Lexikon der Biologie: Geriatrika
Geriatrika [von griech. gerōn = Greis, iatrikos = heilend], Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Substanzen unterschiedlicher Herkunft, die als Therapeutika (Arzneimittel) bei Alternsbeschwerden (Altern) eingesetzt werden, wobei aber der therapeutische Erfolg und insbesondere der molekulare Mechanismus ihrer Wirkung oftmals nicht hinreichend geklärt sind. Sie sollen Alternsvorgänge verhindern, Regeneration und „Revitalisierung“ fördern, altersbedingte Mangelzustände ausgleichen und altersbedingte Beschwerden lindern. Geriatrika, die den Anspruch erheben, den Alternsprozeß zu verzögern, werden als Geroprophylaktika, solche, die Alterskrankheiten beseitigen oder lindern sollen, als Gerotherapeutika bezeichnet. Die Vielfalt der Geriatrika setzt sich aus Pflanzeninhaltsstoffen (Pflanzenstoffe), Spurenelementen (Mikronährstoffe), Vitaminen, Hormonen, durchblutungsfördernden Substanzen, Lipidsenkern und Psychopharmaka zusammen, die einzeln oder in Kombination verabreicht werden. Solange die biologischen Vorgänge des Alterns noch nicht genügend aufgeklärt sind, wird es auch kein Geriatrikum geben, von dem man sagen könnte, es wirke positiv auf „den Alternsprozeß“. Lediglich einzelne Alternsbeschwerden können therapeutisch beeinflußt werden ( vgl. Abb. ). Zu den am frühesten verwendeten Geriatrika gehören die Extrakte der Knoblauchzwiebel (Allium sativum, Lauch), der Ginsengwurzel (Panax ginseng;Efeugewächse), des Weißdorns(Crataegus) und der Mistel(Viscum album). Inhaltsstoffe des Knoblauchs (insbesondere Allicin, Methylallyltrisulfid und Adenosin) besitzen eine in vitro nachgewiesene antibakterielle und antimykotische Wirkung; sie senken den Serum-Cholesterin- (Cholesterin) und Triglyceridspiegel (Triglyceride, Fette) und beeinflussen das Verhältnis von low-density-lipoproteins zu high-density-lipoproteins (Lipoproteine). Da zusätzlich auch eine Hemmung der Thrombocyten-Aggregation (Thrombocyten, Thrombocyten-Aggregations-Hemmer) beobachtet wird, ist eine positive Beeinflussung der Arteriosklerose wahrscheinlich. Die Inhaltsstoffe des Ginseng bestehen im wesentlichen aus einem Gemisch von Saponinen. Ihnen wird eine Blutdruck und Cholesterin senkende, gefäßerweiternde, gonadotrope sowie die Proteinsynthese steigernde Wirkung zugeschrieben, ohne daß dies allerdings allgemein akzeptiert wäre. Der Weißdorn besitzt hauptsächlich Flavonoide (u.a. Rutin) und Triterpene, die für eine positiv inotrope – die Kontraktionskraft des Herzens steigernde –, eine Herzkranzgefäß erweiternde und Blutdruck senkende Wirkung verantwortlich gemacht werden. Inhaltsstoffe der Mistel sind Acetylcholin und Viscotoxine, die – oral appliziert – im Darm gespalten werden und dann unwirksam sind. Dennoch gibt es – von der Schulmedizin allerdings bisher nicht anerkannte – Anwendungsversuche bis hin zur Krebstherapie (Immun-Krebstherapie, Mistelextrakt). Extrakte aus Ginkgo biloba (Ginkgoartige) besitzen wahrscheinlich neuroprotektive Eigenschaften, fördern die Zunahme cholinerger Rezeptoren und wirken als Radikalfänger (freie Radikale).
