Der Mathematische Monatskalender: Gustav Lejeune Dirichlet (1805–1859)
Als am 23.02.1855 in Göttingen Carl Friedrich Gauß, der princeps mathematicorum, stirbt, wird mit Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet schnell ein würdiger Nachfolger für den Lehrstuhl der Mathematik gefunden. Mit ihm beginnt eine neue ruhmreiche Epoche der Mathematik in Deutschland. – Der Familienname Dirichlet weist auf die Herkunft der Familie hin: Vorfahren stammten aus dem Ort Richelette nahe Lüttich (Liège). Der Großvater Johann Dirichlet hatte sich nach seiner Heirat mit einer aus Düren stammenden Frau dort niedergelassen; der Vater – mit gleichem Vornamen – fügte zur besseren Unterscheidung noch den Zusatz Lejeune (der Jüngere) zum Namen hinzu, der dann zum Bestandteil des Familiennamens wurde.
Als 1805 Gustav als jüngstes Kind der Familie geboren wird, gehört der Geburtsort Düren zu den von Frankreich annektierten Gebieten; der Vater leitet die örtliche Poststelle. Nach dem Wiener Kongress 1815 fällt die Rheinprovinz an Preußen; es dauert jedoch noch einige Jahre, bis auch dort die Verwaltungsstrukturen des Kernlandes umgesetzt sind. Gustav soll eigentlich den Beruf eines Kaufmanns erlernen, aber schon früh fällt das besondere Interesse des Jungen an Mathematik auf. Mit 12 Jahren darf er daher an ein Gymnasium in Bonn wechseln, an dem ein Bekannter der Familie unterrichtet und der bereit ist, sich um den Jungen zu kümmern. Dieser bedarf jedoch keiner besonderen Betreuung; alle loben ihn als fleißig und angenehm im Umgang. Als der Bekannte eine Stelle an einer Schule in Koblenz annimmt, wechselt Gustav an ein Gymnasium der Jesuiten in Köln. Hier ist der Mathematikunterricht seines Lehrers Georg Simon Ohm (der 1826 durch die Entdeckung des nach ihm benannten Gesetzes bekannt wird) von entscheidender Bedeutung für den zukünftigen Lebensweg des Jungen. Im Fach Latein allerdings wird Gustav den Anforderungen der Schule nicht gerecht. So endet seine Schullaufbahn bereits im Jahr 1821 ohne den eigentlich angestrebten Abschluss. Für ein Mathematikstudium wird jedoch zu dieser Zeit keine Abiturqualifikation benötigt.
Anfang des 19. Jahrhunderts ist es in Deutschland kaum möglich, ein anspruchsvolles Mathematikstudium zu absolvieren – Gauß in Göttingen ist mit seinem Amt als Direktor der Sternwarte und der Professur für Astronomie ausgelastet und zeigt wenig Interesse daran, Mathematikvorlesungen zu halten. Der 17-jährige entscheidet sich daher, nach Paris zu gehen. Am Collège de France erfreut er sich unter anderem der Lektionen bei Fourier, Laplace, Legendre und Poisson. In der freien Zeit widmet er sich vor allem einer Lektüre, den Gauß'schen Disquisitiones arithmeticae.
Als ihm – aufgrund einer Empfehlung – im Sommer 1823 ein lukratives Angebot gemacht wird, als Sprachlehrer in der Familie von Maximilien Foy, einem berühmten General der Napoleonischen Kriege und Führer der Liberalen Partei in der Deputiertenkammer, tätig zu werden, sagt er zu, um so seine Familie finanziell zu entlasten.
1825 reicht der 20-Jährige bei der Académie des Sciences ein Papier ein, das sich mit der berühmten Fermat'schen Vermutung aus dem Jahr 1637 auseinandersetzt, also dem Satz, dass die Gleichung \(x^n + y^n = z^n\) für \( n > 2\) keine ganzzahligen Lösungen besitzt.
