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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte aus dem wahren (Insel-)Reich der Mitte

Genau zwischen Japan, China und Korea gelegen, handelte das Königreich Ryūkyū lange Zeit auf eigene Rechnung. Bis seine Nachbarn es zu einem Wechselbad der Kulturen zwangen, berichten unsere Geschichtskolumnisten Richard Hemmer und Daniel Meßner.
Der Farbholzschnitt »Die Stimme des Sees beim Rinkai-Tempel«, um 1832, zeigt einen Tempel, von dem ein gewundener gemauerter Steg in einen See führt. Am Ende des Stegs befindet sich eine kleine Insel mit den Ruinen eines Gebäudes.
Der Farbholzschnitt »Die Stimme des Sees beim Rinkai-Tempel« aus der Serie »Acht Ansichten der Ryukyu-Inseln« entstand im Jahr 1832. Damals stand die Jahrhunderte währende Tributpflicht gegenüber China kurz vor ihrem Ende.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

In einem langen, sich sanft von Nord nach Südwest schwingenden Bogen quer durch das Ostchinesische Meer erstreckt sich eine Inselkette, die einst als das Königreich Ryūkyū bekannt war. Über Jahrhunderte hinweg war dieses kleine Reich eine florierende Handelsmacht, geprägt von einzigartiger kultureller Identität und äußerst geschickter Diplomatie, die jedoch nicht verhindern konnte, dass das Reich in eine fatale doppelte Abhängigkeit geriet, in der es von einer Besatzungsmacht zu einer historisch vielleicht einzigartigen kulturellen Maskerade gezwungen wurde.

Die Ryūkyū-Inseln, die eine Art geografische Verbindungslinie zwischen Japan, Korea, Taiwan und China darstellen, waren von jeher ein strategischer Knotenpunkt im Ostchinesischen Meer. Ursprünglich nur spärlich besiedelt, formte sich ab dem 11. Jahrhundert durch Migration aus Japan und Korea eine eigenständige ryūkyūanische Kultur. Politisch blieben die Inseln zunächst zersplittert. Doch der zunehmende Handel mit China und Südostasien einte die Bevölkerung erst wirtschaftlich, dann auch politisch, wie der Historiker Gregory Smits in seinem Werk »Maritime Ryukyu« schreibt.

Denn im 14. Jahrhundert begann eine aufstrebende Macht ihren Schatten auf die Inselkette zu werfen: die chinesische Ming-Dynastie. Unter Kaiser Hongwu wurde ein System von Tributstaaten geschaffen, in dem Ryūkyū eine zentrale Rolle einnahm. Die Inseln, strategisch günstig gelegen, wurden zum Verbündeten Chinas gegen die Bedrohung durch Piraten und zum Schlüsselpartner im chinesischen Tributhandel.

Offiziell basierte dieses System auf einem hierarchischen Weltbild, das vom konfuzianischen Denken geprägt war: China war der zentrale Akteur einer »geordneten Welt«, und Tributstaaten sollten dessen kulturelle und politische Überlegenheit anerkennen. Im Gegenzug bot China Wohlstand durch Handelsprivilegien und die Anerkennung der lokalen Herrscher.

Für Ryūkyū war diese Beziehung allerdings mehr als nur eine symbolische Geste. Das Königreich profitierte enorm von den Handelsvorteilen, die es als Tributstaat Chinas genoss. Die Gesandtschaften, die regelmäßig in China landeten, brachten exotische Waren – darunter Hölzer, Gewürze und Edelsteine aus Südostasien – in die kaiserliche Hauptstadt, wo sie gegen großzügige Geschenke aus der kaiserlichen Schatzkammer eingetauscht wurden. Diese Geschenke, meist in Form von Seide, Porzellan und Münzen, hatten für Ryūkyūs Wirtschaft oft einen weit höheren Wert als die angebotenen Tribute. Vor allem aber waren sie die Eintrittskarte in den Handel mit dem riesigen chinesischen Reich, dessen Waren in den umliegenden Staaten willige Abnehmer fanden.

Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Beziehung wurde durch die Anzahl der Tributmissionen an den chinesischen Hof unterstrichen. Während andere Staaten im chinesischen Tributnetzwerk maximal alle drei Jahre eine Delegation entsandten, durfte Ryūkyū im späten 14. Jahrhundert bis zu zwei Missionen pro Jahr durchführen. Diese bevorzugte Behandlung unterstrich die zentrale Rolle Ryūkyūs in Chinas Strategie zur Stabilisierung des Ostchinesischen Meers. Gleichzeitig ermöglichte es Ryūkyū, ein Handelsnetzwerk aufzubauen, das China, Japan, Korea und Südostasien miteinander verband.

Das Goldene Zeitalter unter Shō Shin

Unter König Shō Shin (1477–1526) erlebte das Königreich Ryūkyū seine Blütezeit. Er vereinigte die Inseln unter einer zentralen Verwaltung und errichtete ein effizientes Beamtenwesen, um dem Tribut- und Handelssystem gerecht zu werden. Die Hauptstadt Shuri wurde zum politischen und kulturellen Zentrum des Königreichs, und der Hafen von Naha avancierte zum wichtigsten Umschlagplatz im Ostchinesischen Meer.

Ryūkyūs Schiffe, die oft im chinesischen Stil gebaut wurden, waren der Schlüssel zu diesem Erfolg. Sie durchquerten die Handelsrouten zwischen Südostasien, Japan und China und brachten wertvolle Güter wie Sappanholz, Schwefel, Heilpflanzen und Gewürze nach Naha. Dort wurden sie gesammelt, weiterverarbeitet oder direkt für den Export vorbereitet.

