Die fabelhafte Welt der Mathematik: In vier Dimensionen geschehen seltsame Dinge
»Dies ist entweder Wahnsinn oder die Hölle!« – »Es ist keines von beiden«, erwiderte ganz ruhig die Stimme des Kugelförmigen. »Es ist das Wissen, es sind die Drei Dimensionen: Öffnen Sie Ihr Auge erneut und versuchen Sie, ruhig hinzusehen.«
Diese Szene stammt aus Edwin Abbott Abbotts Roman »Flächenland« aus dem Jahr 1884. Darin trifft der Protagonist A. Square, der in einer zweidimensionalen Welt lebt, erstmals eine dreidimensionale Kugel. Obwohl es vordergründig eine Satire der viktorianischen Gesellschaft ist, enthält das Werk auch eine mathematische Abhandlung über die vierte Dimension. Was wenn wir eigentlich in einer vierdimensionalen Welt leben, aber – ähnlich wie A. Square – bisher nur in einer niedrigeren Dimension gefangen waren?
Gedanken über höhere Dimensionen verbinden viele mit Sciencefiction, etwa mit den Büchern von H. P. Lovecraft oder auch Hollywood-Blockbustern wie »Interstellar« von Christopher Nolan. Doch auch die Naturwissenschaften befassen sich seit Jahrhunderten mit dem Studium höherer Dimensionen. Mathematikerinnen und Mathematiker untersuchen beispielsweise, welche geometrischen Objekte in diesen unvorstellbaren Umgebungen existieren könnten, wie sie sich ordnen und vermessen lassen. Und dabei stießen sie auf eine Überraschung: Während sich die niedrigen Dimensionen (eins, zwei und drei) sowie die fünf-, sechs-, sieben- oder noch höherdimensionalen Fälle relativ einfach analysieren lassen, sorgen vier Dimensionen für erstaunlich große Probleme. »Viele Theoreme gelten für alle Dimensionen n, außer für n = 4«, erklärt der Mathematiker Ciprian Manolescu von der Stanford University. »Gerade das macht sie so spannend.«
Aber weshalb sind gerade vier Dimensionen so besonders? Um das zu verstehen, muss man sich in das abstrakte Gebiet der Topologie vorwagen: eine Art Geometrie, die das Messen verlernt hat. In der Topologie geht es zwar um geometrische Figuren, allerdings spielen dabei »Details« wie Distanzen oder die genaue Krümmung keine Rolle. So ist eine eingedrückte Kugel mit einer Delle identisch zu einer gewöhnlichen Kugel. Oder ein Kreis ist dasselbe wie ein Viereck. Anschaulich gesprochen gelten zwei Objekte als topologisch gleich, wenn man sie ineinander verformen kann, ohne Löcher in sie hineinzureißen oder sie an einer Stelle zusammenzukleben.
Auch wenn das kompliziert klingt, benutzen wir in unserem Alltag ständig die Topologie, ohne es zu merken. So stellen wir uns unseren Planeten als Kugel vor, auch wenn die Erde streng genommen von einer perfekten runden Form abweicht. Ein anderes Beispiel ist das S-Bahn-Netz des Rhein-Main-Gebiets: Dabei handelt es sich nicht um eine exakte Abbildung des Schienenverkehrs, was sehr kompliziert wäre. Stattdessen genügt es uns zu wissen, in welcher Reihenfolge die Haltestellen auftauchen und wo sich die verschiedenen Linien kreuzen.
In der Topologie ist es genau so: Mathematiker versuchen, Objekte auf ihre wesentlichen Eigenschaften herunterzubrechen. So können sie beispielsweise Aussagen über eine ganze Klasse von Objekten treffen, ohne jedes dafür einzeln untersuchen zu müssen. Ein Beispiel dafür: Man kann jede geschlossene Schleife auf einer Kugeloberfläche zu einem Punkt zusammenziehen. Das gilt für alle zweidimensionalen Flächen, die topologisch gesehen einer Kugeloberfläche entsprechen.
Wenn man hingegen die Oberfläche eines Donuts (ein so genannter Torus) betrachtet, gibt es zwei Arten von Schleifen, die sich nicht zusammenziehen lassen. Gleiches gilt für alle anderen zweidimensionalen Oberflächen, die ein Loch haben.
Solange man in einer, zwei oder drei Dimensionen bleibt, ist noch alles gut. Doch ab vier Dimension beginnen die Probleme. Denn die Verformungen, die man vornehmen kann, um zwei Figuren ineinander umzuwandeln, können in höheren Dimensionen komplizierter ausfallen: Wenn man eine glatte Figur in eine andere glatte Form kneten möchte, können während des Prozesses plötzlich spitze Ecken und Kanten entstehen. In zwei Dimensionen übertragen, würde das anschaulich bedeuten: Wenn man etwa einen Kreis in eine Ellipse überführt, nimmt der Kreis während des Vorgangs die Form eines Sterns an. In einer, zwei oder drei Dimensionen ist das niemals nötig, in vier Dimensionen lässt sich das in manchen Fällen allerdings nicht umgehen.
