Leseprobe »Vom Universum des Denkens«: Von Subjekt und Prädikat
Das Jahr 1879 war für die Wissenschaft aus mehreren Gründen von Bedeutung: Am 14. März kam Albert Einstein zur Welt; am 20. März trug Josef Stefan vor der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sein Strahlungsgesetz vor; am 19. Juli durchfuhr Adolf Erik Nordenskiöld die Nordostpassage, die im Nordpolarmeer Atlantik und Pazifik verbindet; am 21. Oktober ließ Thomas Alva Edison zum ersten Mal eine Glühbirne dauerhaft leuchten; und im selben Jahr, das genaue Datum ist unbekannt, vollendete der deutsche Mathematiker Gottlob Frege seine Begriffsschrift, ein 90 Seiten dünnes Buch, dessen Untertitel ‚Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens‘ kein geringes Ziel erahnen lässt.
Die Unzulänglichkeit der natürlichen Sprache verhindert, so Frege, strenge Beweisführung selbst in Fällen rein logischer Zusammenhänge, in denen man also nicht auf Erfahrung zurückgreifen muss. Die Mathematiker haben dieses Problem auf ihrem eigenen Gebiet durch eine exakte Formelsprache gelöst. Das brachte Frege auf die Idee einer Formelsprache auch für Belange, die über die Mathematik hinausgehen. Das Verhältnis seiner „Begriffsschrift“ zur Sprache des Lebens verglich er mit dem des Mikroskops zum Auge: Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit machen das Auge vielseitig anwendbar und dem Mikroskop überlegen; sobald aber wissenschaftliche Zwecke scharfe Unterscheidung verlangen, genüge es nicht. Das Mikoskop hingegen sei gerade solchen Zwecken angepasst, darum aber auch für alle anderen unbrauchbar.
Nun war zur Zeit Freges die Syllogistik wohlbekannt und auch die Aussagenlogik hoch entwickelt: Über Aristoteles’ Urteile wusste man so viel wie heute; über Aussagen, deren Verneinung und Verknüpfung sowie die Schlüsse aus ihnen beinahe so viel. Was gab es also noch zu tun? Machen wir uns an einigen Beispielen klar, welche Schlüsse auf der Grundlage der damaligen Logik nicht möglich waren: ‚Platon war älter als Aristoteles, daher war Aristoteles jünger als Platon‘. ‚Salzburg liegt zwischen München und Wien, daher liegt München nicht zwischen Salzburg und Wien‘. ‚Die meisten Vögel können fliegen, die meisten können schwimmen, daher können einige beides‘. Zwar hatte De Morgan 1859 erkannt, dass Schlüsse wie der erste und der zweite Relationen zwischen den beteiligten Objekten wiedergeben, doch zu einer vollständigen Theorie der Relationen war er nicht vorgedrungen; ebenso wenig wie Peirce, der sich um 1870 des Themas angenommen hatte. In Bezug auf den dritten Schluss war De Morgan klar, dass es einer Quantifizierung bedarf, doch auch in diesem Punkt blieb sein Werk unvollständig.
Frege löste in einem Aufwaschen beide Probleme, indem er die Logik der Prädikate formalisierte. Laut Aristoteles ist ein Prädikat etwas, das von einem Subjekt ausgesagt wird. Für den Mathematiker Frege waren Prädikate Funktionen, und diese Auffassung erweiterte den Begriff des Prädikats und machte ihn breiter einsetzbar. Dass Wasserstoffgas leichter als Kohlensäuregas ist, kann man auf vier Arten durch Funktionen ausdrücken: Erstens durch eine Funktion ‚leichter als Kohlensäuregas‘, deren Argument ‚Wasserstoffgas‘ ist; zweitens durch eine Funktion ‚schwerer als Wasserstoffgas‘, deren Argument ‚Kohlensäuregas‘ ist; drittens durch eine Funktion ‚leichter als‘, die zwei Argumente hat, ‚Wasserstoffgas‘ und ‚Kohlensäuregas‘; und viertens durch eine Funktion ‚schwerer als‘ mit den gleichen zwei Argumenten, aber in umgekehrter Reihenfolge. Während die ersten beiden Funktionen nur jeweils ein Argument haben und damit Prädikate in Aristoteles’ Sinn wiedergeben, sind die letzten beiden neu: Es handelt sich um Funktionen mit zwei Argumenten: zweistellige Prädikate; und zwei- oder mehrstellige Prädikate können als Relationen interpretiert werden. Dass Salzburg zwischen München und Wien liegt, ist ein dreistelliges Prädikat, nämlich die Relation ‚liegt zwischen‘.
Wie für die Aussagenlogik, so gibt es auch für die Prädikatenlogik heute keine einheitliche Notation. Wir verwenden ab hier Schreibungen, die sowohl in der Logik als auch in der Mathematik bekannt sind. Es ist üblich, Prädikate in Großbuchstaben zu schreiben, ihre Argumente in Kleinbuchstaben. Dass x die Eigenschaft P hat, wird dann durch ‚P(x)‘ ausgedrückt; dass x und y in der Relation R zueinander stehen, durch ‚R(x, y)‘. Zur Quantifizierung betrachtete Frege Ausdrücke wie: ‚Es gibt einige Dinge, die die Eigenschaft P haben‘, ‚Es gibt einige Dinge, die nicht die Eigenschaft P haben‘ usw. In einer Schreibweise, die auf Peano zurückgeht, kann ‚für mindestens ein‘ durch das Zeichen ‚‘ ausdrückt werden und ‚für alle‘ durch ‚‘. Da man ‚‘ auch als ‚es gibt ein‘ lesen kann, heißt ‚‘ Existenzquantor; ‚‘ ist der Allquantor. ‚Es gibt einige Dinge, die die Eigenschaft P haben‘ wird dann durch ‚‘ ausgedrückt, wörtlich übersetzt: ‚Für mindestens ein x gilt P(x)‘. ‚Es gibt einige Dinge, die nicht die Eigenschaft P haben‘ heißt ‚‘, wörtlich übersetzt: ‚Für mindestens ein x gilt nicht P(x)‘. Die zweite Aussage ist gleichbedeutend damit, dass nicht alle Dinge die Eigenschaft P haben: . Damit haben wir eine Umformungsregel der Prädikatenlogik entdeckt. In ihr steckt die Tatsache, dass die Verneinung einer Allaussage eine Existenzaussage ist, und ihre Negation ergibt, dass die Verneinung einer Existenzaussage eine Allaussage ist.
Natürlich folgen Aussagen, auch wenn sie Funktionen und Quantoren enthalten, den Gesetzen der Aussagenlogik. Doch diese kennen von den Aussagen nur die Wahrheitswerte – wahr und falsch gibt falsch; wahr oder falsch gibt wahr; der Inhalt der Aussagen ist gleichgültig. Nun kommen die Gesetze über Prädikate hinzu. Auch sie berücksichtigen nicht jedes Detail der Aussage, immerhin aber deren Zusammensetzung aus Funktionen und Quantoren. Hier treffen Aristoteles und Frege einander: Denn ‚Alle S sind P‘ bedeutet nichts anderes als und ist eine prädikatenlogische Aussage. Während aber Aristoteles’ Urteile nur vier Formen hatten: ‚Alle S sind P‘, ‚Einige S sind P‘, ‚Alle S sind nicht P‘ und ‚Einige S sind nicht P‘, lässt die Prädikatenlogik viel mehr zu. Setzt man ‚M(x)‘ für ‚x ist ein Mensch‘ und ‚V(x, y)‘ für ‚Der Vater von x ist y‘, dann wird ‚Jeder Mensch hat einen Vater‘ durch ‚‘ ausgedrückt. Behaupten konnte diesen Satz schon Aristoteles; rechnen kann man mit ihm erst seit Frege.
Die Begriffsschrift gipfelte in einem neuen, leistungsfähigen Kalkül: einer Prädikatenlogik, die auch die Aussagenlogik beinhaltet, versehen mit neun Axiomen und drei Schlussregeln. Sie gilt als erstes umfassendes System der formalen Logik und als größter Schritt seit Aristoteles. Gelesen wurde sie jedoch lange nicht, aus mehreren Gründen: Erstens wegen Freges eigenwilliger Bildformeln, die heute die Geschichtsbücher als Sehenswürdigkeit bereichern. Zweitens, weil sie vielleicht zu viele Neuerungen auf einmal enthielt. Drittens – und das war Freges Meinung –, weil sie sich nicht einordnen ließ: Die Mathematiker zählten sie wegen des gehäuften Vorkommens von Ausdrücken wie ‚Begriff‘ oder ‚Urteil‘ zur Metaphysik und nahmen sie nicht ernst, die Philosophen hielten sie wegen der vielen Formeln für Mathematik und brachten sich durch Nichtbeachtung in Sicherheit. Ihre Bedeutung erkannte man erst Jahre später, als Russell in seinen eigenen Werken auf sie hinwies und Frege die Stellung zuerkannte, die dieser seither einnimmt.
Wir haben im zweiten Kapitel die Aussagenlogik als axiomatische Theorie kennengelernt und nun auch die Prädikatenlogik. Rekapitulieren wir, was eine axiomatische Theorie ausmacht: Gegeben sind eine oder mehrere Aussagen, die ohne Beweis angenommen werden, die Axiome, zusammen mit einer oder mehreren Schlussregeln. Aus den Axiomen kann man durch Anwenden der Schlussregeln neue Aussagen ableiten und so, wenn die Theorie vollständig und widerspruchsfrei ist, jeden wahren Satz der Theorie und nur die wahren Sätze erhalten. Beispielsweise lautet Freges erstes Axiom: , seine erste Schlussregel ist der Modus ponens. Die oben genannte Äquivalenz: ist kein Axiom, sondern aus den Axiomen ableitbar. In Worten sagt sie: ‚Dass es einige Dinge gibt, die nicht die Eigenschaft P haben, ist gleichbedeutend damit, dass nicht alle Dinge die Eigenschaft P haben‘. Zweifellos eine nützliche Erkenntnis. Zweifellos aber auch eine Erkenntnis, zu der jedes Kind kommt, ganz ohne Axiom. Das führt uns zu der Frage, ob man nicht auch ohne Axiome schließen könnte, und die Antwort darauf sind die Kalküle des natürlichen Schließens: Systeme, die nur Schlussregeln enthalten. Aussagen- und Prädikatenlogik lassen sich in Schlussregeln allein kondensieren und brauchen dann kein Axiom. 1934 präsentierte der Deutsche Gerhard Gentzen ein aus zwölf Regeln bestehendes System des natürlichen Schließens für die Prädikatenlogik. Wie Carnap im selben Jahr aufgezeigt hat, gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Systemen mit Axiomen und Schlussregeln auf der einen Seite und Systemen, die allein aus Schlussregeln bestehen, auf der anderen. Denn jedes Axiom entspricht einer Regel, mit deren Hilfe es aus der Nullklasse der Prämissen, also ohne Voraussetzung, abgeleitet werden kann.
1892 erschien ein Aufsatz von Frege Über Sinn und Bedeutung. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass ‚‘ und ‚‘ Sätze von verschiedenem Erkenntniswert sind. Der erste versteht sich von selbst und liefert keine weitere Erkenntnis. Der zweite hingegen versteht sich nicht von selbst und sagt etwas Neues; auch dann, wenn a und b tatsächlich dasselbe sind. Zum Beispiel sind der Abendstern und der Morgenstern dasselbe, nämlich der Planet Venus (Astronomen mögen die Großzügigkeit dieser Behauptung verzeihen). Dennoch haben die Sätze ‚Der Abendstern ist gleich dem Abendstern‘ und ‚Der Abendstern ist gleich dem Morgenstern‘ verschiedenen Erkenntniswert, und der Unterschied liegt in den vorkommenden Begriffen. Gemeinsam sind den Begriffen ‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ die Menge der von ihnen umfassten Objekte; Frege spricht von ihrer Bedeutung: In beiden Fällen handelt es sich um die Venus. Sie unterscheiden sich jedoch, wie Frege es ausdrückte, in der „Art des Gegebenseins“, ihrem Sinn: in der Menge der sie definierenden Attribute; denn der Abendstern ist der hellste Himmelskörper nach Sonnenuntergang, der Morgenstern der hellste vor Sonnenaufgang, wenn man in beiden Fällen vom Mond absieht.
Die Wörter ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘, wie Frege sie verwendet hat, sind aus der Mode gekommen. Statt vom Sinn spricht man heute vom Inhalt oder von der Intension eines Begriffes, statt von der Bedeutung von seinem Umfang oder seiner Extension. Dabei stellt sich zweierlei heraus: Erstens gibt es Begriffe mit gleichem Umfang, aber verschiedenem Inhalt; ‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ sind gerade solche. Zweitens ist in einer Begriffshierarchie der Umfang umso größer, je kleiner der Inhalt ist. Nehmen wir die Hierarchie ‚Objekt‘ – ‚Lebewesen‘ – ‚Mensch‘. Der Inhalt des Begriffes ‚Objekt‘ ist klein; in der Ontologie ist alles, was existiert, ein Objekt, weiterer Attribute bedarf es nicht. Das bedeutet aber auch, dass der Umfang des Begriffes groß ist, weil ‚Objekt‘ alles umfasst, was existiert. Der Begriff ‚Lebewesen‘ bezeichnet ein Objekt mit zusätzlichen Eigenschaften, sein Inhalt ist daher größer; sein Umfang aber kleiner, weil jetzt alle Objekte wegfallen, die keine Lebewesen sind. Der Begriff ‚Mensch‘ bezeichnet ein Lebewesen mit zusätzlichen Eigenschaften, sein Inhalt ist daher nochmals größer; sein Umfang aber nochmals kleiner, weil jetzt alle Lebewesen wegfallen, die keine Menschen sind. Freges Theorie trug eine seltsame Blüte. Bisher haben wir von Sinn und Bedeutung einzelner Begriffe gesprochen. Frege hat überlegt, ob auch ganze Sätze Sinn und Bedeutung haben und worin diese liegen würden. Nehmen wir an, jeder Aussagesatz habe eine Bedeutung. Ersetzt man in ihm ein Wort durch ein anderes von derselben Bedeutung, aber anderem Sinn, so kann dies, mutmaßt Frege, auf die Bedeutung des Satzes keinen Einfluss haben. Die Sätze ‚Der Abendstern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper‘ und ‚Der Morgenstern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper‘ müssen dieselbe Bedeutung haben. Ihr gedanklicher Inhalt ist verschieden; in ihm sieht Frege den Sinn des Satzes. Was in solchen Fällen gleich bleibt, ist der Wahrheitswert, und dieser ist für Frege die Bedeutung des Satzes. Mit der Konsequenz, dass die Sätze ‚Es gibt keine größte Zahl‘ und ‚Napoleon hat bei Waterloo verloren‘ dieselbe Bedeutung haben, nämlich den Wert wahr. Und, noch eigenartiger: ‚Napoleon hat bei Waterloo gewonnen‘ und ‚Es hat nie einen Napoleon gegeben‘ haben dieselbe Bedeutung, den Wert falsch.
Jede elementare Aussage besteht aus Subjekt und Prädikat. Das hat schon Aristoteles gelehrt, und daran haben weder die Sprachanalysen der Stoiker etwas geändert noch die minutiösen Untersuchungen der Scholastik. Frege hat zwar in der Begriffsschrift das Prädikat durch die Funktion ersetzt, doch das ist lediglich eine Ausdrucksweise. In seinen späteren Arbeiten verwendete er die Wörter ‚Subjekt‘ und ‚Prädikat‘ in gewohnter Manier.
