Der Mathematische Monatskalender: Bonaventura Cavalieri (1598–1647)
Im Alter von 17 Jahren tritt der aus Mailand stammende Francesco Cavalieri in den Orden der Jesuaten ein; dabei fügt er den Vornamen Bonaventura hinzu (dies war der Vorname seines Vaters). Die Laienorganisation der Jesuaten war im 14. Jahrhundert gegründet worden, um durch besondere Werke der Nächstenliebe das Seelenheil zu erlangen: Pflege der Pestkranken und Beerdigen der Pesttoten. Um 1600 war die Anzahl der Ordensbrüder stark zurückgegangen, und nur noch wenige junge Männer folgten den erneuten Aufrufen, dem Orden beizutreten – darunter Francesco Cavalieri.
Nach Aufenthalten in den Ordensklöstern in Mailand und Florenz kommt er in die Niederlassung in Pisa. Hier lebt auch der Benediktinermönch Benedetto Antonio Castelli. Dieser, ein ehemaliger Schüler Galileo Galileis, lehrt als Mathematikprofessor an der Universität und wohnt im Kloster der Jesuaten, da sein Orden in Pisa kein eigenes Kloster besitzt. Castelli weckt Cavalieris Interesse an Mathematik, insbesondere für die »Elemente« des Euklid.
Castelli erkennt die außergewöhnliche Auffassungsgabe und hohe mathematische Begabung seines neuen Schülers und vermittelt eine erste Begegnung Cavalieris mit Galilei, aus der sich eine rege Korrespondenz und eine lebenslange Freundschaft entwickelt. Cavalieri bezeichnet sich später selbst als ein Schüler Galileis, was er mit mehr als 100 Briefkontakten begründen kann.
Cavalieri erlangt schnell eine solche fachliche Souveränität, dass er vertretungsweise Castellis Vorlesungen übernehmen kann. 1619 bewirbt er sich sogar um einen frei gewordenen Lehrstuhl für Mathematik in Bologna; man hält ihn aber noch für zu jung für dieses Amt. Als auch weitere Bewerbungen scheitern, führt er dies darauf zurück, dass der Orden der Jesuaten bei der Amtskirche nicht allzu beliebt ist.
Ob dies wirklich eine Rolle gespielt hat, lässt sich nicht mehr klären; aber offensichtlich beeinträchtigt seine Ordenszugehörigkeit nicht seine kirchliche Karriere.
1621 wird Cavalieri Diakon und Assistent des Mailänder Kardinals Federico Borromeo. Ab 1623 ist er Prior des Jesuaten-Klosters in Lodi (30 Kilometer südlich von Mailand), von 1626 bis 1629 Leiter des Klosters in Parma.
Bereits während seiner Mailänder Zeit hatte Cavalieri sich mit der Idee der »Indivisiblen« beschäftigt; Ende 1627 teilt er Galilei und Kardinal Borromeo mit, dass er die Arbeit an dem Buch »Geometria indivisibilibus continuorum nova quadam ratione promota« vollendet hat.
Mit der ausdrücklichen Empfehlung Galileis (… nur wenige, wenn überhaupt jemand, haben sich seit Archimedes so intensiv in die Wissenschaft der Geometrie vertieft …) erfolgt 1629 seine Berufung auf den Lehrstuhl für Mathematik an der Universität von Bologna, kurze Zeit danach auch die Ernennung zum Prior des dortigen Klosters, so dass er ideale Arbeitsbedingungen für weitere Forschungen hat.
Johannes Kepler hatte 1615 in seinem Werk »Nova Stereometria doliorum vinariorum« dargestellt, wie man das Volumen von Weinfässern mit Hilfe unendlich vieler dünner Scheiben bestimmen kann. Diese Idee greift Cavalieri auf: Eine Fläche kann man sich in unendlich viele, zueinander parallele »unteilbare« Strecken zerlegt denken, einen Körper entsprechend in zueinander parallele Ebenen, allgemein: ein geometrisches Gebilde aus unendlich vielen Indivisiblen der nächstkleineren Dimension.
Im räumlichen Fall wird der betrachtete Körper durch zwei zueinander parallele Ebenen begrenzt; die eine Ebene »fließt« dann parallel in Richtung der anderen Begrenzungsebene und lässt unendlich viele Schnittflächen entstehen, deren Gesamtheit dann den Körper ausmachen. In der Theorie der Indivisiblen werden die unendlich vielen Schnittflächen als die Blätter eines Buchs angesehen, die aber, da sie unendlich dünn sind, nicht weiter geteilt werden können (indivisibilis, lateinisch = unteilbar).
Entsprechend gilt für den ebenen Fall einer Fläche, dass diese durch zwei zueinander parallele Geraden begrenzt wird, zwischen denen die unendlich vielen unendlich dünnen Geradenstücke liegen, die wie die »Fäden eines Tuchs« die Fläche ausmachen.
