Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte des Zeitreisens
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Die Idee, durch die Zeit zu reisen, fasziniert die Menschheit schon lange. Es begann mit alten Mythen und setzt sich bis heute mit wissenschaftlichen Thesen fort. Doch die moderne Vorstellung von der Zeitreise nahm erst Gestalt an, als im Jahr 1895 H. G. Wells' Roman »Die Zeitmaschine« erschien. Wells machte aus einer bloßen Idee einen Dauerbrenner der Sciencefiction-Literatur. Aber was macht Wells' Erzählung so besonders, und wie prägt das unser Verständnis von Zeit und Geschichte heute?
Zuallererst lohnt ein Blick darauf, wie Menschen in verschiedenen Epochen Zeit wahrgenommen haben. Alte Kulturen wie die Maya, die Griechen oder chinesische Zivilisationen fassten Zeit meist zyklisch auf. Die Maya schufen präzise Kalender, die sich teils in Zyklen wiederholten. In den griechischen Epen dient Zeit eher als statisches Hintergrundelement, während Philosophen wie Heraklit (um 520–460 v. Chr.) einen Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt beschrieben, also einen Kosmos, der sich ständig wandelt.
Im europäischen Mittelalter dominierte zunächst das lineare Zeitverständnis, geprägt vor allem durch das Christentum. Die Menschen verstanden Ereignisse wie die Kreuzigung Christi als einmalig und nicht wiederholbar. Zudem: Die Geschichte der Menschheit zielte ihrer Ansicht nach auf ein klares Ende hin – die Wiederkunft ebenjenes Erlösers. Zyklische Konzepte blieben dennoch bestehen, zum Beispiel in der Astronomie und Astrologie, weil sich die Himmelskörper in wiederkehrenden Mustern über den Nachthimmel bewegten. Ein neuer Zeitbegriff entwickelte sich dann mit der Erfindung der mechanischen Uhr. Zeit wurde nun zu einer messbaren Größe, die den Alltag und das Berufsleben der Menschen immer präziser durchtaktete und dominierte.
Newton und die Geburt der modernen Zeit
Eine Wende trat schließlich im 17. Jahrhundert ein. Isaac Newton (1643–1727) entwickelte das Konzept der »absoluten Zeit« und veränderte so deren Wahrnehmung. Er betrachtete Zeit als eine unabhängige, gleichmäßig fließende Größe, die als Rahmen für seine physikalischen Gesetze diente. Das unterstützte die Vorstellung einer linearen, objektiven Zeit, die sich messen und berechnen ließ – ein Konzept, das bis heute in vielen wissenschaftlichen Bereichen vorherrscht. Ganz ohne Kritik blieb Newtons Idee natürlich nicht. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) beispielsweise sah Zeit als ein relatives Phänomen, das nur im Kontext von Ereignissen existiert. Einsteins Relativitätstheorie sollte ihm später zumindest in Teilen Recht geben.
Parallel zu Newtons Ideen veränderten andere wissenschaftliche Entwicklungen das Zeitverständnis. Charles Darwins (1809–1882) Evolutionstheorie stellte das Bild einer zielgerichteten Schöpfung in Frage, und mit den Arbeiten des schottischen Geologen James Hutton (1726–1797) war klar geworden, dass sich die Erde über Millionen von Jahren hinweg immer wieder stark gewandelt hatte. Neue Erkenntnisse in der Archäologie und eine immer präzisere Zeitmessung prägten zusätzlich die Idee, dass die Zeit kontinuierlich verlaufe und messbar sei.
Die Vorstellung, per Zeitreise gezielt in die Vergangenheit zurückzukehren oder einen Blick in die Zukunft zu werfen, geht jedoch auf H. G. Wells (1866–1946) zurück. Der Schriftsteller, der vor allem durch sein Werk »Der Krieg der Welten« bekannt wurde, war begeistert von den technologischen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts; er interessierte sich für die darwinistische Evolutionstheorie und den Gedanken, die Zukunft sei dynamisch und veränderbar.
Zwar gab es schon lange vor Wells' Erzählungen über Zeitverschiebungen, doch meist ging es in solchen Legenden um übernatürliche Phänomene, wie im indischen Epos »Mahabharata«. Darin reist König Kakudmi in den Himmel, muss aber anschließend feststellen, dass auf der Erde ganze Epochen verstrichen sind. Auch spätere Erzählungen wie Mark Twains Satire »Ein Yankee am Hofe des König Artus« nutzen das Motiv der Zeitverschiebung.
