Freistetters Formelwelt: Ein etwas anderes Lineal
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Man muss nicht erklären, wie ein normales Lineal funktioniert. Es ist ein gerades Stück Plastik, Holz oder Metall, auf dem sich in Abständen von jeweils einem Millimeter (oder Zentimeter) entsprechende Markierungen finden. Genau so sollte es auch sein. Was will man zum Beispiel mit einem Lineal anfangen, bei dem die Skala nur die Werte 0, 1, 4 und 6 anzeigt?
Tatsächlich sehr viel – zumindest wenn man verstanden hat, was dabei passiert. Zwischen den Positionen 0 und 1 beträgt der Abstand 1. Zwischen 1 und 4 liegen 3 Einheiten, zwischen 4 und 6 sind es 2. Zwischen 0 und 4 können wir 4 Einheiten abmessen, zwischen 1 und 6 liegen 5 Einheiten und das ganze Lineal ist 6 Einheiten lang. Oder, etwas allgemeiner und klarer ausgedrückt: Es gibt auf dem ganzen Lineal keine zwei Paare von Markierungen mit dem gleichen Abstand zueinander. Mathematisch lässt sich das durch diese Formel ausdrücken: \[ \begin{split} A&= \{ a_1, a_2, ..., a_n\} ,\ \ \ \ a_1 < a_2 <... < a_n \\ x&= a_j-a_i, \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ a_i, a_j \in A \end{split} \]
Eine solche Menge an ganzen Zahlen A, für die die Gleichung in der zweiten Zeile für jede ganze Zahl x höchstens eine Lösung hat, wird Golomb-Lineal genannt. Benannt ist es nach dem US-amerikanischen Mathematiker Solomon Golomb. Es geht natürlich nicht darum, dass man solche Lineale als konkrete Objekte produziert und benutzt. Es handelt sich um ein abstraktes Konzept der Zahlentheorie, das trotzdem durchaus reale Anwendungen hat.
Handfeste astronomische Anwendungen
Es gibt zahlreiche Probleme, bei denen man mit einer möglichst kleinen Anzahl an Objekten eine möglichst große Anzahl an unterschiedlichen Abständen abdecken will. Ein Beispiel dafür findet sich in der Radioastronomie: Bei der Technik der «Interferometrie» geht es darum, die Daten mehrerer Antennen zu verbinden, um so ein Teleskop zu simulieren, das größer ist als die jeweiligen Einzelantennen. Dazu müssen die Geräte aber in möglichst vielen unterschiedlichen Abständen voneinander aufgestellt werden, um möglichst viele unterschiedliche Datensätze zu erhalten. Mit Golomb-Linealen lässt sich berechnen, wie viele dieser Abstände man mit einer vorgegebenen Anzahl an Teleskopen erzeugen kann.
Die Menge {0,1,4,6} aus dem anfänglichen Beispiel ist ein Golomb-Lineal der Ordnung 4 und der Länge 6. In dem Fall handelt es sich um ein Lineal, das sowohl optimal als auch perfekt ist. Optimal bedeutet, dass es kein kürzeres Lineal mit derselben Ordnung gibt. Die Menge {0,1,3,7} ist zum Beispiel ebenfalls ein Golomb-Lineal der Ordnung 4, aber seine Länge beträgt 7 Einheiten und deswegen ist es nicht optimal.
Perfekt ist ein Lineal dann, wenn es keine Lücken gibt – wenn sich also alle möglichen Abstände bis zur gesamten Länge mit dem Lineal abmessen lassen. Bei {0,1,4,6} ist das der Fall: Ordnet man die Abstände zwischen den Markierungen aufsteigend, erhält man die lückenlose Reihe: 1, 2, 3, 4, 5, 6. Bei der Menge {0,1,3,7} hingegen lässt sich ein Abstand von 5 Einheiten nicht abmessen, es ist also nicht perfekt.Man kann mathematisch beweisen, dass es keine perfekten Golomb-Lineale gibt, deren Ordnung größer als 4 ist. Wie die jeweils optimalen Lineale für eine bestimmte Ordnung aussehen, ist mit steigender Ordnung immer schwieriger zu berechnen.
Es ist vergleichsweise einfach, ein Golomb-Lineal zu finden. Zu beweisen, dass es auch optimal ist, ist dagegen enorm schwer. Ein Lineal für die Ordnung 24 wurde zum Beispiel schon 1967 gefunden. Aber erst im Jahr 2004 konnte bewiesen werden, dass es optimal ist. Aktuell kennt man alle optimalen Lineale bis zur Ordnung 28; Letzteres hat eine Länge von 585 Einheiten und es konnte nur durch massiven Computereinsatz gefunden werden. Dennoch hat es acht Jahre gedauert, bis man erfolgreich war, weswegen derzeit auch nicht geplant ist, die Suche auf ein Lineal der Ordnung 29 zu erweitern.
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