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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte von Alice Guy, der ersten Filmemacherin der Welt

Mit einer Fee im fetten Kohl schrieb sie Filmgeschichte. Dann begann ihre außergewöhnliche Karriere im harten Business. Wie die Sache ausging, erzählen unsere Geschichtskolumnisten Hemmer und Meßner.
Alice Guy bei Dreharbeiten
Alice Guy (links neben dem Kamerastativ) bei ihren Dreharbeiten zu »La Vie du Christ« von 1906. Der halbstündige Film erzählt die Passionsgeschichte nach und lieferte eine frühe Form von Kostümkino.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Es war eine denkwürdige Veranstaltung am 22. März 1895 in Paris bei der Gesellschaft zur Förderung der nationalen Industrie. Auguste und Louis Lumière luden ungefähr 200 Bekannte und Geschäftsfreunde ein, um ihnen eine ihrer neuesten Erfindungen vorzustellen, einen Apparat namens »Cinématographe«.

Mit dem Gerät ließen sich Filme drehen, kopieren und an die Wand werfen. Die Vorführung selbst fiel recht kurz aus. Nur einen Film bekam das Publikum zu sehen. Es war das Erstlingswerk von Louis Lumière, gedreht 1895: »La Sortie de l'Usine Lumière à Lyon«. Er zeigte, wie Fabrikmitarbeiter die Lumière-Werke verlassen, und dauerte nur 50 Sekunden.

Doch mehr als diese 50 Sekunden brauchte es nicht, um Léon Gaumont und Alice Guy zu überzeugen. Nicht viel später waren beide selbst im Filmgeschäft und begannen es maßgeblich selbst zu prägen. Gaumont hatte als Prokurist für ein Fotografieunternehmen an der Vorführung teilgenommen, Alice Guy als seine Sekretärin. Nur wenige Monate später, im August 1895, gründete er seine eigene Firma: »L. Gaumont et compagnie«. Sie gilt als ältestes noch heute tätiges Filmproduktionsunternehmen der Welt.

Gaumont hatte anfangs gar nicht vor, selbst Filme zu drehen. Der Unternehmer wollte vor allem Filmkameras verkaufen. Doch Alice Guy, die nach wie vor als Gaumonts Sekretärin arbeitete, trieb die Idee um, mit einigen Demo-Filmen die potenziellen Käufer von der Qualität der Kameras zu überzeugen. Sie stellte ihrem Chef das Vorhaben vor, der willigte ein, und so drehte Guy im Jahr 1896 ihren ersten Film: »La Fée aux choux«, übersetzt »Die Kohlfee«. Er dauert keine Minute und zeigt, wie eine Frau in einem Feenkostüm Babys aus Kohlköpfen holt.

Alice Guy bringt den erzählenden Film auf die Welt

Die 23-Jährige griff damit ein bekanntes Motiv auf. Denn in Frankreich bringt nicht der Storch die Kinder, sondern sie wachsen im Kohl. Zumindest die Jungs, die Mädchen wachsen in Rosen. Faszinierend macht den Film vor allem die Tatsache, dass kein Ereignis dokumentiert wird, stattdessen wird eine (kurze) Geschichte erzählt. »Die Kohlfee« zählt daher zu den ältesten fiktionalen Filmen der Kinogeschichte. Und Guy? Sie ist damit die erste Regisseurin der Filmgeschichte.

»Die Kohlfee« von 1896

In den folgenden Jahren wird sie für mehr als 1000 Filme verantwortlich sein, wie Alison McMahan in ihrer Biografie über die französische Filmpionierin schreibt. Sie übernahm nämlich kurz darauf die Leitung der Filmproduktion bei Gaumont. Das frühe Kino veränderte sich in dieser Zeit rasant. Und Guy war bei all diesen Entwicklungen in vorderster Reihe als Filmemacherin beteiligt. Sie verwendete einige der ersten Spezialeffekte wie Doppelbelichtungen, sie kolorierte Filme, schnitt sie selbst – und drehte mehr als 100 Filme mit Ton, bevor es echte Tonfilme gab. Bild und Ton wurde in dem Fall getrennt voneinander aufgenommen und abgespielt. Gaumont entwickelte ein Gerät, das »Chronophone«, mit dem sich Film und Fonografenwalzen synchron abspielen ließen. Guy nutzte die Technologie ab 1902 für Musik- und Varietéstücke, eine Art früher Musikvideos.