‚Schnee‘ (Subjekt) ‚ist weiß‘ (Prädikat). ‚Alle Vögel‘ (Subjekt) ‚fliegen‘ (Prädikat). ‚Omnis homo‘ (Subjekt) ‚est animal‘ (Prädikat). Die Subjekt-Prädikat-Struktur ist unabhängig von der Sprache: ‚Der Bub kann lesen‘, ‚The boy can read‘, ‚Il ragazzo sa leggere‘ erhalten sie ebenso wie die zugehörigen Dialekte. Sie besteht in allen Zeitformen: ‚Anna singt, sang, hat gesungen, hatte gesungen, wird singen, wird gesungen haben‘ wie auch in den Formen der Möglichkeit: ‚Anna singe, sänge, habe gesungen, hätte gesungen, würde singen, würde gesungen haben‘. Wörter können einmal für das Subjekt stehen, ein andermal für das Prädikat: ‚Max ist der Torwart‘ oder ‚Der Torwart ist Max‘; oder beides: ‚Max ist Max‘. Ein Subjekt kann mehrere Prädikate haben: ‚Der Schimmel ist ein weißes Pferd‘, und nach einem Prinzip von Leibniz ist jedes Ding durch die Aufzählung seiner Prädikate vollständig bestimmt.
Die letzten Betrachtungen haben uns dazu geführt, Subjekte mit Dingen gleichzusetzen. Nicht mit Dingen im materiellen Sinn, denn auch Gedanken, Gefühle oder Abstrakta können Subjekt sein: ‚Die Hitze ist schlimm‘; aber doch mit Wesenheiten, die in irgendeinem Sinn, sei es körperlich oder gedanklich, existieren. Damit stoßen wir auf ein Problem, das sich bis ins zwanzigste Jahrhundert allen Lösungsversuchen widersetzt hat. Es beginnt damit, dass das Subjekt auch etwas bezeichnen kann, das nicht existiert: ‚Das Einhorn ist ein Fabelwesen‘. Hier kann man noch argumentieren, das Einhorn existiere in der Vorstellung; denn man kann sich ohne Widerspruch eine Welt denken, in der es Einhörner gibt. Nicht ohne Widerspruch denken kann man sich jedoch eine Welt, in der es eine größte Zahl gibt, und dennoch ist der Satz ‚Die größte Zahl ist 4‘ möglich. Dass er falsch ist, mag uns trösten; aber nur, bis wir nach der Wahrheit des Folgenden fragen: ‚Die größte Zahl ist die größte Zahl‘. Eine Aussage, die nichts anderes behauptet als , kann wohl kaum falsch sein – andererseits kann sie, wenn es dieses x nicht gibt, auch kaum wahr sein. Enthalten Sätze mit leeren Ausdrücken, also Ausdrücken, die nichts bezeichnen, etwa gar keine Aussagen?
Lange Zeit wurden solche Sätze nicht als Aussagen betrachtet. Auch nach Freges Ansicht besitzen sie keinen Wahrheitswert, weil sie einen Ausdruck ohne Bedeutung (im fregeschen Sinn) enthalten. Das war die Lage, als Russell mit On Denoting an die Öffentlichkeit trat, einem knapp 15 Seiten langen Artikel, der 1905 im Philosophiejournal Mind erschien. Russells Theorie der Beschreibungen war ein Meilenstein der analytischen Philosophie, jener Richtung, deren Ziel „nicht ‚philosophische Sätze‘, sondern das Klarwerden von Sätzen“ ist, wie es Wittgenstein ausdrückte.
