Die fabelhafte Welt der Mathematik: Ein faires Wahlsystem birgt immer einen Diktator
2024 ist ein Superwahljahr. Weltweit werden die Bürgerinnen und Bürger von mehr als 60 Staaten zur Wahlurne gebeten. Dabei werden wir Zeuge unterschiedlicher Wahlsysteme: Während es in Großbritannien beispielweise relative Mehrheitswahlen gibt, bei denen die Person mit den meisten Stimmen einen Wahlkreis gewinnt, werden in Frankreich in der Regel zwei Wahlgänge abgehalten, wobei der zweite eine Stichwahl aus den beiden erfolgreichsten Parteien darstellt. In Deutschland dagegen findet man meist eine Verhältniswahl: Die Sitze im Parlament sollen dabei möglichst genau die Wünsche der Bevölkerung abbilden. All die verschiedenen Wahlsysteme haben ihre Vor- und Nachteile, die ich in einer vergangenen Kolumne ausführlich beleuchtet habe. Das Fazit war dabei ernüchternd: Es gibt kein perfektes Wahlsystem.
Doch es kommt noch schlimmer. Der Ökonom Kenneth Arrow konnte 1950 in einem inzwischen nach ihm benannten Theorem mathematisch beweisen, dass jedes faire Wahlsystem mit einer Ranglistenordnung zwangsläufig einen Diktator enthält.
Auch wenn das zunächst furchtbar klingt, sollte man sich davon nicht entmutigen lassen. Denn aus mathematischer Sicht ist ein Diktator eine Person innerhalb der Wählerschaft, deren Wahl über das gesamte Ergebnis entscheidet – und nicht zwangsläufig ein Politiker oder eine Politikerin. Sprich: Arrow hat gezeigt, dass sich die Stimmen aller Wähler und Wählerinnen in einem Rangfolgen-Wahlsystem bis auf eine gegenseitig aufheben. Diese eine Stimme bestimmt den Wahlausgang.
Die gute Nachricht ist jedoch, dass dieser entscheidende Wähler – der Diktator – nichts von seiner Position weiß. Und besser noch: Jede Person, die zur Urne geht, könnte der Diktator sein. Wenn das mal keine Motivation ist, um wählen zu gehen. Denn das Arrow-Theorem bedeutet nicht, dass die Demokratie gescheitert ist, sondern zeigt vielmehr, dass tatsächlich jede Stimme zählt!
Wahlen aus mathematischer Sicht
In seiner Dissertation beschäftigte sich Kenneth Arrow auf sehr abstrakte Art und Weise mit Wahlsystemen. Eine Auswertung von abgegebenen Stimmen ist im Prinzip nichts anderes als eine Funktion f, in die man alle Stimmzettel eingibt und die daraufhin ein Wahlergebnis ausspuckt. Diese Funktion kann sehr simpel oder kompliziert sein: Im Prinzip lässt sich damit jede Art von Wahlsystem mit Rangfolgen beschreiben.
Da Arrow kein bestimmtes Wahlsystem untersuchen wollte, sondern generell Eigenschaften von Wahlen mit Rangordnungen, versuchte er f so allgemein wie möglich zu belassen. Ein paar Regeln musste er der Funktion allerdings auferlegen, um unrealistischen Fällen vorzubeugen – etwa, dass immer nur die dritte Stimme über den Wahlausgang entscheidet. Im Prinzip sollte jedes Wahlsystem aus Arrows Sicht mindestens zwei Regeln befolgen, um einigermaßen fair zu sein:
- Einstimmigkeit: Falls 100 Prozent aller Wähler eine Partei A einer anderen Partei B vorziehen, dann muss sich das auch im Wahlergebnis niederschlagen: A muss demnach vor B liegen.
- Unabhängigkeit: Eine dritte, unabhängige Partei C hat keinen Einfluss darauf, ob die Wählerinnen und Wähler Partei A oder B bevorzugen. Sprich: Ob ich Pizza oder Pommes leckerer finde, hängt nicht davon ab, ob ich Kuchen mag.
Arrow konnte beweisen, dass jedes Wahlsystem mit Ranglisten, das diesen beiden Regeln folgt, zwangsläufig einen Diktator birgt. Dessen Stimmzettel allein entscheidet dann über den Ausgang der Wahl.
Döner, Nudeln oder Pizza?
Um Arrows Beweisidee nachzuvollziehen, hilft es, einen Spezialfall zu betrachten, bei dem drei Personen (Alice, Bob und Charlie) über ein Mittagessen abstimmen. Zur Auswahl stehen Döner, Nudeln und Pizza. Dafür notieren die drei auf einem Zettel ihre jeweilige Präferenz, und eine Funktion f wertet dann das Ergebnis der Abstimmung aus. Wie f genau aussieht, ist unklar, aber die Funktion befolgt die Regeln der Einstimmigkeit und Unabhängigkeit. Und wie sich herausstellt, gibt eine Person – unabhängig von der Art der Auswertung – stets das Mittagessen vor.