Wells' Verdienst war es jedoch, Zeitreisen in einen wissenschaftlichen Kontext zu setzen. Damit hat er das Genre der Sciencefiction zwar nicht begründet, aber revolutioniert. In »Die Zeitmaschine« aus dem Jahr 1895 erzählt er die Geschichte eines namenlosen Zeitreisenden, der sich ins Jahr 802 701 versetzt und dort auf die naiven Eloi und die brutalen Morlocks trifft. Wells wollte damit nicht nur ein spannendes Abenteuer erzählen, sondern auch kritisch seine eigene Zeit beleuchten. Lebte er doch in einer Gesellschaft, in der soziale Klassen scharf getrennt waren. Frage war auch, wie die menschliche Evolution fortschreiten würde angesichts des rasanten technischen Wandels. Im Roman konnte Wells solche Gedanken weiterspinnen und Zukunftsszenarien entwickeln.
Mit Einstein in die Zukunft
Damals, als Wells' Roman erschien, fand in der Forschung das Konzept der Zeit als vierte Dimension mehr und mehr Anhänger – es war das Kernstück einer wissenschaftlichen Erklärung für eine Zeitreise. Zuvor hatte es zwar theoretische Ansätze gegeben, doch erst die Beschreibung der Raumzeit als vierdimensionales Kontinuum durch den Mathematiker Hermann Minkowski im Jahr 1908 schuf eine wissenschaftliche Grundlage – derer sich schließlich auch Albert Einstein für seine allgemeine Relativitätstheorie bedienen sollte. Wie der Wissenschaftshistoriker James Gleick darlegt, verbreitete Wells mit seinem Roman »Die Zeitmaschine« diese Ideen auch in Kreisen außerhalb der Forschung; und zugleich regte er neue Diskussionen in Wissenschaft und Philosophie an.
Heute ist bekannt, vor allem auf Grund der Theorien Einsteins, dass Zeitreisen in die Zukunft auf kleiner Skala tatsächlich möglich sind – durch die so genannte Zeitdilatation. Dieser Effekt, der durch hohe Geschwindigkeiten oder starke Gravitationsfelder hervorgerufen wird, sorgt dafür, dass die Zeit für einen Reisenden langsamer vergeht. Astronauten erleben diesen Einfluss minimal, wenn sie im Weltall unterwegs sind. Für Reisen in die Vergangenheit hingegen fehlt bislang eine überzeugende Theorie. Und obwohl Modelle wie Wurmlöcher oder geschlossene zeitartige Kurven hypothetisch solche Reisen ermöglichen könnten, bleiben sie noch reine Spekulation.
Wells' Werk beeinflusste nicht nur die Sciencefiction-Literatur und die Wissenschaft, sondern auch das Verständnis von Geschichte. Der Mittelalterhistoriker Tom Shippey beschreibt in einem Fachaufsatz aus dem Jahr 2016, wie Sciencefiction das historische Konzept der »whig history« in Frage stellt. Gemeint ist damit die Idee, dass Geschichte stets linear verläuft und die Menschheit unweigerlich immer größere Fortschritte hinlegt. Wells' Konzept der Zeitreise lieferte den Anstoß, solche Geschichtsmodelle zu hinterfragen und historische Entwicklungen zu erkennen, die eben nicht einem festen Schema folgen. Zudem wurde klar, dass Geschichte nicht nur bedeutet, eine Persönlichkeit oder eine Lichtgestalt nach der anderen aufzureihen, sondern auch die zahlreichen Zwischentöne zu erkunden. Gesellschaft, Wirtschaft, Bevölkerung – diese und andere Bereiche nahmen Historiker und Historikerinnen nun in den Blick. Letztlich zeigte sich, dass Geschichte sehr viel komplexer verläuft als bis dahin angenommen.
Heute hat die Zeitreise einen festen Platz in Literatur und Popkultur. Ob in Filmen, Büchern oder Serien – das Konzept, durch die Zeit zu springen, regt die Fantasie an und bietet schier unendliche Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen. Doch abgesehen von unterhaltsamer Sciencefiction wird klar, wie wichtig unser Verständnis von Zeit für unser Verständnis von Geschichte ist. Egal, ob in der Wissenschaft oder in der Geschichtsschreibung: Die Idee der Zeitreise hilft uns zu überlegen, wie unsere Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft zusammenhängt.
Auch wenn physische Zeitreisen vielleicht für immer ein Traum bleiben, so eröffnet die Vorstellung davon Wege, über die Grenzen des Hier und Jetzt hinauszudenken. Die Idee hat die Art und Weise revolutioniert, wie wir Geschichte erzählen und verstehen. Nicht zuletzt dank H. G. Wells und seiner Zeitmaschine.
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