Lexikon der Biologie: Chronopharmakologie
Chronopharmakologiew [von *chrono –, Pharmakologie], beschreibt den Einfluß von Medikamenten (Arzneimittel) auf die physiologischen Rhythmen von Organismen (insbesondere des Menschen) und untersucht die Bedeutung der endogenen Oszillationen auf die Wirkung von Medikamenten. Die Chronopharmakologie ist Teil der Chronobiologie. Ziel chronopharmakologischer Forschung ist die Chronotherapie im Sinne einer Stärkung der positiven Effekte und einer Minderung der toxischen Nebenwirkungen von Medikamenten. – Pflanzen, Tiere und Menschen zeigen unter konstanten Bedingungen im Labor rhythmische Veränderungen in nahezu allen Parametern ihrer Physiologie und ihres Verhaltens. Die Oszillationen sind Ausdruck einer endogenen Periodizität (physiologische Uhr, circadiane Rhythmik), die unter natürlichen Umweltbedingungen mit der äußeren Tagesrhythmik synchronisiert wird. Bei Säugern werden photoperiodische Signale von den Augen (Linsenauge) perzipiert und neuronal über den sog. Nucleus suprachiasmaticus (Strukturen auf beiden Seiten des 3. Hirnventrikels genau oberhalb des Chiasma opticum) und Noradrenalin an das Pinealorgan (Epiphyse, Zirbeldrüse) weitergeleitet. Die Zellen des Nucleus suprachiasmaticus besitzen eine autonome circadiane Rhythmik und stellen einen übergeordneten circadianen Schrittmacher (innere Uhr,biologische Uhr) dar. Das Pinealorgan produziert tagesrhythmisch das Hormon ("Epiphysenhormon") Melatonin. Die Melatoninproduktion hat ihr Maximum in der Nacht – unabhängig davon, ob es sich um einen nacht- (z. B. Ratte) oder tagaktiven Organismus (Mensch) handelt (Aktivitätstyp). Somit ermöglicht das Pinealhormon Melatonin den Organismen die Registrierung der Dunkelheit. Der Schlaf-Wach-Rhythmus (Schlaf) wird durch Licht (Lichtfaktor) synchronisiert und korreliert mit einer entsprechenden Rhythmik der Melatoninausschüttung in die Blutbahn. Die durch die äußere Tagesrhythmik eingestellte oder synchronisierte innere Uhr ermöglicht es den Organismen, sich zeitlich und räumlich zu orientieren. Fast alle bisher untersuchten physiologischen Funktionen von Menschen und Tieren zeigen tageszeitliche Variationen ( vgl. Tab. 1). Zyklische Abläufe spielen eine große Rolle in der internen Koordination des Stoffwechsels. Sie sind essentiell für die Aufrechterhaltung von Wohlbefinden und Gesundheit. – Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die junge Wissenschaft der Psychoneuroimmunologie (PNI). Der Begriff wurde 1980 von dem amerikan. Psychologen R. Ader geprägt. Er umschreibt den Forschungsbereich, der sich mit den zahlreichen Wechselwirkungen zwischen seelischem Erleben und Verhalten einerseits und der Aktivität des Immunsystems andererseits auseinandersetzt ( vgl. Abb. 1). Es geht z. B. darum, zu klären, welche Bedeutung u. a. Streß und Depressionen beim Ausbruch und Verlauf von Krankheiten haben. Gerade bei Depressionen spielen chronophysiologische Einflüsse eine besondere Rolle (z. B. saisonale Depression [SAD] oder manisch-depressives Verhalten). PNI-bezogene Forschungen betreffen harmlose Infektionen, aber auch entzündliches Rheuma (Rheumatismus), Allergien, Krebs und AIDS. Über das Immunsystem ist die Psyche direkt oder indirekt am Verlauf der meisten Krankheitsbilder beteiligt. – Die Körpertemperatur des Menschen schwankt jeden Tag um 0,8 °C. Sie erreicht ihr Maximum am frühen Abend und ihr Minimum spät in der Nacht. Die Sekretion von Cortisol hat ihren Tiefstand nach Mitternacht und erreicht ihren Höhepunkt gegen Tagesanbruch. Der Tagesrhythmus in der Plasmacortisolkonzentration ist ein wichtiger Synchronisator für verschiedene physiologische Parameter, wie aus der Substitutionstherapie bei Patienten mit Nebenniereninsuffizienz hervorgeht. Auch das Kreislaufsystem (Blutkreislauf) variiert tagesrhythmisch, wie sich für Herzfrequenz, Blutdruck, peripheren Gefäßwiderstand und Meßgrößen der Herzfunktion (EKG, Elektrokardiogramm) zeigen läßt. Die Plasmakonzentrationen von Hormonen, Neurotransmittern, Glucose, Elektrolyten sowie die Anzahl der Leukocyten, Erythrocyten und Thrombocyten zeigen ebenfalls eine