Nach der Veröffentlichung des Buchs im Jahr 1635 stoßen Cavalieris Ideen nicht nur auf Zustimmung. Der heftigste Kritiker ist der Jesuit Paul Guldin (heute noch bekannt wegen der nach ihm benannten guldinschen Regeln, mit deren Hilfe man Volumen und Oberflächen von Rotationskörpern berechnen kann). Er beschuldigt Cavalieri des Plagiats bei Kepler, vor allem aber verweist er auf unauflösbare Widersprüche der cavalierischen Theorie. Die Plagiatsvorwürfe kann dieser entkräften – offensichtlich hat Guldin die Unterschiede zum Ansatz Keplers nicht gesehen. Für den strengen Geometer Guldin fehlt aber vor allem bei der Betrachtung der »unendlich vielen« Objekte, die »unendlich dünn« sind, die in der Mathematik sonst übliche Exaktheit.
Cavalieri ist von der Richtigkeit seiner Methode überzeugt; dies zeige sich allein schon daran, dass es ihm durch die aufgestellten Prinzipien gelungen sei, einige bisher nicht bekannte Ergebnisse herzuleiten.
Guldins Ansehen innerhalb seines Ordens ist so groß, dass auch andere Jesuiten sich veranlasst fühlen, die Verbreitung der cavalierischen Theorien in Italien regelrecht zu bekämpfen. Evangelista Torricelli lässt sich von diesen Kritiken nicht beeindrucken, sondern greift die Ideen Cavalieris auf und entwickelt sie weiter (unter anderem Untersuchung des ins Unendliche reichenden hyperbolischen Rotationskörpers mit endlichem Volumen: »Gabriels Horn«). Cavalieri selbst veröffentlicht 1647 eine Schrift, in der er anhand von sechs Beispielen ausführlich die Richtigkeit seiner Methode demonstriert (»Exercitationes geometricae sex«).
Die Berufung Cavalieris auf den Lehrstuhl in Bologna galt zunächst nur für einen Zeitraum von drei Jahren. Durch die Veröffentlichung mehrerer Schriften festigt er jedoch seine Stellung. Er ist der erste Mathematiker Italiens, der das Rechnen mit Logarithmen propagiert; er gibt selbst eine Logarithmentafel heraus, auch für die Werte von trigonometrischen Funktionen. Darüber hinaus geht er vertiefend auf die napierschen Regeln für sphärische Dreiecke ein. In einem weiteren Buch erläutert er das logarithmische Rechnen anhand von 100 Beispielen, wovon Galilei sehr beeindruckt ist. Auch beschäftigt er sich theoretisch mit dem Bau von Teleskopen und stellt Überlegungen darüber an, wie Spiegel und Linsen kombiniert werden können (was später von Isaac Newton realisiert wird).
Um das Jahr 1629 hatte Cavalieri erste Anfälle von Gicht; im Lauf der Jahre wird seine Arbeit dadurch immer stärker beeinträchtigt. Ein Kuraufenthalt in Arcetri bringt keine Linderung (ermöglicht ihm aber viele fruchtbare Gespräche mit Galilei, der seit seinem Prozess dort unter Hausarrest lebt). Von 1646 an ist er nicht mehr in der Lage, seine Wohnung zu verlassen; im darauf folgenden Jahr stirbt er.
Die Idee der Indivisiblen stellte einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Integralrechnung dar. Mit Hilfe seiner Methode konnte Cavalieri beispielsweise die Beziehung \(\int_0^1 x^n \ dx = \frac{1}{n+1}\) herleiten (in heutiger Schreibweise notiert).
Das cavalierische Prinzip gilt auch heute noch als eine Standardmethode der ebenen und der räumlichen Geometrie; als Musterbeispiel sei auf die Bestimmung des (Halb-)Kugelvolumens als Differenz von Zylinder- und Kegelvolumen verwiesen, vergleiche die obere Abbildung.
- Werden zwei ebene Figuren von einer Schar paralleler Geraden so geschnitten, dass jede dieser Geraden in beiden Figuren jeweils gleich lange Strecken herausschneidet, dann sind die beiden Figuren flächengleich.
- Werden zwei Körper von einer Schar paralleler Ebenen so geschnitten, dass jede dieser Ebenen in beiden Körpern jeweils gleich große Flächenstücke herausschneidet, dann sind die beiden Körper volumengleich.
Weiter gilt: Stehen die Schnitte (Streckenlänge beziehungsweise Flächengröße) bei den betrachteten ebenen beziehungsweise räumlichen Figuren stets im gleichen Verhältnis, dann stehen auch die Flächeninhalte beziehungsweise Volumina der betrachteten Figuren in diesem Verhältnis.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben