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Quantenmechanik: Quantenphysik ist Metaphysik mit physikalischen Mitteln

Leidet die moderne Quantentheorie wirklich an Realitätsverlust? Oder verstehen ihre Kritiker schlicht zu wenig von Naturphilosophie?
Landschaft aus Punkten, die Linien bilden

Die Frage nach dem »Wesen«, der »Substanz«, dem »Zugrundeliegenden« einer Sache ist eine der Urfragen der Philosophie. Die alten Griechen sprachen von »Ti esti?«, wir sagen: »Was ist das?« Diese Frage stellt auch die Physik. Genauer betrachtet, schleicht sie um die Frage herum. Das liegt an der besonderen Entwicklung ihrer theoretischen Mittel. Die Physik ersinnt immer elaboriertere mathematische Werkzeuge zur Prognose von Ereignissen. Ihre Präzision ist präzedenzlos.

Doch zwischen mathematischer Beschreibung und der philosophischen Frage, was für eine Realität da eigentlich beschrieben wird, öffnet sich zusehends eine interpretatorische Kluft. Zu sprichwörtlicher Berühmtheit gebracht hat es der Satz des Physikers David Mermin aus dem Jahr 1989: »Shut up and calculate!« Viele lesen diese Aufforderung so: Berechne und prognostiziere aus der Theorie einfach, was für Messdaten ein Experiment liefert, und stelle keine müßigen Fragen über die »Natur« dieser Daten.

Mermins Satz bezog sich auf die Quantentheorie, insbesondere auf die Kopenhagener Interpretation, die quasi dogmatisch festlegte, wie man den mathematischen Formalismus zu deuten hatte. In der Regel zitiert man allerdings von Mermins Bonmot nur die erste Hälfte. Die zweite lautet nämlich: »And I won’t shut up.« Der Physiker wolle nicht aufhören zu fragen, worin eigentlich die Beziehung der Quantentheorie zur Realität bestehe – also die alte philosophische Frage »Was ist das?«.

Das Kopenhagener Dogma

Die Quantentheorie hat sie zweifellos besonders scharf ins Bewusstsein der Physik treten lassen. Aber die Frage stellt sich nicht erst mit Betreten des Mikrokosmos. Sie tauchte schon früher auf, zu einer Zeit, als die Physik ins Stadium der mathematischen Reife trat, als sich die mathematische Ausformulierung von Theorien als ein relativ eigenständiges Projekt etablierte.

Gemeint ist das frühe 19. Jahrhundert, in denen Naturforscher Wärme, Elektrizität und Magnetismus ergründeten. Längst hatte man damals eine große Zahl von empirisch nachweisbaren thermischen, elektrischen und magnetischen Phänomenen zusammengetragen. So kannte man zum Beispiel den Wärmefluss von Körpern höherer zu Körpern niedrigerer Temperatur.

Das Ziel der mathematisch versierteren Physiker war die Verwandlung solcher Phänomenologien in Theorien, idealerweise in Gestalt einer eleganten Gleichung. Jean Baptiste Joseph Fourier stellte 1822 eine »analytische Theorie« auf, welche die gesamte empirische Fülle der Wärmeleitungsphänomene auf die Lösung einer Differenzialgleichung zu reduzieren suchte.

Von der Beobachtung zur Theorie

Die Frage aber – die »naturphilosophische« Frage –, was im Wärmefluss eigentlich »fließe«, kümmerte Fourier kaum. Andere Physiker fanden ähnliche Gleichungen für Naturphänomene, etwa Laplace, Lagrange, Liouville, Dirichlet, Hamilton. Eine wahre Schatztruhe äußerst mächtiger mathematischer Gleichungen öffnete sich.

Die vielleicht wichtigsten waren die maxwellschen Gleichungen des Elektromagnetismus. Um sie entspann sich eine intensive und lange Debatte, was sie denn eigentlich beschreiben würden. Auf die Frage »Was ist Elektromagnetismus?« führten Physiker das fiktive Medium des Lichtäthers ein. Als der Nachweis dieser »Substanz« nicht gelang, monierten die Skeptiker: Elektromagnetismus ist das, was sich mit den maxwellschen Gleichungen berechnen und beschreiben lässt. Man könnte auch sagen: Shut up and calculate.

Sucht man im 20. Jahrhundert nach einer ähnlich bedeutenden Formel, stößt man schnell auf die Schrödinger-Gleichung. Sie ist die Grundlage zur Berechnung von Quantenphänomenen. Um die Frage nach der grundlegenden Realität, die sie beschreibt, summt ein Basar der Deutungen. Was nicht wenige Physiker dazu verleitet, in der Quantentheorie schlicht ein Prognoseinstrument zu sehen, das nichts über die Realität aussagt. Schon Niels Bohr leistete dieser Meinung Vorschub, als er dekretierte: »Es gibt keine Quantenwelt.«

»Ich will die Seltsamkeit der Quantentheorie zelebrieren, nicht leugnen«

Nun sind Differenzialgleichungen Naturbeschreibung in hochkonzentrierter Form. Die Naturwissenschaft erweist sich an vorderster Front – also in der theoretischen Grundlagenphysik – tatsächlich primär nicht als ein Studium der Natur, sondern als ein Studium der mathematischen Gleichungen der Natur. Deshalb erscheint es für manchen Beobachter so, als sei die theoretische Physik weniger Physik im Sinn eines klar definierten Wechselspiels von Experiment und Theorie, sondern bloß elaborierte Mathematik plus Metaphysik, also Formeln plus beliebige Deutung.

Von der Quantentheorie zur Realität

Mermins trotziger Ausspruch »I won’t shut up« lässt sich vor diesem Hintergrund als Plädoyer für eine Physik interpretieren, die sich mit Metaphysik nicht zufriedengibt, sie aber auch nicht völlig außer Acht lässt: »Ich will die Seltsamkeit der Quantentheorie zelebrieren, nicht leugnen«, begründete er seine Aussage. Schließlich verrate uns die Quantenphysik etwas Interessantes über unsere Denkweise. »Darüber, wie bestimmte mächtige, aber fehlerhafte geistige Werkzeuge, die uns einst selbstverständlich erschienen, unser Denken nach wie vor auf subtil verborgene Weise infizieren.«

Damit dürfte vor allem die klassische Physik gemeint gewesen sein. Ihre konzeptuellen Werkzeuge haben sich als zu beschränkt für die Quantenwelt erwiesen und dennoch brauchen wir sie, um Tische, Lampen und Autos zu beschreiben. Sie prägen unser Realitätsverständnis. Und genau dies führt zu einem Clash mit dem Quantenverständnis – was aber vielleicht vor allem etwas über unser bisheriges Realitätsverständnis aussagt.

Wenn man zum Beispiel die Länge, Höhe und Breite eines Tischs messen will, legt man ein Metermaß an. Tisch und Stab sind – wie man sagt – zwei lokal unabhängige Objekte. Quantentheoretisch müsste man dagegen die Situation so beschreiben: Stab und Tisch interagieren, so dass am Ende ein neuartiges – ein nicht lokales – System Maßstab-Tisch entsteht, das für sich allein die Realität beansprucht. Maßstab und Tisch als lokale Einzelobjekte sind nicht real.

Selbstverständlich beschreiben wir Alltagsdinge nicht auf diese Weise. Wohl aber Quantenobjekte wie Elektronen. Und dazu brauchen wir die Zustands- oder Wellenfunktion von Schrödinger, Kernstück der quantentheoretischen Beschreibung. Sie legt fest, was wir am Elektron messen können.

Aus zwei Objekten wird ein einziges

Die Ungereimtheit entsteht in dem Moment, in dem wir sie durch die klassische Brille betrachten. Klassisch sagen wir: Wir messen mit einem Apparat Eigenschaften des Elektrons. Die Quantenphysiker sagen stattdessen: Der Messapparat interagiert mit dem Elektron auf eine Weise, dass nach dem Prozess ein einziger Gesamtzustand Elektron-plus-Apparat resultiert.

Wir sprechen also nicht mehr von zwei separaten Objekten, sondern von einem einzigen, dessen Teile auch weit voneinander entfernt und miteinander »verschränkt« sein können. All dies sagt die Schrödinger-Gleichung voraus. Sie führt uns mit anderen Worten dazu, den Begriff der »lokalen« Realität aufzugeben, der uns aus dem Alltag wohlvertraut ist.

Heißt das, dass die Quantentheorie den Realitätsbezug verloren hat, handelt es sich bloß um Metaphysik? Mitnichten. Sie ermöglicht spektakuläre Experimente, welche die eben beschriebene Nichtlokalität bestätigen. Und in diesem Sinn erweitert sie den Realitätshorizont über unser Alltagsverständnis hinaus.

Wir vergessen leicht – »infiziert« durch unser klassisches Denken –, dass die Realität von physikalischen Entitäten grundsätzlich theorieabhängig ist; dass mit anderen Worten die Kritik im Namen »gefühlter« Alltagsrealität nicht greift. Man denke nur an die Unzahl moderner technischer Einrichtungen, die undenkbar wären ohne »Fiktionen« wie elektromagnetische Felder, Atome, Elektronen, Positronen.

Hervorragende Realitätsbeschreibung

Die Physik ist mehr als eine Sammlung schöner Differenzialgleichungen. Sie ist ein Weltbild. Sie sagt, woraus die Dinge sind und warum die Welt so ist, wie sie ist. Sie gibt Antworten auf die uralte Frage: »Ti esti?« Dies ist zumindest die vorherrschende Haltung unter Physikern. Und sie haben Recht, auf dieser Intuition zu beharren.

Wenn die Schrödinger-Gleichung sich als derart hervorragend erweist, Phänomene vorherzusagen, welche sich die Physiker des 19. Jahrhunderts nicht in ihren kühnsten Spekulationen vorstellen konnten, dann ist die indignierte Frage gerechtfertigt: Und diese Gleichung soll nichts mit der Realität zu tun haben?

Wenn die Quantentheoretiker heute intensiv darüber diskutieren, ob der Wellenfunktion etwas Reales entspreche, dann handelt es sich sozusagen um die vorerst letzte Version einer Debatte, die spätestens im 19. Jahrhundert anhob und die zur modernen Physik gehört wie das Experiment.

Es heißt, kurz gesagt, zu begreifen, dass Fiktion und Realität nicht Gegensätze sind, sondern Kette und Schuss eines theoretischen Gewebes, mit dem wir die Welt immer tiefer verstehen. Wer also gegenüber der Quantentheorie den Metaphysikvorwurf erhebt, verkennt genau dies. Oder anders formuliert: Quantenphysik ist Metaphysik mit physikalischen Mitteln.

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