Einer der Punkte, in die Russell Klarheit brachte, betrifft die leeren Ausdrücke. Sein berühmtes Beispiel lautet: ‚Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl‘. Wenn Frankreich, wie es auch damals war, keinen König hat, ist das Subjekt des Satzes ein leerer Ausdruck. Damit kann die Aussage nicht wahr sein. Dann muss das Gegenteil wahr sein: ‚Der gegenwärtige König von Frankreich ist nicht kahl‘. Hätte Russell im Stil der Stoiker die Verneinung dem ganzen Satz vorangestellt anstatt nur dem Prädikat, wäre er womöglich zu einem anderen Schluss gekommen. So aber schloss er, dass auch das Gegenteil seines Satzes nicht wahr ist. Anstatt aber nun zu folgern, es läge – wegen des leeren Ausdruckes – gar keine Aussage vor, zeigte Russell, was tatsächlich hinter seinem Satz steckt: eine Konjunktion zweier Aussagen: ‚Es gibt genau ein Objekt, welches gegenwärtig König von Frankreich ist; und jedes Objekt, welches gegenwärtig König von Frankreich ist, ist kahl‘. Von diesen Aussagen ist die erste falsch und damit auch die Und-Verknüpfung der beiden. Es ist also falsch, dass der gegenwärtige König von Frankreich kahl wäre; um mit den Stoikern zu sprechen: ‚Nicht: Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl‘. Auf die gleiche Weise lösen sich die Rätsel der größten Zahl in Wohlgefallen auf. Die logische Form des ersten lautet: ‚Es gibt genau ein Objekt, welches die größte Zahl ist; und jedes Objekt, welches die größte Zahl ist, ist 4‘. Die des zweiten: ‚Es gibt genau ein Objekt, welches die größte Zahl ist; und jedes Objekt, welches die größte Zahl ist, ist die größte Zahl‘. In beiden Fällen ist die erste Aussage der Konjunktion falsch und damit auch die Verknüpfung. Die Behauptungen über den König von Frankreich und über die größte Zahl haben also nicht die Subjekt-Prädikat-Form, die man ihnen auf den ersten Blick unterstellen würde. Und auch viele andere Sätze, die aussehen, als hätten sie die Form, haben sie nicht: Denn wer oder was wäre dieses Es, das regnet? Dieser Niemand, der ewig lebt? Dieses Nichts, das mir ferner liegt?
Ein zweites Problem, das Russell beseitigte, betrifft Definition und Synonym. Definiert man den Kreis als die Menge aller Punkte, die von einem gegebenen Punkt den gleichen Abstand haben, dann sind die Begriffe ‚Kreis‘ und ‚Menge aller Punkte, die von einem gegebenen Punkt den gleichen Abstand haben‘ synonym. Man sollte in einer Aussage den ersten durch den zweiten ersetzen können oder umgekehrt, ohne den Wahrheitswert der Aussage zu verändern. Ebenso sollte man den Ausdruck ‚Scott‘ durch ‚der Autor von Waverley‘ ersetzen können und umgekehrt, weil nämlich Sir Walter Scott tatsächlich der Autor des Romans Waverley war. Wie Russell feststellte, ist das aber nicht immer möglich: Selbst wenn der britische König zur Zeit Scotts, George IV., wissen wollte, ob Scott der Autor von Waverley ist – dass er wissen wollte, ob Scott Scott ist, darf bezweifelt werden. Russell löste das Problem, indem er, wie im Fall des Königs von Frankreich, die Struktur der Sätze und die Rolle ihrer Terme klärte: Während ‚Scott‘ eine Bezeichnung ist, ist ‚der Autor von Waverley‘ eine beschreibende Phrase, zudem eine abgekürzte. ‚George IV. wollte wissen, ob Scott der Autor von Waverley ist‘ lautet, exakt notiert: ‚George IV. wollte wissen, ob genau eine Person Waverley geschrieben hat und ob diese Person Scott ist‘. In der korrekten Fassung ist die Phrase ‚der Autor von Waverley‘, von der man annehmen hätte können, sie wäre durch ‚Scott‘ ersetzbar, verschwunden.
Die Theorie der Beschreibungen war der erste große Streich des Bertrand Russell; von seinem größten werden wir noch hören. Dass uns sein Name an allen Ecken und Enden begegnet, liegt daran, dass er genial, vielseitig und von seiner Wichtigkeit überzeugt war und fast 98 Jahre alt wurde (1872–1970). Studiert hatte er Mathematik und Philosophie. In jungen Jahren plante er sein Lebenswerk, bestehend aus zwei Reihen von Büchern: zu Philosophie und Wissenschaft einerseits, zu Gesellschaft und Politik andererseits; den krönenden Abschluss sollte eine Synthese der beiden bilden. Und bis auf die Synthese hat Russell diesen Plan verwirklicht. Er schrieb 60 Bücher und 2000 Artikel, nicht zur Freude aller: Sein Student Wittgenstein meinte später, die mathematische Logik sollte in Rot gebunden werden und alle Philosophiestudenten sollten sie lesen; die anderen Bücher in Blau, und niemand sollte sie lesen. Für Marriage and Morals erhielt Russell den Nobelpreis der Literatur; dasselbe Buch kostete ihn im prüden Amerika eine Professur am City College of New York. Zeitlebens war er militanter Pazifist, anders kann man es trotz des Widerspruches nicht sagen. Schon im ersten Weltkrieg trat er für das Verweigern des Kriegsdienstes ein, später gegen das atomare Wettrüsten. Mit 83 verfasste er das Russell-Einstein-Manifest über die Folgen eines Atomkrieges. Mehr als einmal saß er für seine Haltung im Gefängnis (wo er so manches Buch schrieb), zuletzt noch im Alter von 89. Kaum entlassen, gründete er die Bertrand Russell Peace Foundation, die noch heute besteht, und mit 94 das Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal, das als Russell-Tribunal bekannt wurde und heute im permanenten Völkertribunal einen Nachfolger hat.