Vitamine und Mineralstoffe sind Bestandteile zahlreicher Geriatrika. Ihr Wert bei nachgewiesenen Hypovitaminosen ist unumstritten, es gibt aber keine generelle Notwendigkeit einer Indikation, da der Vitaminstatus des alten Menschen stark von seinen Lebensumständen abhängt. Besondere Aufmerksamkeit wird dem Vitamin E (α-Tocopherol) als Geriatrikum geschenkt. Es gehört zu den exogenen Antioxidantien und schützt daher die Zelle vor dem Angriff freier Radikale. Ob und unter welchen Bedingungen dieser in vitro ermittelte Effekt auch bei oraler Applikation von Vitamin-E-Präparaten erreicht wird, muß sich noch erweisen. Eine über längere Zeit unkontrollierte Überdosierung führt jedenfalls zu krankhaften Hypervitaminosen. Unter den Mineralstoffen ist vor allem das Calcium zu nennen, dessen Einsatz zur Beeinflussung der senilen Osteoporose aber nicht generell erfolgversprechend ist. Wurde früher insbesondere dem Testosteron als hormonellem Geriatrikum besondere Aufmerksamkeit gewidmet – da das Verlöschen der Sexualfunktionen als primäre Ursache des Alterns angesehen wurde –, so spielen heute Östrogene eine wichtigere Rolle. Viele Befunde sprechen dafür, daß Östrogenmangel mitverantwortlich für die erwähnte Osteoporose ist. Bei einer Östrogensubstitution sind allerdings die potentiellen Nebenwirkungen, wie Thromboserisiko, Durchblutungsstörungen, Hypertonie sowie Leber- und Nierenschädigungen, abzuwägen, so daß von einem universell einsetzbaren Geriatrikum nicht gesprochen werden kann. Auch Androgenderivate (Androgene), die als Anabolika (anabole Wirkung) zur Stimulation der Proteinsynthese herangezogen werden können, werden wegen erheblicher Nebenwirkungen nur noch bei genauen Indikationen (z.B. praeseniler Involutionsosteoporose oder einer negativen Stickstoffbilanz) angewandt. Präparate auf der Basis von Nicotinsäure und Theophyllin sowie Papaverin sollen als vasoaktive Substanzen die Durchblutung fördern. Allerdings sprechen arteriosklerotische Gefäße nicht auf diese Substanzen an, so daß eine mögliche Durchblutungssteigerung nur ohnehin gesunde Gefäße betrifft, die unter Umständen den verkalkten Gefäßen dadurch vermehrt Blut entziehen („steal-Effekt“). Nicotinsäure-Derivate werden auch – ebenso wie das zu den Aryloxyalkancarbonsäuren gehörende Clofibrat als sog. Lipidsenker (Arteriosklerosemittel) eingesetzt. Wegen der erheblichen Nebenwirkungen ist seine Anwendung jedoch nach vorübergehendem Verbot stark eingeschränkt. Mehr als 20 geriatrische Kombinationspräparate enthalten in einer Menge von 2–100 mg das Hydrochlorid des p-Aminobenzoyl-diethylaminoethanols, bekannt geworden unter den Namen Procain, „Stoff H3“ oder Novocain® ( vgl. Abb. ). Nach der Aufnahme in den Körper wird es schnell in p-Aminobenzoesäure und Diethylaminoethanol gespalten. Novocain ist ein schon jahrelang benutztes Lokalanästhetikum (Lokalanästhetika); seine angeblich verjüngende Wirkung wurde insbesondere durch die rumänische Ärztin A. Aslan beschrieben und propagiert („rumänische Kur“ – als intramuskuläre Injektion des Procainhydrochlorids). Am wahrscheinlichsten ist der in diesem ZusammenhaR: beschriebene antidepressive Effekt (Antidepressiva), der aus einer Hemmung der Monoamin-Oxidase (MAO-Hemmer; Monoamino-Oxidasen-Hemmer), die für den Abbau der Catecholamine verantwortlich ist, resultiert. Schließlich sind Substanzen zu nennen, deren Wirkung schwerpunktmäßig am Gehirn ansetzt und die zum Teil als Psychopharmaka z.B. zur Verbesserung des hirnorganischen Psychosyndroms (HOPS) mit Übergang zur senilen Demenz Anwendung finden. Hierzu gehören Centrophenoxin, Mutterkornalkaloide und die Nootropika mit dem Derivat der γ-Aminobuttersäure Piracetam. Centrophenoxin (Meclofenoxat, Helfergin) ist ein Ester der 4-Chlorphenoxyessigsäure (einem Auxin-Derivat) und des Dimethylaminoethanols (DMAE, einer Vorstufe des Cholins). Wegen des DMAE-Anteils besteht Verwandtschaft zum Procain. Der wirksame Teil des Centrophenoxins ist DMAE, der in den cerebralen Phospholipidstoffwechsel eingeschleust werden kann. DMAE ist weiterhin als Radikalfänger bekannt. Im Tierexperiment bewirkt Centrophenoxin eine Reduktion des Gehalts an Lipofuscin (Alterspigment) der Zellen. Verschiedene Untersuchungen berichten darüber hinaus von einer durchblutungsfördernden Wirkung des Centrophenoxins. Ähnliche Wirkungen wie dem Centrophenoxin werden auch Derivaten der Orotsäure zugesprochen. Mutterkornalkaloide (Ergotalkaloide) besitzen ein breites Wirkungsspektrum und stimulieren generell das adrenerge System. Das für diese Substanzen charakteristische tetracyclische Ergolin-Ringsystem besitzt Strukturähnlichkeiten mit den biogenen AminenNoradrenalin, Dopamin und Serotonin, was auf ihre pharmakologische Wirksamkeit hinweist. Sie dienen häufig als Psychomimetika (Halluzinogene). Als Geriatrikum ist Hydergin® (Dihydroergotoxinmesylat) bekannt geworden, das seit nahezu 40 Jahren zur Therapie der cerebralen Hirninsuffizienz eingesetzt wird. Es enthält 4 Dihydro-Derivate von Mutterkornalkaloiden. Zu den zahlreichen therapeutischen Effekten, die für Hydergin beschrieben werden, gehören eine Steigerung der Hirndurchblutung, Normalisierung des EEGs (Elektroencephalogramm) nach Hypoxie und damit eine Stabilisierung von Verhaltens- und Leistungsparametern sowie eine Verbesserung von leichten bis mittelschweren Formen des HOPS. Als molekulare Wirkmechanismen werden antagonistische und agonistische Eigenschaften gegenüber cerebralen adrenergen Rezeptoren – insbesondere Dopaminrezeptoren im Striatum – und gegenüber serotoninergen Transmittersystemen (Serotoninrezeptor-Kanäle) besprochen. In diesem Zusammenhang soll der cAMP-Spiegel (cAMP) in der Nervenzelle stabilisiert werden. Die Substanzen Cinnarizin (Stutgeron) und Vincaalkaloide (Vincamin) besitzen ähnliche durchblutungsfördernde Wirkung. Seit über 20 Jahren wird Piracetam (2-Oxopyrrolidin-l-acetamid, Nootrop, Normabrain) zur Therapie von Symptomen des HOPS im Alter verwendet. Auch bei dieser Substanz wird von einer Normalisierung des Gehirnstoffwechsels und des EEGs nach Hypoxie berichtet; ferner soll sich der Polysomen-Ribosomen-Quotient und damit die Proteinsynthese im Cortex unter Piracetameinfluß steigern lassen. Neuerdings gibt es Befunde, die für einen positiven Effekt des Piracetams auf den cerebralen Glucosestoffwechsel bei Alzheimer-Patienten (Alzheimersche Krankheit) schließen lassen. Der molekulare Wirkmechanismus des Piracetams ist nicht genau bekannt. Ein ähnliches Wirkungsspektrum wird dem Pyritinol (Encephabol) zugeschrieben, wie das Piracetam gehört es zusammen mit Centrophenoxin und Hydergin zur Gruppe der Nootropika. Vor etwa 10 Jahren ist ein schon seit 40 Jahren bekannter Monoamino-Oxidase-B-Hemmer (MAO-Hemmer), der zunächst als Pharmakon in Kombination mit L-Dopa zur Behandlung der Parkinsonschen Krankheit progagiert wurde und als solcher vielfach Anwendung findet, als lebensverlängerndes Geriatrikum in die Schlagzeilen geraten. Diese Substanz, das Selegilin (L-Deprenyl, Movergan®, Antiparkin) soll den auch unter natürlichen Alternsbedingungen (und beim Parkinsonismus beschleunigt verlaufenden) Verlust an Dopamin aufhalten. Monoamino-Oxidasen-Hemmer wie das Selegilin üben eine „Schutzwirkung“ auf dopaminerge (und noradrenerge) Neuronen aus, indem sie die Bildung eines neurotoxischen Pyridins (MPP+), das aus dem MAO-Substrat N-Methyl-4-phenyl-1,2,3,6-tetrahydropyridin (MPTP) abgespalten wird, verhindern. Ein ähnlicher MAO-Hemmer, das Antidepressivum „Aurorix“, ist seit 1990 im Handel und wird derzeit ebenfalls auf zellschützende Wirkung hin untersucht.
K.-G.C.
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