Dafür kann man sich zunächst überlegen, was passiert, wenn Alice, Bob und Charlie die exakt gleiche Präferenz angeben: 1. Döner, 2. Nudeln, 3. Pizza. In diesem Fall besagt die Regel der Einstimmigkeit, dass Döner in den Wahlergebnissen auf jeden Fall vor den Nudeln liegt und Nudeln vor Pizza. Das Ergebnis von f ist also: 1. Döner, 2. Nudeln, 3. Pizza.
Wenn nun allerdings einer nach dem anderen plötzlich seine Meinung ändert und lieber Nudeln essen möchte (also mit 1. Nudeln, 2. Döner, 3. Pizza abstimmt), muss es einen entscheidenden Wähler geben, damit sich auch das Endergebnis verändert. Ob die Wahl von Alice, Bob oder Charlie zu diesem Wechsel führt, hängt von der Funktion f ab. Es könnte sein, dass bereits eine andere Präferenz von Alice darüber entscheidet, dass Nudeln zum Mittagessen auserkoren werden – oder erst die von Bob oder Charlie. Im Folgenden nehmen wir an, Charlies Sinneswandel habe dazu geführt, dass es zum Mittagessen Nudeln statt Döner gibt. (Wir könnten jeden anderen Wähler herauspicken und die Argumentation entsprechend führen.) Das heißt, wenn Alice und Charlie sich bei Nudeln und Döner uneins sind, entscheidet Bobs Stimme. Der Moment, in dem also die Funktion f die Rangfolge von 1. Döner, 2. Nudeln, 3. Pizza zu 1. Nudeln, 2. Döner, 3. Pizza ändert, ist durch folgende Wahl gegeben:
Alice | Bob | Charlie |
---|---|---|
Döner | Nudeln | Nudeln |
Nudeln | Döner | Döner |
Pizza | Pizza | Pizza |
Bisher ist an Bob noch nichts Diktatorisches: Schließlich gibt es immer eine Person, die das Zünglein an der Waage spielt. Aber es lässt sich zeigen, dass Bobs Wahlzettel ebenfalls diktiert, ob Pizza oder Döner gegessen wird. Selbst wenn sowohl Alice als auch Charlie lieber Pizza als Döner zu Mittag hätten: Wenn sich Bob für 1. Döner, 2. Nudeln, 3. Pizza entscheidet, dann liefert die Funktion f eben jenes Ergebnis, solange sie der Unabhängigkeits- und Einstimmigkeitsregel folgt.
Ein unerwarteter Diktator
Das kann man zeigen, indem man die Fälle explizit durchgeht. Angenommen, die Wahl wäre folgendermaßen ausgefallen:
Alice | Bob | Charlie |
---|---|---|
Döner | Nudeln | Nudeln |
Pizza | Döner | Döner |
Nudeln | Pizza | Pizza |
In diesem Fall möchte Alice lieber Döner essen als Nudeln, aber sowohl Bob als auch Charlie ziehen Nudeln vor. Beachtet man nur die Präferenzen der Wähler bezüglich dieser beiden Gerichte (Nudeln und Döner), dann ist die Situation genauso wie in der vorherigen Wahl: Bob ist das Zünglein an der Waage und somit gewinnen die Nudeln. Wie die drei Personen zu Pizza stehen, wirkt sich laut der Unabhängigkeitsregel nicht darauf aus, ob sie Nudeln oder Döner vorziehen. Worin sich Alice, Bob und Charlie aber einig sind: Sie möchten lieber Döner als Pizza essen. Damit ist das Wahlergebnis eindeutig: 1. Nudeln, 2. Döner, 3. Pizza – genau so, wie Bob es vorgibt.
Der Wahlausgang könnte jedoch auch folgende Form haben:
Alice | Bob | Charlie |
---|---|---|
Döner | Döner | Nudeln |
Pizza | Nudeln | Döner |
Nudeln | Pizza | Pizza |
Da Alice und Charlie sich uneinig sind, ob Döner oder Nudeln gegessen werden, entscheidet Bobs Stimme und Döner landet an erster Stelle. Weil sich im Verhältnis von Pizza zu Nudeln nichts geändert hat, ist die Pizza weiterhin schlechter bewertet – und damit steht die Pizza auch bei diesem Wahlausgang an letzter Stelle. Der Wahlausgang ist also wieder durch Bobs Wahlzettel vorgegeben: 1. Döner, 2. Nudeln, 3. Pizza.