Dieses Phänomen hat dazu geführt, dass es zwei Arten von Gleichheit in der Topologie gibt: Einmal sind zwei Objekte allgemein topologisch gleich, wenn man sie ineinander verformen kann – unabhängig davon, wie der Prozess abläuft. Es gibt aber auch eine strengere Form von Gleichheit: Zwei Figuren sind diffeomorph, wenn sie sich auf glatte Weise ineinander verformen lassen, das heißt, ohne dass jemals Ecken und Kanten entstehen. In höheren Dimensionen gibt es also Objekte, die zwar topologisch gesehen gleich sind, aber nicht diffeomorph – sich also nicht auf glatte Weise ineinander umwandeln lassen.
Das ist also eine allgemeine Besonderheit von höheren Dimensionen. Allerdings stellen sich vier Dimensionen als besonders dar: Wenn man einen Raum Rn betrachtet, der von n reellen Zahlen in jede Dimension aufgespannt wird (also so etwas wie ein n-dimensionales Koordinatensystem), dann ist dieser für alle Dimensionen n außer vier immer einzigartig. Das heißt: Alle Räume, die topologisch gleich zum n-dimensionalen Raum Rn sind, sind dazu auch diffeomorph. Man wird beim Umformen des einen in den anderen also nicht auf Ecken und Kanten stoßen. 1982 stellte der Mathematiker Michael Freedman fest, dass der vierdimensionale Raum R4 eine Ausnahme bildet. Tatsächlich gibt es unendlich viele (sogar überabzählbar viele!) vierdimensionale Figuren, die sich auf unterschiedliche Weise in den vierdimensionalen Raum R4 umformen lassen, ohne diffeomorph zu sein – alle weisen während der Verformung also eine andere Art von Muster aus Ecken und Kanten auf.
Das macht den vierdimensionalen Raum zu einem sehr seltsamen Ort. Ein Beispiel: Während sich kompakte (abgeschlossene und beschränkte) Mengen in allen Rn immer in einer Kugel einfassen lassen, ist das bei manchen nicht diffeomorphen Kopien von R4 nicht der Fall (beim »gewöhnlichen« R4 allerdings schon). Das heißt, die Gestalt dieser Räume kann so verworren sein, dass selbst kompakte Mengen davon extrem komplizierte Strukturen annehmen. Diese enthalten so viele Knicke und Spitzen, dass es unmöglich ist, sie irgendwie zu glätten und somit in einer Kugel einzufassen. Anders ist es bei zwei Dimensionen: Jedes Polygon lässt sich zu einem Kreis glätten.
Doch nicht nur der vierdimensionale Raum an sich ist seltsam, sondern auch vierdimensionale Figuren. Stellen Sie sich vor, Sie würden in einer fünfdimensionalen Welt leben und möchten vierdimensionale Oberflächen sortieren: Welche sind diffeomorph zueinander? Welche Klassen von Oberflächen gibt es? Um das zu verstehen, ist es einfacher, zunächst mit unserer vertrauten dreidimensionalen Welt anzufangen.
Dort können wir zweidimensionale Oberflächen untersuchen, etwa Kugeloberflächen oder einen Torus. Wie sich herausstellt, lassen sich alle (abgeschlossenen) 2-D-Flächen in nur drei Kategorien einteilen, wie Henri Poincaré bereits 1907 bewies: Entweder sie sind äquivalent (diffeomorph) zu einer Kugeloberfläche, zu aneinanderhängenden Donuts oder zu aneinanderhängenden projektiven Flächen (zu denen etwa die Kleinsche Flasche zählt). Das heißt: Egal wie kompliziert eine zweidimensionale Figur aussehen mag, sie lässt sich immer in eine der drei Kategorien umformen – und zwar auf glatte Weise.
Würde man in der vierten Dimension leben und dreidimensionale Oberflächen betrachten, ergeben sich schon acht verschiedene Kategorien: Man kann jede dreidimensionale Oberfläche auf acht Grundformen reduzieren. Das hatte William Thurston 1982 vermutet, die so genannte Geometrisierung von 3-Mannigfaltigkeiten wurde aber erst 2003 von Grigori Perelman bewiesen, der damit ganz nebenbei auch die Poincaré-Vermutung belegte: Jede dreidimensionale Oberfläche ohne Loch lässt sich zu einer dreidimensionalen Kugeloberfläche verformen. Das Ergebnis zeigt, dass es auch für dreidimensionale Oberflächen ein Klassifikationsschema gibt.