Fermat hatte zwar behauptet, er habe einen wunderbaren Beweis für beliebiges \(n\) gefunden, in seinem Nachlass fand man jedoch nur den Unmöglichkeitsbeweis für \(n = 4\). Euler hatte 1770 den Beweis für \(n = 3\) veröffentlicht. Und nun, 55 Jahre nach Euler, wagt sich Dirichlet, ein unbekannter deutscher Student ohne irgendwelche Abschlüsse, an den Fall \(n = 5\). Es gelingt ihm zu zeigen, dass, wenn es überhaupt eine ganzzahlige Lösung gibt, eine der Variablen \(x, y, z\) durch 5 teilbar sein muss, und außerdem, dass diese Zahl nicht gerade sein kann. Es ist ein außergewöhnliches Ereignis, dass er die Gelegenheit erhält, seine Gedankengänge in der Académie vorzutragen. Aber so geschieht es. Noch enthält sein Unmöglichkeitsbeweis eine Lücke, nämlich den Nachweis, dass die durch 5 teilbare Variable auch nicht ungerade sein kann. Dies kann Legendre, ein Mitglied der Académie, zeigen; aber auch Dirichlet selbst gelingt kurze Zeit später ein eigenständiger Beweis.
Durch den Aufsehen erregenden Vortrag in der Académie eröffnen sich für Dirichlet neue Kontakte; er lernt Alexander von Humboldt kennen, der in Paris an der Auswertung seiner Expedition durch Süd- und Mittelamerika arbeitet und in dessen Salon sich die wissenschaftliche Prominenz regelmäßig trifft.
Diese Bekanntschaft trägt dazu bei, dass Dirichlet nach dem Tod seines Arbeitgebers, General Foy, eine Beschäftigung in Preußen findet: Dirichlet, aufgrund seines Geburtsortes preußischer Bürger, sendet eine Bewerbung an den preußischen Minister von Altenstein in Berlin und fügt als Anlage seine Untersuchung der Fermat'schen Vermutung an. Auch sendet er seinen Beitrag an Gauß und bittet diesen um eine Empfehlung für Berlin. Alexander von Humboldt, der zusammen mit seinem Bruder Wilhelm Berlin zum europäischen Zentrum der Wissenschaften machen möchte, verfasst ein Schreiben an seinen Freund von Altenstein und auch an Gauß, den er um Unterstützung seiner Pläne bittet. Der von dem Dirichlet'schen Beitrag offensichtlich beeindruckte Gauß schickt (entgegen seiner sonstigen Gewohnheit) den gewünschten Brief tatsächlich nach Berlin.
Von Altenstein bietet Dirichlet nun eine gut bezahlte Stelle als Lehrbeauftragter an der Universität Breslau an – mit der Möglichkeit der Habilitation; wegen der hierfür benötigten Promotion möge er sich vertrauensvoll an die (nahe zu Düren gelegene) Universität Bonn wenden. Diese hat allerdings ein Problem damit, denn der 21-Jährige ohne schulischen oder universitären Abschluss hat weder an einer preußischen Universität studiert, noch ist sein Beitrag zur Fermat'schen Vermutung in lateinischer Sprache verfasst. Vor allem aber ist Dirichlet nicht in der Lage, eine öffentliche Disputation in lateinischer Sprache zu bestreiten. Schließlich ringt sich die Fakultät zu der Lösung durch, Dirichlet die Ehrendoktorwürde zu verleihen.
Im Frühjahr 1827 kann er seine Stelle als Dozent in Breslau antreten; auf dem Weg dorthin besucht er Gauß in Göttingen, der ihn freundlich empfängt und sich über den Stand der mathematischen Forschung in Paris informieren lässt.
Von den drei Voraussetzungen zur Habilitation kann Dirichlet allerdings nur zwei erfüllen: Er hält eine Probe-Vorlesung (über die Irrationalität von \(\pi\)) und verfasst eine Abhandlung über Zusammenhänge zwischen \(b \in \mathbb{N},\) \(\sqrt{b} \notin \mathbb{N}\), und den Koeffizienten \(u, v\) in der Entwicklung von \((x + \sqrt{b})^n = u +v \cdot \sqrt{b}\) für beliebige \(x, n \in \mathbb{N}\). Von Altenstein ist bereit, auf die Disputation in lateinischer Sprache zu verzichten.
