Lexikon der Biologie: Massengesellschaft
Massengesellschaft, anonyme Großgesellschaften der Jetztzeit. Die Zunahme der Weltbevölkerung (Bevölkerungsentwicklung) mit ihren Massensiedlungs- (Stadtökologie, Urbanisierung) und Übervölkerungseffekten hat Auswirkungen auf das individuelle Erleben wie auch auf die gesellschaftlichen Sozialstrukturen. Vergleichbar mit den Ergebnissen von Untersuchungen zum Sozial- und Dichtestreß bei verschiedenen Tierarten (z.B. Spitzhörnchen; Schwanzsträubwert) führt die Massengesellschaft beim Menschen zu interpersoneller Irritation, Zunahme von Isolationserscheinungen (Deprivationssyndrom) und Aggressionshäufigkeit (Aggressivität, Aggression), verminderter Fruchtbarkeit und größerer Infektanfälligkeit (Evolutionsmedizin, Infektionskrankheiten). K. Lorenz und I. Eibl-Eibesfeldt betonten, daß gerade im Bereich des sozialen Verhaltens menschliche Aktionen und Reaktionen zu einem beträchtlichen, aber bisher ungenügend bekannten Ausmaß durch stammesgeschichtliche Anpassungen gekennzeichnet sind. Der heutige Mensch ist etwa 40.000 Jahre alt (Homo sapiens, Menschenrassen, Paläanthropologie), er veränderte sich biologisch in den letzten zehntausend Jahren nicht nennenswert, schuf sich aber eine Umwelt, für die er nicht geschaffen ist. Unsere Vorfahren lebten in Gruppen von anfänglich 30 bis 40 Individuen pro Sozietät, später von maximal 100 bis 150 im geschlossenen Sozialverband. Sie waren anfangs typische Jäger- und Sammlergemeinschaften (Jäger- und Sammlervölker; indigene Völker, traditionale Kulturen) mit einer klaren Arbeitsteilung der Geschlechter und einer obligatorischen Aufteilung der regelmäßig gesammelten Pflanzen bzw. hin und wieder erbeuteten Jagdtiere unter den Mitgliedern der eigenen Gruppe. Der Zusammenhalt der Gruppe, die Gruppenbindung, war überlebenswichtig. Nonverbale Kommunikation und später verbale Kommunikation (Sprache) ermöglichten die Koordination von Gemeinschaftsaktivitäten. Je besser die Verständigung zwischen den Gruppenmitgliedern funktionierte – was neben einer gemeinsamen Sprache eine überschaubare Größe (Gruppengröße) und auch gemeinsame Vorstellungen über das Gruppenleben voraussetzte –, desto stabiler und überlebensfähiger wurden die Sozietäten. Allgemeingültige Gruppennormen dürfen vermutet werden, nachdem sich bereits bei sozial lebenden Tieren Gruppennormen in Form von altruistischem Verhalten (Altruismus) zur Garantie des Gruppenzusammenhalts entwickelt haben. Das moralanaloge Verhalten der Tiere beruht auf erblichen Instinkten, ist also nur in seiner Funktion vergleichbar, während die durch kulturelle Tradition (Kultur, kulturelle Evolution) weitergegebenen sittlichen Normen (Bioethik, Ethik, Evolutionäre Ethik, Moral) beim Menschen zum Teil rational begründet und durch eigens hierfür konzipierte Gebote (Gesetz) geregelt sind, wenngleich auch sie einer biologischen Basis nicht entbehren. Es entwickelte sich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, die vertrauten Mitglieder der eigenen Gruppe erweckten Sympathie, Gruppenbewußtsein kam auf – ein Trend, der Individuen, mit denen es zu keiner Verständigung kam, Außenseiter der eigenen Gruppe wie Fremde (Gruppenfeind), mit Skepsis betrachten ließ. Kooperation und altruistisches Verhalten unter den Mitgliedern einer Gruppe gelten bereits bei den frühen Hominiden als wahrscheinlich. Zusätzlich geht man von einem bereits früh existierenden Wettbewerb (Konkurrenz) um Nahrung (Ernährung) und Schlafplätze mit Vertretern anderer Spezies, aber vermutlich auch mit eigenen Artgenossen aus. Wettbewerb und Kooperation haben von Anfang an das soziale Leben bestimmt; beide müssen Lebens- und Vermehrungsvorteile gebracht haben, da die Selektion nur die zum Überleben notwendigen Strukturen und Verhaltensweisen fördert. Die Balance zwischen Individuum und Sozietät, bei der weder das Individuum auf Kosten der Gruppe noch die Gruppe auf Kosten des Individuums lebt, sondern jeder von seinen eigenen Investitionen profitiert, ist auf dem Niveau von überschaubaren Gesellschaften eher herzustellen als in anonymen Massengesellschaften. anonymer Verband, Humanethologie, Humanökologie, Naturvölker.
G.H.-S.
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