Tagesrhythmik. Die Funktionen von Lunge, Leber und Niere oszillieren in Abhängigkeit von der Tageszeit. Die Sekretion von Magensäure schwankt tagesrhythmisch sowohl bei Gesunden als auch bei Patienten mit peptischem Ulkus ( vgl. Abb. 2). Tagesrhythmische Phänomene werden auch sichtbar bei bestimmten Krankeitsbildern wie Asthma, Angina pectoris, Herzinfarkt oder Epilepsie. Das 24-Stunden-Profil im systolischen Blutdruck oszilliert gleichsinnig bei Hypertonikern (Hypertonie), Gesunden und Herzinsuffizienten ( vgl. Abb. 3). Die Empfindlichkeit des Magens für Arzneimittel ändert sich mit der Tageszeit. Gesunde Probanden, die 1 g Aspirin (Acetylsalicylsäure) um 22 Uhr einnahmen, bekamen 40% weniger Läsionen der Magenschleimhaut als bei morgendlicher Gabe, obwohl der Magen abends mehr Säure produziert ( vgl. Abb. 4). – Die chronotherapeutische Wirkung von Melatonin als. "Schlafhormon" wurde sichtbar bei einer Patientin, die seit früher Kindheit unter einer Schlaf-Wach-Rhythmik mit einer Periodenlänge von 25 h leidet und dadurch keine normale soziale Einbindung hat. Ihr Organismus verhält sich so, als sei er unter sog. Freilaufbedingungen, die sich beim Menschen in einer circadianen Rhythmik mit einer Periodenlänge von etwa 25 Stunden manifestieren (Chronobiologie). Eine Melatoninbehandlung im Alter von 17 Jahren, mit 5 mg Melatonin pro Nacht zwischen 21 h und 22 h gegeben, führte zur Ausprägung einer 24 h-Schlaf-Wach-Rhythmik und damit zu einer Frequenzsynchronisation mit dem täglichen Licht-Dunkel-Wechsel ( vgl. Abb. 5). Im Alter von 14 Jahren wurde bei der Patientin ein Gehirntumor diagnostiziert. Die Ergebnisse der Melatoninbehandlung sprechen dafür, daß der NSC vermutlich aufgrund des Tumors keine Signale von den Augen bekam und damit die endogene Melatoninproduktion im Pinealorgan nicht mit dem täglichen Licht-Dunkel-Wechsel synchronisieren konnte. – Aufgrund der chronobiologischen Befunde, die zeigen, daß fast alle bisher untersuchten Funktionen des Organismus tageszeitabhängige Variationen aufweisen, ist zu erwarten, daß auch das kinetische Verhalten (Aufnahme, Metabolismus und Bioverfügbarkeit) von Arzneimitteln (Pharmakodynamik, Pharmakokinetik) sich in Abhängigkeit von der Tageszeit ändert. Diese Hypothese wird durch tier- und humanpharmakologische Untersuchungen bestärkt, die unter Berücksichtigung chronobiologischer Erkenntnisse durchgeführt wurden. Da die verschiedenen Funktionen der Niere ausgeprägten Tagesrhythmen unterliegen, wird auch die Ausscheidung von Arzneimitteln, die einer renalen Elimination unterliegen, durch diese physiologischen Rhythmen beeinflußt. So verändert sich beim Menschen die renale Elimination leicht basischer oder saurer Arzneimittel durch Veränderung des Dissoziationsgrades der Pharmaka aufgrund von Variationen im pH-Wert des Harns mit der Tageszeit. Hieraus ergeben sich zeitliche Änderungen der Bioverfügbarkeit. Unter Berücksichtigung der Chronophysiologie konnte in zahlreichen Untersuchungen sowohl an Tiermodellen als auch am Menschen nachgewiesen werden, daß Arzneimittel tageszeitabhängige Unterschiede in ihren erwünschten und/oder unerwünschten Wirkungen zeigen, sowohl in ihrer Pharmakodynamik ( vgl. Tab. 2) als auch in ihrer Pharmakokinetik ( vgl. Tab. 3). Einige dieser chronopharmakologischen Erkenntnisse haben Eingang gefunden in die 17. Auflage der Arzneimittelverordnungen (1992), herausgegeben von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, mit folgenden Empfehlungen zum Zeitpunkt der Verabreichung von Medikamenten:
– primärer Bluthochdruck (morgens)
– sekundärer Bluthochdruck (meist abends)
– nächtliches Asthma (abends)
– peptischer Ulkus (abends)
Die zukünftigen Anforderungen an eine verfeinerte Chronotherapie werden deutlich im Falle der Behandlung der Sterilität von Patientinnen mit Störung der Sekretion von gonadotropen Hormonen. Rhythmische Injektionen von GRH (Gonadotropin-Releasing-Hormon) mit einer tragbaren Pumpe im physiologischen Ein-Stunden-Takt erbrachten normale Titer von LH (luteinisierendes Hormon) und FSH (follikelstimulierendes Hormon) und führten zur Wiederherstellung der Ovulation.