Solax, das größte Filmstudio in der Vor-Hollywood-Ära

1906 kam es zu einer entscheidenden Veränderung in ihrem Leben. Bei Dreharbeiten hatte sie einen Mitarbeiter Gaumonts, Herbert Blaché, kennen gelernt und wenig später geheiratet. Als Gaumont ihren Ehemann in die USA schickte, um dort das Chronophone-Geschäft aufzuziehen, gab Guy den Job als Leiterin der Filmproduktion auf und folgte Blaché über den Atlantik.

Ab 1908 errichtete die Firma in Flushing, im New Yorker Stadtteil Queens, ein Filmstudio für die Chronophone-Filme. Doch deren Absatz kam nie richtig in Fahrt, weshalb die Ateliers meistenteils leer standen. Ein Umstand, der Guy auf den Plan rief. Sie mietete ab 1910 das Studio und begann wieder Filme zu drehen. Gemeinsam mit ihrem Mann und einem weiteren Geschäftspartner gründete sie ihr eigenes Filmstudio »Solax Studios«. Das erste Filmstudio weltweit, das von einer Frau geleitet wurde.

Aufstieg und Fall eines Studios

Erfolg reihte sich an Erfolg. Und Film an Film, bis zu drei Stück entstanden – pro Woche. Im Jahr 1912 hielt das Unternehmen die Zeit für den nächsten großen Schritt gekommen. Solax kaufte sich in Fort Lee, dem damals wichtigsten Ort der Filmindustrie, ein Baugrundstück. Dort, auf der anderen Seite des Hudson River, nur 15 Kilometer Luftlinie von Flushing entfernt, erlebte Amerikas Filmbranche eine erste Blüte. Und Solax mittendrin: Es entstand ein Studio für mehr als 100 000 US-Dollar, das größte der Filmstudios in der Vor-Hollywood-Ära.

Doch in Fort Lee begann für ihr Unternehmen der Anfang vom Ende. Zum einen verlagerte sich die US-Filmbranche nun zusehends in den Westen nach Hollywood; Solax drohte den Anschluss zu verlieren. Zum anderen begannen sich die Produktionsbedingungen zu ändern. Spielfilme, »Features«, waren jetzt das nächste große Ding, immer aufwändiger, immer teurer abgedreht. Zugleich gerieten die USA durch den Beginn des Ersten Weltkriegs in eine Wirtschaftskrise. Und dann gab es noch interne Auseinandersetzungen zwischen Guy und ihrem Mann. Dieser stieg zwar 1913 zum Präsidenten von Solax auf, gründete aber gleichzeitig mit »Blaché Features« seine eigene Filmproduktion. Beide drehten zwar weiter Filme. An den Erfolg der frühen Jahre jedoch konnten sie nie mehr anknüpfen.

Alice Guy (1907) | Noch in Frankreich drehte sie im Auftrag von Léon Gaumont erste große Filme. Den entscheidenden Sprung machte ihre Karriere allerdings in 1910er Jahren in den USA der Prä-Hollywood-Ära.

Zum endgültigen Bruch zwischen den beiden kam es 1918. Blaché verließ seine Frau und zog nach Kalifornien. Guy blieb mit ihren beiden Kindern in New York und arbeitete als freie Filmschaffende. 1920 drehte sie ihren letzten Film. Solax, inzwischen hoch verschuldet, wurde 1922 abgewickelt. Es war auch das Jahr ihrer Scheidung. Die 50 Jahre alte Künstlerin verließ nun die USA und lebte in den nächsten Jahren in Frankreich, wo sie versuchte, wieder als Regisseurin Fuß zu fassen – was ihr nicht gelang.

Eine Filmpionierin gerät in Vergessenheit

Bereits kurz nach dem Ende ihrer Filmkarriere versuchte sie, die Erinnerung an ihre Leistungen als Filmpionierin zu bewahren. Da sie keine einzige Kopie ihrer Filme besaß, machte sie sich in den 1920er Jahren auf die Suche, kontaktierte Studios und Archive. Gefunden hat sie fast nichts. Als sie 1968 am Ort ihrer größten Erfolge in New Jersey starb, hatte sie gerade einmal zwei Filme und Teile eines dritten Films wiederentdeckt. Ein Bruchteil ihres Werks.

Die meisten heute kennen die Brüder Lumière, haben vielleicht vom Filmemacher Georges Méliès gehört, den Namen Gaumont sieht man noch regelmäßig im Kino. Die erste Frau aber mit eigenem Filmstudio, die erste Regisseurin und Pionierin des narrativen Films wurde jahrzehntelang von der Filmgeschichte ignoriert. Erst langsam erfährt sie eine angemessenere Würdigung. Man kann sich inzwischen sogar wieder ein eigenes Bild von ihrem Schaffen machen: Mehr als 100 ihrer 1000 Filme sind wieder aufgetaucht.

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