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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte von einem Fotopionier, der nicht nur Bilder schoss

Eadweard Muybridge gelang es als Erstem, einen Augenblick in der Zeit abzulichten. Der Fotografie verdankte der geständige Mörder gar sein Leben, erzählen Hemmer und Meßner.
Muybridges berühmteste Aufnahme
In Muybridges berühmtester Serienaufnahme sind erstmals die einzelnen Bewegungsphasen des Galopps festgehalten. Möglich machten es technische Weiterentwicklungen des Fotografen, aber auch das Geld eines sehr wohlhabenden Sponsors.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Am 17. Oktober 1874 machte sich Eadweard Muybridge mit einem Revolver in der Tasche auf den Weg von San Francisco in das 120 Kilometer entfernte Calistoga. Dort angekommen, ging er zu einem Haus, in dem er einen gewissen Harry Larkyns vermutete. Er ging schließlich auf ihn zu, zog seine Waffe und erschoss Larkyns aus nächster Nähe.

Anschließend ließ sich Muybridge widerstandslos festnehmen. Sein Motiv: Er fand kurz vor der Tat heraus, dass Larkyns vermutlich der biologische Vater seines im April geborenen Sohnes war. Es folgte eine Anklage wegen vorsätzlichen Mordes. Muybridge gestand die Tat – und verließ dennoch als freier Mann das Gerichtsgebäude. Bei einer Verurteilung wäre er wohl hingerichtet worden. Dann hätte einer der einflussreichsten und bekanntesten Fotografen seine wichtigsten Arbeiten nie gemacht.

Muybridge wurde im April 1830 geboren, eigentlich als Edward Muggeridge, in der Handelsstadt Kingston upon Thames in der Nähe von London. Er wuchs in einer Zeit auf, in der die ersten fotografischen Verfahren erfunden wurden. Die älteste erhaltene Fotografie stammt von Joseph Niépce. 1826 fotografierte der Franzose den Blick von seinem Arbeitszimmer aus in den Garten – was allerdings kaum zu erkennen ist. Er hatte dazu eine Zinnplatte mit einer lichtempfindlichen Mischung aus Asphalt bestrichen. Dann ließ er acht Stunden lang das Sonnenlicht auf die Platte scheinen. Die Heliografie ermöglichte also nicht gerade Schnappschüsse, aber inspirierte Muybridge zu seinem späteren Künstlernamen als Fotograf: Helios.

Als junger Mann scheint sich Muybridge allerdings noch nicht sonderlich für die Fotografie interessiert zu haben. Er war darauf aus, sich eine eigene Karriere aufzubauen, und machte, was viele junge Männer im 19. Jahrhundert taten, die ein neues Leben beginnen wollten: Er wanderte in die USA aus. 1852 kam er in New York an und stieg mit Erfolg in die Buchhändlerbranche ein, zunächst an der Ostküste, ab 1855 dann auf der anderen Seite des Kontinents, in San Francisco. Ein Fotograf war der Mittzwanziger damals immer noch nicht. Im Jahr 1859 allerdings erfuhr sein Leben eine entscheidende Wendung.

Ein Unfall verändert alles

Damals machte sich Muybridge auf eine Reise zurück in seine englische Heimat. Er übergab den Buchladen seinem jüngeren Bruder und verließ San Francisco Richtung Europa. Eine transkontinentale Eisenbahnverbindung existierte seinerzeit noch nicht. Statt jedoch mit dem Schiff um Südamerika herum an die Ostküste der USA zu fahren und von dort aus den Atlantik zu queren, entschied sich Muybridge spontan für die Landroute mit der Postkutsche.

Eadweard Muybridge | Gerüchten zufolge veränderte sich durch den Sturz aus der Postkutsche auch Muybridges Charakter. Der Aufprall soll ihn impulsiver, aber auch kreativer gemacht haben.