Nun kann man sich vorstellen, dass Alice und Charlie ihre Meinung bezüglich Pizza ändern und ihr doch einen besseren Stellenwert geben: Sie tauschen die Rangfolge des Döners mit der Pizza:
Alice | Bob | Charlie |
---|---|---|
Pizza | Döner | Nudeln |
Döner | Nudeln | Pizza |
Nudeln | Pizza | Döner |
Das Verhältnis von Döner zu Nudeln hat sich hierdurch nicht geändert; laut der Unabhängigkeitsregel muss also weiterhin Döner vor den Nudeln liegen. Zudem hat sich das Verhältnis von Pizza zu Nudeln ebenfalls nicht geändert; wie im vorherigen Fall nimmt die Pizza einen niedrigeren Stellenwert ein. Nach dieser Logik muss also folgendes Ergebnis herauskommen: 1. Döner, 2. Nudeln, 3. Pizza.
Das ist erstaunlich, denn Bob ist der Einzige, der diese Rangfolge auf seinem Wahlzettel hat. Schlimmer noch: Sowohl Alice als auch Charlie würden Pizza einem Döner vorziehen – und trotzdem steht Döner an erster Stelle! Wenn Bob also das Zünglein an der Waage ist, um zwischen Döner und Nudeln zu entscheiden, dann diktiert er gleichzeitig auch, dass Döner statt Pizza gegessen wird – unabhängig davon, was die anderen wollen.
Bob diktiert alle Gerichte
Und nun lässt sich zeigen: Wenn Bob entscheidend für die Wahl zwischen Döner und Nudeln ist, dann ist er ebenfalls der entscheidende Wähler für alle weiteren Paare: also für Döner oder Pizza sowie Nudeln oder Pizza. Das lässt sich veranschaulichen, indem man eine Döner-Pizza-Wahl genauer betrachtet.
Angenommen, Alice, Bob und Charlie sind sich einig, dass sie am liebsten Pizza essen möchten und am zweitliebsten Döner (und damit die Nudeln an dritter Stelle sind). In diesem Fall gibt die Einstimmigkeitsregel die Rangfolge vor: 1. Pizza, 2. Döner, 3. Nudeln.
Wieder kann man untersuchen, was passiert, wenn sich nach und nach alle umentscheiden und Döner an erster Stelle wählen. Nach dem Wechsel lautet die Rangfolge also 1. Döner, 2. Pizza, 3. Nudeln. Wieder muss es einen Wähler geben, dessen Entscheidung den entscheidenden Ausschlag gab. Die Frage ist nur: Ist es Alice, Bob oder Charlie?
Wenn zuerst Alice, dann Bob und danach Charlie ihre Meinung ändern, müssen entweder Alice oder Bob die entscheidenden Personen sein. Denn Alices Wahl könnte bereits die Rangfolge geändert haben. Falls nicht, dann geschieht das spätestens durch Bobs Meinungswechsel, da wir im vorhergehenden Beispiel gesehen haben, dass Bob diktiert, ob Pizza oder Döner gegessen wird.
Wenn die Meinungswechsel aber in umgekehrter Reihenfolge stattfinden (zuerst Charlie, dann Bob und danach erst Alice), dann müssen entweder Charlie oder Bob das Zünglein an der Waage sein – aus genau denselben Gründen wie zuvor. Demnach bleibt nur Bob übrig, um beiden Szenarien zu entsprechen. Das heißt: Falls Bob der Entscheidungsträger für die Wahl zwischen Döner und Nudeln ist, dann ist er es auch für die Wahl zwischen Pizza und Döner. In diesem Fall diktiert Bob aber auch, ob Pizza oder Nudeln gegessen werden.
Das Argument lässt sich ebenso auf das andere Essenspaar (Nudeln oder Pizza) übertragen: Falls Bob zwischen Döner und Nudeln entscheidet, tut er das auch für Pizza und Döner sowie für Nudeln oder Pizza. Und damit diktiert er nicht nur, ob Pizza oder Döner beziehungsweise Pizza oder Nudeln gegessen wird – sondern auch, ob es Döner oder Nudeln zum Mittagessen gibt. Sobald Bob in einer Entscheidung zwischen zwei Gerichten das Zünglein an der Waage ist, nimmt er diese Rolle für alle anderen Entscheidungen ein. Und deshalb ist Bob zugleich der Diktator für jede Auswahl an Essen – und diktiert damit den Wahlausgang.
In den Politik- und Sozialwissenschaften war dieses Ergebnis ein herber Schlag. Möchte man einen Diktator umgehen, muss man entweder die Unabhängigkeits- oder die Einstimmigkeitsregel verwerfen – oder beide. In der Praxis hat das Arrow-Theorem aber glücklicherweise keine gravierenden Auswirkungen. Denn wer der Diktator ist, steht im Vorhinein nicht fest; nicht einmal der Diktator selbst weiß um seine besondere Rolle. Für mich bedeutet das allerdings: Ich werde unbedingt immer wählen gehen, denn vielleicht bin ich ja am Ende der Diktator.
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