Der Mathematische Monatskalender: Isaac Barrow (1630–1677)
Im Unterschied zu vielen seiner Vorfahren und nahen Verwandten hatte Thomas Barrow – nach einem Streit mit seinem Vater – keine akademische Laufbahn eingeschlagen, sondern sich in London als Leinentuch-Händler zum Hoflieferanten des englischen Königs Karl I emporgearbeitet. Aus seiner ersten Ehe geht ein Sohn hervor; seine Ehefrau stirbt, als der Junge mit dem Vornamen Isaac vier Jahre alt ist. Das Kind wird zum Großvater gegeben, der den Jungen über die Maßen verwöhnt.
Der Vater, der nach zwei Jahren wieder heiratet, meldet Isaac bald an der Charterhouse School an, ein 1611 gegründetes, noch heute existierendes Elite-Internat, und zahlt das doppelte Schulgeld – in der Erwartung, dass der Junge dann auch besonders gefördert wird. Dies ist allerdings nicht der Fall, vielmehr erwirbt sich Isaac bald den Ruf als Raufbold. Daher versucht es der Vater mit einem anderen Internat, der 1564 gegründeten Felsted School in Essex, die auch schon John Wallis besucht hatte. An dieser Schule wird auf Bildung und die strikte Einhaltung von Regeln geachtet. Jetzt endlich wird die Begabung des Jungen sichtbar; er macht gute Lernfortschritte in den Kernfächern Griechisch, Lateinisch, Hebräisch und Logik.
Infolge der blutigen Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Bevölkerung und den protestantischen Siedlern in Irland (Irish Rebellion) verliert der Vater sein Vermögen und kann das Schulgeld nicht mehr bezahlen. Aber Isaac braucht die Schule nicht zu verlassen, da der Schulleiter der Felsted School dessen Begabung erkannt hat und bereit ist, ihn weiter zu fördern.
1643 wird Isaac Barrow als Stipendiat am Peterhouse angenommen, dem ältesten College der Universität Cambridge, vermutlich auch, weil ein Onkel dort als Lehrer tätig ist. Dann verliert dieser wegen falscher politischer Ansichten seinen Posten, und Isaac wechselt nach Oxford, wo sich sein Bruder als Königlicher Leinenhändler niedergelassen hat. Aber auch dort kann er nicht lange bleiben: Oxford wird im Rahmen des Bürgerkriegs (Civil War) von Oliver Cromwells Truppen besetzt.
Nach einem vorübergehenden Aufenthalt in London schreibt sich der mittellose 15-jährige Isaac Barrow schließlich am Trinity College in Cambridge ein; als Gegenleistung für Kost und Logis ist er gezwungen, vermögende Mitstudenten zu bedienen. Sein Griechisch-Professor James Duport verzichtet auf die Gebühren, die Barrow als Student eigentlich an ihn bezahlen müsste. Barrow besucht Vorlesungen in alten und neuen Sprachen (Griechisch, Lateinisch, Hebräisch, Französisch, Spanisch, Italienisch), Literatur, Geschichte, Geografie und Theologie. Bis zur Bachelorprüfung erfahren die Studenten in Cambridge nur wenig über Mathematik.
Nach der Prüfung bewirbt sich Barrow erfolgreich um ein Stipendium zur Fortsetzung seines Studiums, das er 1652 mit dem Master of Arts (MA) abschließt. Aufgrund des Stipendiums ist er verpflichtet, Vorlesungen in Theologie zu hören. Im Rahmen der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte befasst er sich auch mit der Frage, welches Weltbild gültig ist (geo- oder heliozentrisch). Und so vertieft er sich in die Grundlagen der Astronomie, die ihn wiederum zur Geometrie führen. Nahezu selbstständig erarbeitet er sich die Elemente des Euklid und veröffentlicht eine vereinfachte Fassung in lateinischer Sprache (Jahreswende 1655/56); dieses Buch sowie die Übersetzung ins Englische werden noch jahrzehntelang verkauft.
In der Zwischenzeit haben sich die politischen Verhältnisse in England dramatisch verändert: Oliver Cromwell hat die Macht an sich gerissen und regiert ohne Parlament; fanatische Puritaner säubern die Universitäten. So verliert auch James Duport seine Professur. Barrow bewirbt sich auf die Stelle, aber wegen seiner royalistischen Einstellung hat er keinerlei Chancen. So fasst er 1655 den Entschluss, außer Landes zu gehen, und beantragt ein Reisestipendium der Universität, das ihm für einen Zeitraum von drei Jahren gewährt wird.
Die Reise führt zunächst nach Paris. Ob er dort Christiaan Huygens oder Gilles de Roberval getroffen hat, lässt sich nicht mehr klären. Seinem Bericht an das Trinity College kann man entnehmen, dass er vom Stand der mathematischen Forschung in Paris enttäuscht ist. Nach zehn Monaten reist er nach Florenz weiter, wo er die meiste Zeit in der Bibliothek der Medici verbringt und sich dabei auch mit deren Münzsammlung beschäftigt. Dieses Wissen über Münzen nutzt er zur Aufbesserung seiner finanziellen Lage, indem er den Kauf von seltenen Münzen für betuchte englische Kaufleute vermittelt.