Dirichlet fühlt sich in der schlesischen Provinz nicht sehr wohl; ihm fehlt der von Paris gewohnte Austausch mit anderen Wissenschaftlern. Gleichwohl nutzt er den etwas über ein Jahr dauernden Aufenthalt zu bemerkenswerten Veröffentlichungen.
1825 und 1831 veröffentlicht Gauß Beiträge zum sogenannten biquadratischen Reziprozitätsgesetz (Charakterisierung von Gleichungen 4. Grades in der Arithmetik modulo \(p\)). Dirichlet findet kürzere Beweise zu einigen der von Gauß gefundenen Sätze und ergänzt die Gauß'sche Abhandlung. Friedrich Wilhelm Bessel, Astronom und Mathematiker in Königsberg, ist hierüber so begeistert, dass er einen Brief an Alexander von Humboldt schreibt, der mit diesem Brief wiederum Minister von Altenstein veranlasst, für Dirichlet endlich eine Stelle in Berlin zu beschaffen.
Zunächst ist dies nur eine Stelle als Lehrer an einer Militärakademie ("Kriegsschule") in Berlin, an der die preußischen Offiziere ausgebildet werden. In einem dreijährigen Zyklus unterrichtet er die Themen Gleichungslehre (Lösung von Gleichungen bis zum Grad 4), Folgen und Reihen, darstellende Geometrie, Trigonometrie, Kegelschnitte, Geometrie des Raums, Mechanik, Geodäsie. Im Laufe der Jahre sorgt Dirichlet dafür, dass auch Themen aus der Analysis und deren Anwendung in der Mechanik in das Unterrichtsprogramm aufgenommen werden. Dirichlet ist als Lehrer äußerst erfolgreich, sodass die Militäradministration 28 Jahre lang nicht bereit ist, ihn von der Unterrichtsverpflichtung von bis zu 18 Wochenstunden zu befreien.
Von Anfang an hält Dirichlet zusätzlich Mathematik-Vorlesungen an der Universität Berlin, die ihn 1831 in die philosophische Fakultät aufnimmt – allerdings nur als Professor designatus ; denn sie besteht auf der Einhaltung der Habilitationsvorschriften. 1832 wird er als jüngstes Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen.
Dirichlets Ansehen wächst von Jahr zu Jahr – auch ohne die förmliche Habilitation. Seine Studenten sind fasziniert von der Klarheit seiner Vorlesungen, die er mit großer Begeisterung ohne Aufzeichnungen hält und bei denen er nur selten die Tafel benutzt. Wenn die vorgesehene Zeit abgelaufen ist, macht er sich eine Notiz und setzt in der nächsten Vorlesung den zuletzt formulierten Gedanken fort. Ohne Habilitation hat er allerdings nicht das Recht, seine Studenten zu promovieren. Erst 1851 ringt sich Dirichlet dazu durch, eine öffentliche Vorlesung in lateinischer Sprache zu halten, damit er die vollen Rechte eines Ordinarius erhält.
Im Jahr 1828 veranstaltet Alexander von Humboldt einen Kongress der Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte in Berlin, an dem über 600 Wissenschaftler aus dem In- und Ausland teilnehmen. Gauß ist Ehrengast im Hause von Humboldts. Felix Mendelssohn-Bartholdy, Sohn des vermögenden Bankiers Abraham Mendelssohn-Bartholdy und Enkel des Philosophen Moses Mendelssohn, komponiert aus diesem Anlass eigens eine Festmusik. Bei einem Empfang im Hause des Bankiers (heute: Sitz des Bundesrats) lernt Dirichlet die Töchter Fanny und Rebecca kennen und verliebt sich in Rebecca. Diese hat viele Verehrer, aber sie entscheidet sich für den eher schüchternen Gustav Dirichlet. Aus der glücklichen Ehe gehen vier Kinder hervor.
1843 ist der Beginn einer herzlichen Freundschaft zwischen Dirichlet und Jacobi, der einen Lehrstuhl für Mathematik in Königsberg hat. Die Freundschaft geht so weit, dass Dirichlet bereit ist, Jacobi zu seinem Erholungsaufenthalt nach Italien zu begleiten; Alexander von Humboldt sorgt dafür, dass beide keine finanziellen Einbußen haben. Und als Dirichlet ernsthaft krank wird, übernimmt Jacobi den Unterricht an der Militärakademie, der nur bezahlt wird, wenn er tatsächlich stattfindet.