Mit On Denoting hat Russell als Erster gezeigt, dass die logische Struktur der Sprache etwas anderes ist als ihre grammatische. Weil die beiden unterschiedlich sind, blieben in Antike und Scholastik alle Versuche, sie zur Deckung zu bringen, auf halbem Wege stecken. Es gibt also nicht eine Sprachwissenschaft, sondern zwei. Gemäß dem Thema dieses Buches beschäftigt uns in erster Linie die logische. Die andere, die man „grammatische“ nennen könnte, hat sich seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts etabliert. Sie erforscht zum einen den Aufbau natürlicher Sprachen, zum anderen die Fähigkeit des Kollektivs, Sprachen hervorzubringen, und des Einzelnen, sie zu erlernen.
Seit den 1960er-Jahren nimmt das Interesse an der Beschaffenheit natürlicher Sprachen auch deshalb zu, weil immer stärkere Computer Spracherkennung, Transkription und Übersetzung möglich erscheinen lassen. Anfangs herrschte überschäumender Optimismus: In den Entwicklungsabteilungen der Elektronikriesen (ich saß selbst in einer) war man überzeugt, es werde bald ein Telefon geben, in das man Englisch hineinspricht und aus dem am anderen Ende Chinesisch herauskommt. So weit ist man trotz aller Fortschritte noch immer nicht; und je mehr man forscht, desto störrischer verweigert die Sprache das, was sie leisten müsste, damit ein Computer fehlerfrei verstehen oder übersetzen könnte: einfach sagen, worum es geht. Neben den Tücken der Grammatik gibt es das Schillern der Wörter, deren konkreter Sinn erst aus dem Zusammenhang folgt: „Power on“ heißt nicht „Macht an“, und Flügel sind zum Fliegen da, außer für Pianisten, Architekten, Ärzte, Tür- und Fensterfabrikanten, Armeekommandanten und politische Parteien. Es gibt die Ironie, die das Gegenteil dessen meint, was sie sagt: „Wie klug von dir!“; und den Irrtum: Als ein Redner im Deutschen Bundestag versicherte, sein Land habe „dem Gewaltverzicht abgeschworen“, so meinte er nicht, dass nun Gewalt angewendet würde – er war nur an der Verneinung gescheitert. Manches soll gar nicht jeder verstehen: Die Seemannssprache ist den Seeleuten vorbehalten, Amtsdeutsch den Juristen und Steuerberatern, und die Rezension eines modernen Kunstwerks versteht nur der Rezensent selbst. Mitunter scheinen Konstruktionen logisch und sind dennoch falsch: „Geh du zuerst, ich gehe dann zuzweit!“ Dazu kommen täglich neue Sprachbilder: „Genial“ konnten bis gestern nur Menschen und Gedanken sein, heute schafft das schon ein Gesäßtattoo. Andererseits kann man selbst das, was in jeder Hinsicht korrekt ist, nicht immer ohne Gefahr sagen: „Und dieser Hund bellte vorne.“ (Heinz Erhardt). Alles in allem lassen sich natürliche Sprachen niemals ganz in Regeln fassen. Vielleicht liegt gerade darin ihr Reichtum – und jene Unzulänglichkeit, die Frege zu seinem epochalen Werk getrieben hat.
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