Lexikon der Astronomie: Gezeitenkräfte
Dieser Begriff meint im Allgemeinen volumenerhaltende Kräfte auf einen Körper, die infolge der Gravitation entstehen.
Ebbe & Flut
Populär sind die Gezeitenkräfte zwischen Sonne, Erde und Mond, die je nach Stellung der Himmelskörper zueinander Ebbe und Flut hervorrufen. Der Wassermantel der Erde wird dabei durch die Gravitationskräfte von Sonne und vor allem Mond deformiert.
Jupiter – ein interplanetarer Staubsauger
Auch im Sonnensystem ereignen sich heftige Ereignisse, die in Zusammenhang mit Gezeitenwechselwirkungen stehen. Im Sommer des Jahres 1994 konnten die staunenden Astronomen Zeuge werden, wie der Komet Shoemaker-Levy 9 durch die hohen Gezeitenkräfte des PlanetenJupiter zerrissen wurde, als er ihm zu nah kam. Die Einschläge waren spektakulär und ein Highlight der Astronomie: Die Abbildung links zeigt (bei genauer Betrachtung) acht Strukturen, die von Einschlägen der Teile Shoemaker-Levys verursacht wurden (Credit: NASA/ESA, HST 1994). Diese Strukturen verändern sich auf der Zeitskala von Tagen.
Jupiter – Ios Masseur
Der Vulkanismus und die hohe morphologische Aktivität des innersten Jupitermonds Io werden ebenfalls mit Gezeitenwechselwirkungen erklärt. Das Innere dieses Monds wird ständig umgewälzt und formt ein immer neu erscheinendes Io-Antlitz. Io hat es dadurch zur vulkanisch aktivsten Region im Sonnensystem gebracht. Die Aufnahme oben wurde mit der Raumsonde Galileo 1997 aus einer Höhe von 600000 Kilometern über Io fotografiert (Credit: Galileo Project, JPL/NASA, 1997; große Version). Auf dem Foto ist etwa in der Mitte eine blaue Rauchfahne zu sehen, die sich etwa 140 Kilometer über Ios Oberfläche erhebt. Sie stammt aus der Region Pillan Patera, die schon seit Jahren vulkanisch aktiv ist. Darunter, ebenfalls in der Bildmitte, jedoch nahe an der Trennlinie von Io-Tag und Io-Nacht (Terminator) befindet sich der Vulkan Prometheus, dessen Rauchfahne eine Ringform aufweist und etwa 75 Kilometer aufsteigt. Schon die Voyager-Sonden dokumentierten 1979 diesen aktiven Vulkan.
Galaxienhochzeit
Gezeitenkräfte wirken aber durch die Langreichweitigkeit der Gravitation auch auf großen Raumskalen und bewirken so beispielsweise eine Veränderung der Morphologie von Galaxien (Balkenspiralgalaxien, irreguläre Galaxien), wie eindrucksvoll bei den kannibalistischen Systemen wie der Antennengalaxien (Abb. rechts, große Version; Credit: NASA/ESA, HST 2006) beobachtet werden kann. Die Antennengalaxien NGC 4038 und NGC 4039 sind 62 Millionen Lichtjahre entfernt und befinden sich im Sternbild Rabe (Corvus). Vor einigen hundert Millionen Jahren begannen sie mit der Gezeitenwechselwirkung. Das Bild ist ein Farbenkomposit und zeigt die älteren Sterne, die beide Galaxien in die Ehe mitbringen (gelb-orange), diffus verteilten Staub (braune und schwarze Filamente), und natürlich die durch die Hochzeit neu entstandenen, hell leuchtenden Sterne sowie deren ionisiertes Umgebungsgas aus Wasserstoff (blau und rosa).
In einigen Milliarden Jahren wird die Milchstraße in vergleichbarer Weise mit der Andromedagalaxie kollidieren. Das klingt jedoch schlimmer als es ist, weil es dabei kaum zu direkten Sternzusammenstößen, aber zur Bildung neuer Sterne kommen wird, weil hier die interstellaren Medien beider Galaxien vermischt und verdichtet werden.
unangenehme Gezeiten beim Schwarzen Loch
Kommen wir nun zu den extremen Gezeitenkräften, die – wie sollte es anders sein – von Schwarzen Löchern hervorgerufen werden. Körper, die sich zu nahe an den Ereignishorizont wagen, werden durch Gezeitenkräfte stark deformiert und können sogar zerrissen werden. Ein kugelförmiges Testobjekt, das in ein Schwarzes Loch fällt, wird in einen Ellipsoid deformiert: in Fallrichtung (radial) findet eine Streckung statt und senkrecht zur Fallrichtung (transversal) eine Dehnung, wie es die Abbildung rechts illustriert. Dabei bleibt das Volumen des Testobjekts jedoch konstant. Die Verhältnisse müssen nicht immer so sein, wie in der Abbildung dargestellt, denn bei besonders schweren Schwarzen Löchern, den supermassereichen Schwarzen Löchern, kann der Gezeitenkrafteffekt auch erst nach dem Ereignishorizont stattfinden und ist damit prinzipiell unbeobachtbar (Einzelheiten bei Gezeitenradius).