Die Einkünfte aus diesem Handel ermöglichten den Ausbau der Infrastruktur und die Schaffung einer religiösen Hierarchie, die die Macht des Königs legitimierte. So etablierte Shō Shin die Kikoe-ōgimi, die Hohe Priesterin, die als Verbindung zwischen den religiösen Traditionen Ryūkyūs und der königlichen Autorität diente.

Doppelte Abhängigkeit

Es war ein Wohlstand, der vor allem auf der Fähigkeit beruhte, zwischen den Interessen der umliegenden Mächte zu navigieren. Ein Balanceakt, der zunehmend schwieriger wurde. Denn im 16. Jahrhundert leitete Japan eine neue Ära der Einheit ein und stürzte sich alsbald kopfüber in ein militärisches Abenteuer, das keinen guten Ausgang nahm: die Invasion Koreas durch Toyotomi Hideyoshi (1592–1598). Es gelang Ryūkyū zwar, sich größtenteils aus dem Konflikt herauszuhalten, bei dem sich China auf die Seite Koreas schlug, doch die Ereignisse setzten langfristige Veränderungen in Gang.

Der Imjin-Krieg dauerte sechs Jahre, in denen Japan immer weiter ins Hintertreffen geriet und schließlich eine herbe Niederlage einstecken musste. Die Kosten der Auseinandersetzung waren immens. Auch ein Regionalfürst im Süden von Japan, der Daimyō von Satsuma auf dem mächtigen Shimazu-Klan, hatte sich verausgabt. Einen Ausweg aus seiner Misere fand er elf Jahre später im reichen Nachbarn im Süden: Der Shimazu-Klan eroberte die nördlich gelegenen Inseln des Reichs und machte Ryūkyū zu seinem Vasallen.

In der neuen Hauptstadt Edo, dem heutigen Tokyo, sah man mit einem gewissen Wohlwollen auf die Invasion, erhoffte man sich vom Anschluss Ryūkyūs an Satsuma doch eine Hintertür in den Handel mit China. Denn das kleine Inselreich stand nun zwar de facto unter Kontrolle Japans, blieb aber weiterhin Tributstaat Chinas und hatte damit weiterhin Zugang zum chinesischen Handelsnetz.

Damit das so blieb, war eine komplexe Politik der Verschleierung nötig: Gegenüber China musste Ryūkyū den Anschein der Unabhängigkeit wahren, während es heimlich Zahlungen an Japan leistete und wirtschaftlich ausgebeutet wurde.

Diese doppelte Abhängigkeit hatte tief greifende Auswirkungen auf die Kultur Ryūkyūs. Unter japanischer Kontrolle wurde eine Politik der »Entjapanisierung« durchgesetzt, um die japanische Kultur aus dem öffentlichen Leben zu drängen, zugleich wurden chinesische Einflüsse gefördert, um gegenüber China glaubhaft die Unabhängigkeit Ryūkyūs darzustellen. Die Elite des Königreichs übernahm chinesische Namen, Sprache und Bräuche, und das Viertel Kumemura in der Hauptstadt Shuri wurde ein Zentrum chinesischer Gelehrsamkeit.

Hybride Kultur

Diese Anpassung führte zur Entstehung einer hybriden Kultur, die Elemente Japans, Chinas und indigener Traditionen verband. Selbst das auf Ryūkyūs Hauptinsel Okinawa entwickelte traditionelle Karate, das oft fälschlicherweise als Reaktion auf japanische Waffenverbote interpretiert wird, hat seine Ursprünge in chinesischen Kampfkünsten und entwickelte sich vor allem unter der ryūkyūanischen Aristokratie.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts endete die Edo-Zeit, in der es unter der Herrschaft der Tokugawa-Shogune zu einer kulturellen Blüte gekommen war. Zugleich wurde Japan gezwungen, seine rund 200 Jahre währende Politik der rigiden Abschottung aufzugeben. Die geopolitischen Machtverhältnisse verschoben sich erneut. Die neue Meiji-Regierung Japans strebte eine klare territoriale Konsolidierung an, und Ryūkyū, dessen doppelte Abhängigkeit zunehmend unhaltbar wurde, geriet ins Visier. 1879 wurde das Königreich endgültig annektiert, in die Präfektur Okinawa umgewandelt und der abgesetzte König nach Tokyo verbannt. Damit endete die jahrhundertelange Geschichte Ryūkyūs als eigenständiges politisches Gebilde.

Auf die Entjapanisierung folgt die Rejapanisierung

Die Annexion brachte Modernisierung, aber auch eine drakonische Assimilationspolitik mit sich. Ryūkyūanische Sprachen und Bräuche wurden verboten, und die Bevölkerung musste ihre Namen und Identität japanisieren. Diese Maßnahmen führten zu einem Verlust der kulturellen Eigenständigkeit, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind.

Die Geschichte Ryūkyūs ist eine Geschichte von Anpassung und Überleben inmitten großer Mächte. Jahrhundertelang nutzte das Königreich seine strategische Lage und Diplomatie, um sich zu behaupten und wirtschaftlichen Wohlstand zu erlangen. Doch der Druck von außen, insbesondere durch Japan, führte letztlich zu seinem Ende.

Heute zeugen die kulturellen Traditionen und historischen Stätten Okinawas von der einstigen Bedeutung des Königreichs Ryūkyū. Aber die Nachwirkungen der japanischen Annexion und die Belastungen durch die bis heute andauernden US-Militärpräsenz seit dem Zweiten Weltkrieg prägen das Schicksal der Region weiterhin. Okinawa bleibt damit ein Ort, an dem Geschichte, Kultur und Politik auf einzigartige Weise miteinander verflochten sind.

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