Wendet man sich höheren Dimensionen zu und möchte Oberflächen in fünf-, sechs- oder höheren Dimensionen untersuchen, wird es schon schwieriger. Wie kann man solche komplizierten Objekte kategorisieren? Was Mathematiker dafür oft heranziehen, ist die so genannte Whitney-Methode: Man kann sich vorstellen, dass man ein Lasso um eine Figur wirft und anhand des Verhaltens beim Zusammenziehen untersucht, ob die Oberfläche Löcher hat. Wie bereits erwähnt, lässt sich auf diese Weise eine Kugel von einem Torus unterscheiden. Während sich jede geschlossene Schleife auf einer Kugel zu einem Punkt zusammenziehen lässt, ist das beim Torus nicht der Fall. Das funktioniert auch für Oberflächen, die mehr als vier Dimensionen haben, sehr gut. Wenn man ein Lasso zusammenzieht, entsteht eine kreisförmige Fläche, eine Scheibe. Um bestimmen zu können, welche Art von Oberfläche man vor sich hat, muss man alle möglichen Arten von entstehenden Scheiben getrennt voneinander untersuchen. Die Lasso-Flächen können sich aber überlappen – was aus mathematischer Sicht ein Problem darstellt. Für n > 4 kann man die zusätzlichen Dimensionen nutzen, um zwei Scheiben voneinander zu trennen. Das ähnelt dem Vorgang, wenn man zwei sich schneidende Geraden in einer Ebene trennen möchte: Nach links/rechts oder oben/unten ausweichen bringt nichts. Nur durch eine dritte Raumdimension kann man die Geraden über die Tiefe voneinander trennen. Gleiches funktioniert in fünf Dimensionen bei zwei zweidimensionalen Scheiben. Auf diese Weise lässt sich mit der Lasso-Methode bestimmen, welche Oberflächen mit einer Dimension von fünf oder mehr diffeomorph zueinander sind.
Damit hat man also alle Kategorien von zwei, drei, fünf und mehrdimensionalen Oberflächen gefunden. Und Sie haben es wahrscheinlich geahnt: Die vierte Dimension bereitet wieder einmal Schwierigkeiten. Denn wie sich herausstellt, ist es unmöglich, diffeomorphe vierdimensionale Objekte zu klassifizieren – in dieser Welt herrscht völliges Chaos!
Die vierdimensionale Welt birgt darüber hinaus ein Geheimnis – laut dem Topologen Ciprian Manolescu das wohl bedeutendste Problem der Topologie: Lässt sich jede vierdimensionale Oberfläche ohne Loch diffeomorph zu einer vierdimensionalen Kugeloberfläche verformen? Das ist die glatte Poincaré-Vermutung. Die gewöhnliche Poincaré-Vermutung wurde zwar schon für alle Dimensionen n bewiesen, allerdings nur im allgemeinen topologischen Sinn: Dabei sind auch Verformungen erlaubt, die Ecken und Kanten hervorrufen. Topologen sind deshalb daran interessiert, wie die n-dimensionale Poincaré-Vermutung ausfällt, wenn man nur diffeomorphe Verformungen erlaubt. Inzwischen haben sie eine Antwort für jede Raumdimension gefunden – außer für n = 4. In sieben Dimensionen gilt sie zum Beispiel nicht, dort gibt es 28 verschiedene Versionen einer Kugeloberfläche, so genannte exotische Sphären: also 28 unterschiedliche Figuren ohne Loch, die sich nur mit Hilfe von Ecken und Kanten ineinander umformen lassen. Für alle anderen Dimensionen lässt sich die Anzahl der exotischen Sphären ebenfalls berechnen, die teilweise sehr groß ausfallen kann. In vier Dimensionen hat man bisher noch kein Objekt gefunden, das kein Loch besitzt und nicht diffeomorph zur Kugel ist – man konnte aber auch noch nicht beweisen, dass keines existiert.
n | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 |
# | 1 | 1 | 1 | ? | 1 | 1 | 28 | 2 | 8 | 6 | 992 | 1 |
Die meisten Mathematiker gehen davon aus, dass es exotische vierdimensionale Sphären gibt. Schließlich existieren bereits unendlich viele unterschiedliche Versionen des vierdimensionalen R4-Raums. Doch wer weiß, am Ende überrascht uns die vierte Dimension vielleicht auch in diesem Fall. Denn wenn man eines gelernt hat, dann ist es, dass man beim Vierdimensionalen nicht auf sein Bauchgefühl hören sollte.
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