Gezeiten in Einsteins Theorie
In der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) lassen sich Gezeitenkräfte mittels der Gleichung der geodätischen Abweichung beschreiben. Der hierbei auftretende so genannte orthogonale Verbindungsvektor eignet sich gut, um zwei benachbarte Teilchen, die sich im freien Fall befinden, zu untersuchen. Es zeigt sich auch, dass bei einem Schwarzschild-Loch Spannung und Druck invers mit der dritten Potenz in der Radialkoordinate skalieren, d.h. die Gezeitenkräfte werden bei der intrinsischen Singularität in r = 0 unendlich groß. Das gilt für alle Schwarzen Löcher.
Loch zerreißt Stern
Ein wichtiges Anwendungsbeispiel ist die Gezeitenwirkung Schwarzer Löcher auf Objekte in ihrer Umgebung. In der Theorie lässt sich der Gezeitenradius (engl. tidal radius) definieren, der angibt, ab welchem Abstand zum Schwarzen Loch die Gezeitenkräfte die Selbstgravitation des massiven Objekts dominieren und das Objekt zerreißen (engl. tidal disruption).
Von besonderem Interesse in der Astrophysik ist diese Gezeitenwechselwirkung bei Sternen, die einem Schwarzen Loch zu nahe kommen (Sterneinfang, engl stellar capture) und den Gezeitenradius unterschreiten. Diese Sterne werden je nach Größe und Masse teilweise oder vollständig zerstört (engl. stellar tidal disruption). Bei einer vollständigen Zerstörung verteilen sich die Sterntrümmer (engl. stellar debris) in unmittelbarer Nähe zum Loch und können so akkretiert werden. In diesem Szenario, dargestellt in Phasen in der zweiten Abbildung, erwartet man aufgrund der plötzlich lokal erhöhten Akkretionsrate (engl. accretion burst) ein deutliches Aufflackern im hochenergetischen Bereich der elektromagnetischen Strahlung: einen Röntgenflare. Dabei erreicht die Region um das Schwarze Loch kurzzeitig eine Röntgenhelligkeit, die mit derjenigen von Quasaren vergleichbar ist! Die Strahlung ist thermischen Ursprungs und ist darauf zurückzuführen, dass sich das stellare Restmaterial stark aufheizt. Deshalb können Astronomen das Flare-Spektrum gut mit einem Schwarzkörper (engl. black body), also einer Planckschen Strahlungsverteilung charakteristischer Temperatur anpassen.
Die einzelnen Phasen, wie der Zerriss eines Sterns durch Gezeitenkräfte abläuft, ist im großen Schema oben illustriert:
- I Annäherungsphase: Zunächst nähert sich der möglicherweise eingefangene Stern dem Schwarzen Loch bis auf sehr kurze Distanz (engl. approaching phase).
- II Deformationsphase: Dann erleidet er starke Deformationen durch Spannungs- und Druckkräfte am Gezeitenradius (engl. tidal deformation phase).
- III Gezeitenzerrissphase: Schließlich wird der Stern durch die enormen Kräfte zerrissen (engl. tidal disruption phase).
- VI Akkretions- und Flarephase: Die stellaren Trümmer verteilen sich entlang der Bahn des Vorläufersterns und werden auch akkretiert. Dabei entsteht das charakteristische Röntgenflare (engl. accretion and flare phase).
Wie unterscheidet man den Röntgenflare durch Sternzerriss von anderen Flares? Dieser Flare im Bereich ultravioletter Strahlung und weicher Röntgenstrahlung klingt auf der Zeitskala von Monaten ab. Integriert man die Leuchtkraft (Einheit einer Leistung, erg/s) des Flares über diese Zeit, so findet man eine freigewordene Energie dieses Ereignisses, die der einer Supernova gleichkommt: 1051 erg!