Ein nicht nur unbequemes, sondern auch gefährliches Vorhaben. Und tatsächlich hätte es den jungen Buchhändler um ein Haar das Leben gekostet: Auf gut halbem Weg, irgendwo in Texas, bricht die Bremse der Kutsche, das Gefährt knallt gegen einen Baum. Auch Muybridge wird aus dem Fahrzeug geschleudert, schlägt mit dem Kopf auf. Es gibt Tote unter den Insassen der Kutsche, doch Muybridge hat Glück. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, fehlt ihm zwar die Erinnerung an die neun zurückliegenden Tage, außerdem sieht er alles doppelt, er schmeckt nichts und kann nichts riechen. Doch er lebt, und die Symptome bessern sich mit der Zeit. Trotzdem wird sich Muybridge nie mehr vollständig von dem Unfall erholen. Vor allem Kopfschmerzen begleiteten ihn sein Leben lang.

Es dauerte drei Monate, bis er die Reise nach England zu seiner Familie fortsetzen konnte. Die nächsten Jahre waren geprägt von einem unsteten Lebenswandel, er war mal hier und da. Und wahrscheinlich begann er in dieser Zeit, sich intensiv mit der Fotografie zu beschäftigen.

Helios und das mobile Fotostudio

Denn 1867 tauchte er wieder in San Francisco auf. Und zwar als Fotograf Helios. Sein Logo bestand aus einer Fotokamera mit Flügeln, die von Sonnenstrahlen umgeben waren, darunter stand »Flying Studio«. Muybridge spezialisierte sich auf Vor-Ort-Aufnahmen und fotografierte vor allem Landschaften und Architektur. Mitte des 19. Jahrhunderts war so etwas noch extrem aufwändig. Stand der Technik war damals das Kollodium-Nassplatten-Verfahren. Auch Muybridge arbeitete damit.

Jede Aufnahme erforderte Fingerfertigkeit: Eine Glasplatte wurde zunächst mit einer Kollodiumlösung präpariert, eine zähflüssige Substanz, die dann noch mit Silbernitrat behandelt wurde. Die Platte war somit lichtempfindlich und durfte nicht austrocknen, daher galt es, zügig die Platte zu belichten und sich dann sofort auf den Weg in die Dunkelkammer zu machen, wo eine Eisensulfatlösung auf ihren Einsatz wartete.

Das erste große Fotoprojekt, mit dem Muybridge auf sich aufmerksam machte, war eine Tour durch den späteren Nationalpark Yosemite. In dem 1867 noch kaum erschlossenen Schutzgebiet schoss er Landschaftsfotos – spektakuläre Landschaftsaufnahmen, um genau zu sein. »Helios« war danach etabliert als Fotograf, bald reiste Muybridge von Auftrag zu Auftrag.

Anfang der 1870er Jahre machte er dabei zwei Begegnungen, die sein Leben in weiterer Folge prägen sollten: Er lernte seine zukünftige Frau kennen, Flora, die er im Mai 1871 heiratete. Und ein Jahr später machte er die Bekanntschaft mit Leland Stanford. Stanford war nicht nur Begründer der Stanford University, sondern vor allem als Präsident der Central Pacific Railroad einer der wichtigsten Eisenbahnunternehmer in den USA. Das machte ihn zugleich zu einem der reichsten Männer Kaliforniens.

Galoppierende Pferde und ein Mord

Stanford beauftragte Muybridge, sein neues Anwesen zu fotografieren. Doch schon bald drehte sich zwischen den beiden alles um schnelle Pferde – Stanfords Leidenschaft. In einer Studie des französischen Forschers Étienne-Jules Marey hatte er von der Theorie gelesen, dass Pferde, wenn sie galoppieren, einmal vollständig in der Luft sind und keine Hufe mehr den Boden berühren. Stanford wollte Beweise dafür sehen und beauftragte Muybridge, Fotos vom galoppierenden Pferd anzufertigen. Der hielt es anfangs für ein hoffnungsloses Unterfangen, Fotos von einem Pferd bei voller Geschwindigkeit zu schießen. Die Belichtungszeiten waren noch viel zu lang, um derart kurze Momente festzuhalten.