1846 macht die Universität Heidelberg Dirichlet ein verlockendes Angebot. Jacobi wendet sich an Alexander von Humboldt, damit dieser seinen Einfluss geltend macht, Dirichlet in Berlin zu halten; er schreibt: Er allein, weder ich, noch Cauchy, noch Gauß wissen, was ein vollständiger mathematischer Beweis ist. Wenn Gauß sagt, er habe etwas bewiesen, ist es mir sehr wahrscheinlich; wenn Cauchy es sagt, ist eben so viel pro als contra zu wetten; wenn Dirichlet es sagt, ist es gewiss. Das Jahresgehalt von Dirichlet wird verdoppelt, allerdings bleibt die belastende Verpflichtung zum Unterricht an der Militärakademie.
Als Gauß 1855 stirbt, wünscht die Universität Göttingen Dirichlet als Nachfolger. Dirichlet möchte in Berlin bleiben, wenn endlich die Lehrverpflichtung an der Militärschule entfallen und wenn sein Gehalt als Hochschullehrer entsprechend aufgestockt würde. Da jedoch die Entscheidung in Berlin auf sich warten lässt, nimmt er den Ruf nach Göttingen an. Dort lebt er sich mit seiner Familie schnell ein, fördert die weitere Entwicklung von Riemann und Dedekind, den letzten beiden Doktoranden von Gauß. Dedekind besucht alle Vorlesungen, die Dirichlet in Göttingen hält; so ist er später in der Lage, diese Aufzeichnungen auszuarbeiten und herauszugeben.
Im Sommer 1858 reist Dirichlet zur Erholung in die Schweiz, um dort in Ruhe eine Gedenkansprache über Gauß anzufertigen. Nach einem Herzinfarkt kehrt er todkrank nach Göttingen zurück, erholt sich aber langsam wieder. Als jedoch seine Frau überraschend nach einem Schlaganfall stirbt, verlässt ihn sein Lebenswille. Er stirbt am 5. Mai 1859, einen Tag vor seinem Freund und Förderer Alexander von Humboldt.
Die herausragende Bedeutung Dirichlets kann man heute noch an zahlreichen Begriffen und Sätzen ablesen, die in der Mathematik eine Rolle spielen:
- Dirichlet-Bedingung (1829): Dirichlet entdeckt in einem Beitrag Cauchys zur Konvergenz von trigonometrischen Reihen (Fourier-Reihen) einen Fehler; er korrigiert diesen und gibt eine Bedingung für die Konvergenz der Reihen an. In diesem Zusammenhang führt er eine spezielle Funktion ein, die Dirichlet-Funktion \(D\), die definiert ist durch \(D(x) = 1\) für \(x \in \mathbb{Q}\) und \(D(x) = 0\) für \(x \notin \mathbb{Q}\). Diese Funktion ist an jeder Stelle des Definitionsbereichs unstetig; sie ist nicht (Riemann-)integrierbar, weil die Grenzwerte von Unter- und Obersummen nicht übereinstimmen. Auch erkennt er, dass die Summanden in unendlichen Reihen nicht immer umgeordnet werden dürfen – je nach Umordnung kann sich ein endlicher oder ein unendlicher Grenzwert ergeben (Dirichlet-Paradoxon).
- Dirichlet'scher Funktionsbegriff (1837): Steht eine Variable \(y\) so in Beziehung zu einer Variablen \(x\), dass zu jedem numerischen Wert von \(x\) gemäß einer Vorschrift ein eindeutiger Wert von \(y\) gehört, so heißt \(y\) eine Funktion der unabhängigen Variablen \(x\).
Dirichlet veröffentlicht neben Beiträgen zur Zahlentheorie und Analysis auch einige zur Wahrscheinlichkeitstheorie (Dirichlet-Verteilung) und zur theoretischen Physik.
Die Anzahl seiner Veröffentlichungen mag gering erscheinen, jedoch, wie Gauß 1845 in einem Brief schreibt: "… seine einzelnen Abhandlungen füllen noch gerade kein großes Volumen. Aber sie sind Juwelen, und Juwele legt man nicht auf die Krämerwaage".
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.