Weitere Charakteristika sind, dass er nicht mit der Aktivität verbunden ist, wie man sie beispielsweise in Seyfert-Galaxien beobachtet. Deshalb ist es wichtig, simultan zu den Röntgenbeobachtungen auch im optischen Bereich zu beobachten, um sicherzustellen, dass keine AGN-Aktivität vorliegt. Die verhältnismäßig ruhigen Schwarzen Löcher in den Zentren inaktiver Galaxien (engl dormant black holes) sind durch stellaren Gezeitenzerriss beobachtbar. Außerdem stützen diese Beobachtungen das allgemein akzeptierte Paradigma, dass nahezu alle Galaxien im Zentrum ein supermassereiches Schwarzes Loch beherbergen.
Die Ereignisse eines Sternzerriss mit beobachteten Röntgenflare sind sehr selten: nur alle 10000 Jahre wird ein Stern in einem solchen Ereignis von einem Schwarzen Loch zerrissen (entsprechend der stellaren Akkretionsrate von 10-4 Sonnenmassen pro Jahr).
Keine Science-Fiction mehr!
Die ersten Beobachtungen von Röntgenflares durch Sternzerriss wurden Anfang der 1990er Jahre mit dem deutschen Röntgensatelliten ROSAT durchgeführt. Es konnten jedoch nur Kandidaten-Objekte gefunden werden, weil eine letzte Unsicherheit bestand, ob tatsächlich der Flare durch einen zerrissenen Stern hervorgerufen wurde. Nun sind sich die Astronomen sicher, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Sternzerriss durch ein Schwarzes Loch beobachtet haben. Hauptindiz ist die zeitliche Entwicklung des Röntgenspektrums. Mit hohem Aufwand wurde in einer internationalen Kollaboration mit hoher räumlicher und hoher spektraler Auflösung auf gute Flare-Kandidaten geschaut. Dazu wurden die Ressourcen weltumspannend gebündelt und der US-amerikanische Röntgensatellit Chandra (NASA) und der europäische Röntgensatellit XMM-Newton (ESA) auf die gleiche Quelle ausgerichtet. Außerdem überprüfte das Weltraumteleskop Hubble (HST) den optischen Bereich, um AGN-Aktivität ausschließen zu können. Bei beobachteter Abwesenheit breiter Emissionslinien und nicht-stellarer Kontinua kann der Astronom davon ausgehen, dass es sich um eine 'normale', d.h. inaktive Galaxie handelt. Stefanie Komossa (MPE Garching) und Kollegen untersuchten 2004 die Röntgenquelle RX J1242-1119 (Rotverschiebungz = 0.05) und stellten einen starken Abfall, etwa um den Faktor 240, in der Röntgenleuchtkraft fest, wenn man die alten ROSAT- mit neuen XMM-Beobachtungen vergleicht. Dies wird zusammen mit den anderen beobachteten, individuellen Charakteristika so interpretiert, dass man einen Röntgenflare – ausgelöst von einem zerrissenen Stern nahe einem Schwarzen Loch – beobachtet hat. Mittlerweile klingt dieser Flare ab, und die Röntgenastronomen beobachten ein so genanntes Post-Flare-Spektrum der Quelle. Irgendwann kehrt das gefütterte Schwarze Loch wieder in seinen Ruhezustand zurück und die inaktive Wirtsgalaxie verhält sich so unauffällig wie vor dem Zerriss.
Die Blauhelligkeit gemessen mit HST dient einer Abschätzung der Masse des supermassereichen Schwarzen Loches im Zentrum von RX J1242-1119. So ergeben sich 200 Millionen Sonnenmassen. Das ist fast das 70fache der Lochmasse, die die Infrarotastronomen im Zentrum der Milchstraße (Sgr A*) gemessen haben.
Mittlerweile ist es gelungen die Flares durch Gezeitenzerriss auch im Ultravioletten nachzuweisen: In diesem Fall wurde der Stern durch das zentrale Schwarze Loch in einer elliptischen Galaxie zerrissen, die sich im Gesichtsfeld des GALEX Deep Imaging Survey befand (Gezari et al. 2006). Die Lochmasse von etwa 100 Millionen Sonnenmassen ist konsistent dem Schwarzkörperspektrum, der Lichtkurve des Flares und der M-σ-Relation
Papiere zum Gezeitenzerriss eines Sterns
- Halpern et al. 2004, astro-ph/0402497
- Komossa et al. 2004, astro-ph/0402468
- Gezari et al. 2003, astro-ph/0304063
- Gezari et al. 2006, astro-ph/0612069
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