahmen, wenn sie selbst etwas zu verlieren haben. Ob und wie wir unsere Gesellschaft hin zu einer »Zivilisation des langen Jetzt« wandeln können, werde darüber entscheiden, ob uns eine nachhaltige Transformation gelinge oder wir auf einen Zusammenbruch zusteuern. Daher seien wir alle gefragt, langfristiges Denken zu üben; es beginnt für Krznaric ab einem Horizont von etwa 100 Jahren – oder in dem Moment, da wir über unsere eigene Lebensspanne hinausdenken.

Vermächtnis als Praxis

Das Buch stellt sechs sich ergänzende Wege zum langfristigen Denken vor. Zunächst helfen uns Erfahrungen mit der »Tiefenzeit«, überhaupt erst zu begreifen, wie man langfristig denkt. Solche Erfahrungen stellen sich etwa über Begegnungen mit jahrhundertealten Bäumen oder den Blick ins Weltall ein. Dann ist es hilfreich, unser persönliches Vermächtnis in den Blick zu nehmen. Das setzt die Bereitschaft voraus, ohne Tabu Gespräche über den (eigenen) Tod zu führen. Das Vermächtnis ist dabei eher als tägliche Praxis denn als materielle Hinterlassenschaft zu verstehen. Weiterhin helfe der Gedanke an Generationengerechtigkeit: Wie werden unsere Handlungen die nächsten sieben Generationen beeinflussen? Die Planung von Projekten für die ferne Zukunft nennt Krznaric »Kathedralendenken« und führt überzeugende historische Beispiele an: von Bauten wie den römischen Aquädukten oder dem Ulmer Münster bis hin zu langfristig angelegten Prozessen wie der weltweiten Ausrottung der Pocken oder der Aufforstung unter der Herrschaft der Tokugawa-Shoguns in Japan. Ein ganzheitlicher Blick in die Zukunft müsse zudem bedenken, dass nichts ewig wachse und alle bisherigen Zivilisationen untergegangen seien (dies übrigens nach durchschnittlich 336 Jahren). Schließlich solle langfristiges Denken das übergeordnete Ziel immer im Blick behalten: das Gedeihen auf unserer einen Erde innerhalb der planetaren Grenzen. Das beinhalte Grundsätze wie Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft und die »Donut-Ökonomie«, bei der die begrenzten Spielräume nachhaltigen wirtschaftlichen Handelns über die Form eines Donuts visualisiert werden.

Der Autor hat in Politischer Soziologie promoviert und beschäftigt sich als Sozialphilosoph intensiv mit der Wirkung von Ideen auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Zudem engagiert er sich als Research Fellow der »The Long Now Foundation« und Mitglied des »Club of Rome« für langfristiges und nachhaltiges Denken und Handeln. Dieses Buch, ursprünglich 2020 während der Coronapandemie erschienen, ist international bereits ein Bestseller.

»Der gute Vorfahr« ist gut lesbar und verständlich geschrieben. Der Autor illustriert seine Thesen immer wieder über Alltagserfahrungen und vermittelt dabei Hintergründe aus Geschichte, Soziologie, Ökonomie und Politik. Schnell entsteht so beim Lesen die Frage, wie man selbst zu den nötigen Veränderungen beitragen kann.

Dazu schreibt Krznaric, wir sollten nicht fragen »Wie kann ich etwas bewirken?«, sondern »Wie können wir es bewirken?«. Der Autor ruft nicht zu Optimismus auf, aber dazu, hoffnungsvoll zu sein. Und er formuliert am Ende seines Buchs Anregungen für Gespräche, die dabei helfen können, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Letztlich geht es Krznaric weniger darum, konkrete Alltagstipps zu geben; vielmehr möchte er seine Leserinnen und Leser dabei unterstützen, das eigene Denken grundlegend zu verändern und andere mit auf den Weg der »Zeitrebellen« zu nehmen. Das mag für manche vielleicht etwas unbefriedigend sein, ist aber wohl der ehrlichere und nachhaltigere Ansatz.

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