E.W.
Lit.:Lemmer, B.: Chronopharmakologie. Tagesrhythmen und Arzneimittelwirkung. Stuttgart 21984.
Chronopharmakologie
Tab. 2: Chronopharmakodynamik
Arzneimittel (Auswahl), bei denen beim Menschen signifikante tageszeitabhängige Unterschiede in ihren erwünschten und/oder unerwünschten Wirkungen nachgewiesen wurden:
HERZ–KREISLAUF
Beta-Rezeptorenblocker:
Propranolol, Metoprolol, Atenolol, Sotalol, Labetalol, Oxprenolol, Pindolol,
Acebutolol, Nadolol, Mepindolol, Bevantolol, Bopindolol
Calcium-Antagonisten:
Verapamil, Nifedipin, Nitrendipin
Nitrate:
Glyceroltrinitrat, ISDN, IS-5-MN
Diuretika:
Hydrochlorothiazid, Indapamid, Xipamid
ACE-Hemmer:
Enalapril, Captopril, Prazosin, Clonidin, Kaliumchlorid
ANTIHISTAMINIKA
Terfenadin, Clemastin, Cyproheptadin
LUNGE
Theophyllin, Aminophyllin, Methylprednisolon, Dexamethason, Acetylcholin,
Metacholin, Orciprenalin, Terbutalin, Histamin
PSYCHOPHARMAKA
Diazepam, Haloperidol, Phenylpropanolamin
LOKALANÄSTHETIKA, NSAR
Carticain, Mepivacain, Flurbiprofen, Morphin, Lidocain, Metamizol
ENDOKRINOLOGIE/GASTROENTEROLOGIE
Prednison, Methylprednisolon, ACTH, Cimetidin, Ranitidin, Roxatidin,
Famotidin, Nizatidin, Bezafibrat, Clofibrat, Insulin, Tolbutamid, Glucose
SONSTIGE
Cisplatin, Doxorubicin, Tuberkulin, Ethanol, Placebo, Melatonin, Licht, Schlafentzug
Tab. 3: Chronopharmakokinetik
Arzneimittel, bei denen beim Menschen signifikante tageszeitabhängige
Unterschiede in ihrer Pharmakokinetik nachgewiesen wurden:
HERZ-KREISLAUF
Calcium-Antagonisten
Diltiazem, Nifedipin, Verapamil
Nitrate
ISDN, IS-5-MN
Digoxin, Metildigoxin, Propranolol, Kaliumchlorid, Dipyridamol
PSYCHOPHARMAKA
Diazepam, Temazepam, Midazolam, Lorazepam, Amitriptylin, Nortriptylin, Haloperidol, Lithium, Carbamazepin, Diphenylhydantoin, Valproinsäure, Hexobarbital
ANTIBIOTIKA
Griseofulvin, Sulfasymazin, Sulfisomidin, Ampicillin
LUNGE
Theophyllin, Aminophyllin, Terbutalin
ANALGETIKA, ANTIRHEUMATIKA
Indometacin, Ketoprofen, Acetylsalicylsäure, Aminopyrin, Paracetamol, Phenacetin, Prednisolon, Mequitazin
SONSTIGE
Amphetamin, Cisplatin, Cyclosporin, Ethanol, 5-Fluorouracil, Doxorubicin
Abb. 4: Anzahl der Magenschleimhautläsionen bei zehn Gesunden, die 1 g Acetylsalicylsäure (Aspirin) morgens um 10 Uhr bzw. abends um 22 Uhr erhalten hatten. Die Anzahl der Läsionen wurde jeweils zwei Stunden nach Aspiringabe mittels Endoskopie bestimmt und photographisch dokumentiert. Der Unterschied ist signifikant. |
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