Aus seiner Begegnung mit Vincenzo Viviani, dem letzten Schüler Galileo Galileis, erfährt er viel über die sogenannte Mathematik der Indivisiblen von Evangelista Torricelli (1608 – 1647) und Bonaventura Cavalieri (1598 – 1647) – Grundlage für seine späteren Veröffentlichungen.
Eine geplante Weiterreise nach Rom scheitert, weil dort die Pest ausgebrochen ist, und so nimmt er ein Schiff, das ihn nach Konstantinopel bringen soll. Dieses wird unterwegs von Piraten überfallen; es gelingt der Besatzung unter tätiger Mitwirkung von Barrow, den Angriff abzuwehren. Die Schäden am Schiff erzwingen jedoch einen Zwischenhalt in Smyrna (heute: Izmir), wo sich Barrow für sieben Monate beim englischen Konsul einquartiert. Nach Verlängerung des Reisestipendiums bleibt er noch über ein Jahr lang in Konstantinopel und nutzt diese Zeit, sich mit der Theologie der Orthodoxen Kirche zu beschäftigen.
Seine Rückreise verläuft nicht weniger dramatisch: Als sein Schiff in Venedig anlegt, gerät es in Brand, und Barrows wenige Habseligkeiten gehen verloren. Auf dem Landweg kehrt er Ende 1659 wieder in seine Heimat zurück. Dort ist mit Charles II als König wieder die Monarchie eingeführt worden. Barrow wird zum Priester der anglikanischen Kirche geweiht und bewirbt sich erfolgreich um die immer noch nicht besetzte Stelle als Professor für Griechisch. Hiervon kann er jedoch nicht leben, weil es zu wenige Studenten gibt; zusätzlich übernimmt er eine Geometrie-Professur am Gresham College in London. 1662 gehört er zu den 150 berufenen Gründungsmitgliedern der Royal Society, wird jedoch in diesem Rahmen nicht aktiv, sodass zeitweise sogar sein Ausschluss erwogen wird.
1663 stiftet der Politiker und Geistliche Henry Lucas einen Lehrstuhl an der Universität Cambridge, den Lucasian Professor of Mathematics, dessen erster Inhaber Isaac Barrow wird. Als in den nächsten Jahren die Vorlesungen Lectiones Geometricae und Lectiones Opticae veröffentlicht werden, ist ein Student beteiligt, dem Barrow für die Mitwirkung und Ideen in seinem Vorwort ausdrücklich dankt: Isaac Newton. Nach Barrows Verzicht wird dieser 1669 sein Nachfolger auf dem Lucasischen Lehrstuhl. Sicherlich spürt Barrow die Überlegenheit Newtons. Für den Rücktritt spielt aber vor allem die Sorge um das eigene Seelenheil eine Rolle. Er wird zum Royal Chaplain (Hofprediger) ernannt, 1673 zum Leiter des Trinity College; in diesem Rahmen bezeichnet ihn Charles II als den größten Gelehrten Englands. Seine Predigten und theologischen Schriften werden bis ins 19. Jahrhundert nachgedruckt.
Im Alter von 46 Jahren stirbt Barrow plötzlich nach einer fiebrigen Erkrankung, die er vergeblich mit einer von ihm selbst entwickelten Methode, einer Mischung aus Fasten und Opiumkonsum, zu heilen versucht.
Nach den Werken Euklids hat Barrow in den 1670er-Jahren auch Kommentare zu einigen Schriften von Archimedes und Apollonius veröffentlicht. Besonders hervorzuheben sind jedoch seine Beiträge zur Analysis: Angeregt durch die Ideen Fermats entwickelt er eine Methode, mit deren Hilfe man Tangenten an eine Kurve bestimmen kann. Hierbei betrachtet er implizit definierte Funktionen vom Typ \(f(x,y) = 0\), deren Graphen er sich aus infinitesimal kleinen Geradenstückchen zusammengesetzt denkt. Aus dem Ansatz \(f(x,y) = f(x+e,y+a) = 0\) gewinnt er durch Nullsetzen der quadratischen und höheren Potenzen von \(a\) und \(e\) eine Bedingung für die Steigung der Tangente an die Kurve.
Darüber hinaus gelingt es ihm mithilfe geometrischer Methoden, für eine Reihe von Kurven die Größen der eingeschlossenen Flächen zu bestimmen. Bei der Untersuchung der Kurve, die den jeweiligen Zuwachs des Flächeninhalts beschreibt, wenn ein Punkt längs einer gegebenen Kurve wandert, entdeckt er, dass deren Tangentensteigungen mit den Werten der ursprünglichen Funktion übereinstimmen, also im Prinzip die Eigenschaft, die der Aussage des Hauptsatzes der Differenzial-und Integralrechnung entspricht. Diesen Zusammenhang ausdrücklich zu formulieren, bleibt jedoch Newton und Leibniz vorbehalten. Aber mit Recht gilt Isaac Barrow als einer der wichtigsten Wegbereiter dieser Erkenntnis.
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