Nach ein paar unscharfen Probeaufnahmen sagte Muybridge dennoch zu und machte sich an die Arbeit, die technischen Voraussetzungen für die Hochgeschwindigkeitsfotografie zu legen. Es nahm die nächsten Jahre in Anspruch, nicht zuletzt, weil Muybridge im Oktober 1874 einen Mord beging. Von der Hebamme hatte er erfahren, dass Harry Larkyns nicht nur ein Verhältnis mit seiner Frau gehabt habe, sondern wahrscheinlich auch der Vater seines Sohnes sei.

Nun zahlte es sich aus, einen Eisenbahnmagnaten als Auftraggeber zu haben. Stanford besorgte Muybridge die teuersten Anwälte, die Muybridge trotz seines Geständnisses vor dem Galgen bewahrten. Er wurde von den Geschworenen freigesprochen und kam ohne Konsequenzen mit seiner Tat davon.

Muybridge war zwar inzwischen ein bekannter und etablierter Fotograf, aber die Arbeiten, die ihm schließlich seinen Weltruf einbrachten, standen noch aus. Ab 1877 widmete er sich voll und ganz der Frage, wie sich schnelle Bewegungen fotografisch festhalten lassen.

Bislang waren Belichtungszeiten so lange, dass kein automatischer Verschluss nötig war. Fotografen wie Muybridge nahmen einfach die Kappe von der Linse und setzten sie wieder drauf. Damit ließ sich aber natürlich kein scharfes Bild von einem Rennpferd im Galopp erstellen. Daher erfand Muybridge einen Verschluss, der in die Kamera verbaut und elektrisch ausgelöst werden konnte. Auch tüftelte er an der Empfindlichkeit der Fotoplatten, damit sie in der notwendigen, extrem kurzen Zeit genügend Licht einfangen konnten.

Rennstrecke in Palo Alto | Zwölf Kameras im Holzverschlag fangen die Bewegungen des vorbeipreschenden Pferdes ein.

Muybridge hält die Zeit an

Das Setting seiner ersten Bewegungsstudien ist legendär: Er positionierte zwölf Kameras jeweils im Abstand von einem halben Meter nebeneinander. Für jede Kamera wurde ein Draht ausgelegt, der quer über die Laufbahn führte und mit dem die Verschlüsse der Kameras ausgelöst wurden. Im Mai 1878 war es endlich so weit, Stanford machte ein großes Medienspektakel aus dem Experiment: Nachdem das Pferd die zwölf Kameras passiert hatte, sprintete Muybridge los und entwickelte die Bilder. Nach 20 Minuten kam er zurück, in den Händen das sensationelle Ergebnis: Ihm war es gelungen, die Zeit anzuhalten.

Seine Bilder machten sichtbar, was für das menschliche Auge eigentlich nicht wahrnehmbar ist: Pferde sind beim Galopp tatsächlich kurzzeitig komplett in der Luft. Muybridge katapultierte das Medium Fotografie auf ein neues Niveau und sorgte weltweit für Schlagzeilen.

In den nächsten Jahren fertigte Muybridge zahlreiche weitere Bewegungsstudien an, nicht nur von Pferden. Sein ambitioniertestes Fotoprojekt ist bekannt unter dem Namen »Animal Locomotion«. Zwischen 1883 und 1886 machte er an der University of Pennsylvania in Philadelphia über 100 000 Bilder von Tieren und Menschen in Bewegung.

Anschließend legte er seine Hoffnung in einen Apparat, den er Zoopraxiscope nannte und mit dem er durch Europa tourte. Das Gerät mit bemalten Glasscheiben ist im Grunde eine Art Daumenkino, mit dem kurze Sequenzen projiziert werden konnten, die die Illusion einer fließenden Bewegung erzeugten. Allerdings schwand das Interesse an seinen Vorführungen recht bald. Denn die Zukunft gehörte dem Film und Kino. (Mehr dazu erzählen Hemmer und Meßner: »Kleine Geschichte eines Filmpioniers, der spurlos verschwand«)

Dennoch zählt Muybridge mit seinen Innovationen zu denjenigen, die die Grundlagen für Bewegtbildaufnahmen legten. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in seiner Geburtsstadt Kingston upon Thames, wo er 1904 starb – als einer, der im neuen Medium Fotografie neue technische und auch ästhetische Maßstäbe gesetzt hatte.

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