Lexikon der Biologie: Bioethik
ESSAY
Hans Mohr
Bioethik
Ethik – die Reflexion über das Sittliche im Einzelmenschen und über die sittlichen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens – ist eine philosophische Disziplin. Die traditionelle Aufgabe philosophischer Ethik war eine wertende, normative Reflexion, ob es richtig sei, was als Wertsystem von einzelnen oder von der Gemeinschaft praktiziert wird. Die Bioethik – eine moderne Entwicklung – formuliert angemessene Verhaltensweisen im Umgang mit Lebewesen und mit der Natur. Es geht in erster Linie um die Frage, welche Eingriffe und Experimente die "Ehrfurcht vor dem Leben" und die Sorge um Mensch und Umwelt verbieten. Der klinischen Forschung und Praxis, dem Tierschutz und neuerdings der Biotechnologie (Gentechnologie) gilt das besondere Augenmerk. Es besteht heutzutage Übereinstimmung darin, daß Untersuchungen an Menschen das Einverständnis der Betroffenen voraussetzen und daß Experimente, die das Leben und/oder die Würde von Versuchspersonen bedrohen, zu unterlassen sind. Auch die Einfühlung (Empathie) in das Leid der Tiere und der Respekt vor dem Leben der Versuchstiere, besonders bei Primaten, haben neuerdings zugenommen, und es ist in der biomedizinischen Forschung (Biomedizin) selbstverständlich geworden, den Tieren vermeidbare Qualen zu ersparen und die Zahl der Tierversuche auf das "unerläßliche" Maß zu beschränken. Andere schwierige Fragen sind international nach wie vor umstritten, z. B. die Schwangerschaftsunterbrechung, die Verwendung in vitro gehaltener früher Entwicklungsstadien des Menschen in der medizinischen Forschung, die Klonierung von Menschen und die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. In vielen Fällen haben der jeweilige Gesetzgeber oder standesethische Kommissionen bereits durch entsprechende Verordnungen und Richtlinien eingegriffen, z. B. bei den Prüfverfahren für Arzneimittel oder bei der extrakorporalen Befruchtung (extrakorporale Insemination, Reproduktionsbiologie). Bioethische Überlegungen und ihre Umsetzung in praktische Vorschriften verlangen Augenmaß und Kompromißfähigkeit. Eine Überbetonung bioethischer Argumente könnte wichtige Zweige der biologischen, medizinischen und pharmazeutischen Forschung und Entwicklung zum Erliegen bringen – mit unabsehbaren Folgen für Leben und Gesundheit von Menschen.
Bioethikkonvention. Diese Rahmenkonvention des Europarats, die 1996 fertiggestellt und zur Zeichnung durch die Mitgliedstaaten aufgelegt wurde, trägt den Titel "Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin". Nach wie vor ist allerdings der frühere Kurztitel der Entwurfsfassung ("Bioethik-Konvention") vielfach in Gebrauch, obgleich der Kurztitel irreführend ist. Es handelt sich nämlich bei der Konvention nicht um ein Dokument ethischer Reflexion, sondern um ein rechtliches Rahmenwerk. Außerdem beschränkt sich die Konvention auf einen engen, wenngleich wichtigen Sektor der Bioethik. Nach dem Willen des Europarates sollte die Bioethikkonvention bei der Europäischen Menschenrechtskonvention ansetzen (Europarat 1992) und Kriterien und Regeln vorschlagen, die den Schutz der Menschenwürde und der Grundrechte im Bereich Biomedizin gewährleisten.
Einige mit ethischen und rechtlichen Problemen verbundene Handlungsbereiche der modernen Medizin haben keinen Eingang in die Rahmenkonvention gefunden. Es handelt sich dabei um Fragen, in denen man nicht erwartete, eine Einigung erzielen zu können, oder die man einer speziellen Regelung vorbehalten wollte. Darunter finden sich auch so wichtige Problembereiche wie Sterbehilfe ( vgl. Infobox ) und Schwangerschaftsabbruch (Schwangerschaft) oder die Frage des Todeskriteriums (Tod) und seiner Bedeutung für die Organ-Transplantation. Auch andere traditionelle Themen der Bioethik – Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, Lebensqualität, Patentierung menschlicher Gene – bleiben ausgeklammert. Ausdrücklich haben Parlamentarische Versammlung und Ministerkomitee des Europarats eine Rahmenkonvention in Auftrag gegeben, die selbst in erster Linie Prinzipien enthält und die durch Protokolle zu speziellen Anwendungsbereichen ergänzt werden soll. Ein erstes Beispiel für die Fortschreibung der Konvention stellt das Protokoll zum Klonverbot von Menschen dar, das im November 1997 vom Ministerkomitee verabschiedet wurde. Es sieht vor, daß jede Intervention, die der Herstellung eines menschlichen Lebewesens dient, das genetisch identisch mit einem anderen menschlichen Lebewesen ist – gleichgültig ob lebend oder tot –, verboten ist. Unter einem genetisch identischen Lebewesen wird dabei eines verstanden, das über dasselbe genetische Kernmaterial verfügt. Das Verbot erfaßt sowohl die Methode des Embryonensplittings als auch die Zellkerntransplantation (Kerntransplantation).
Die Auffassung, die sich in dem Protokoll niedergeschlagen hat, wird international nicht geteilt. In den USA zum Beispiel verbietet kein Gesetz das privatfinanzierte Klonen von Menschen. Bioethik als Sondermoral? Die Bioethik darf nicht als eine Sondermoral des biologisch-medizinischen Forschers oder des klinisch-industriellen Anwenders aufgefaßt werden. Bioethische Regeln gelten, zumal wenn sie durch Recht und Gesetz gedeckt sind, für jedes menschliche Verhalten. Ein Sonderstatus für den Wissenschaftler kommt allerdings dadurch zustande, daß sich Selbstkontrolle und gesetzliche Kontrolle durchdringen. Die Entwicklung der Gentechnik zeigt exemplarisch diesen Sachverhalt auf. Unter Gentechnik oder Gentechnologie versteht man Verfahren zur Isolierung genetischen Materials, zur Bildung neuer Genkombinationen sowie zur Wiedereinführung und Vermehrung dieser Kombinationen in eine neue, eventuell unnatürliche Umgebung. Ein Beispiel wäre die Einführung des menschlichen Insulin-Gens (Insulin) in ein Bakterium. 1975 waren es die beteiligten 140 Wissenschaftler aus 17 Ländern, die in Asilomar auf die Risiken ihrer molekularbiologischen Experimente aufmerksam gemacht haben. In der Folge der heute schon legendären Asilomar-Konferenz wurden in den USA von den Forschern selbst Richtlinien für das Arbeiten mit gentechnischen Methoden ausgearbeitet. Diese Richtlinien haben dann in vielen europäischen Ländern die Grundlage für nationale Gentechnikgesetze gebildet. Obwohl seitdem in der Gentechnik zahlreiche Durchbrüche erzielt wurden, sind diese Richtlinien auch heute noch nicht veraltet, weil sie periodisch den neuesten Erkenntnissen und Entwicklungen angepaßt werden. Es liegt in der Natur der Sache, daß diese Anpassungen nur von Wissenschaftlern vorgenommen werden können, die selbst aktiv in dieser Forschung tätig sind. Die Entwicklung seit 1975 zeigt, daß die Selbstkontrolle zusammen mit der gesetzlichen Kontrolle funktioniert hat. Die nach Auffassung der Wissenschaft übertrieben restriktive deutsche Gesetzgebung in Sachen Biotechnologie/Gentechnik wurde 1993 durch eine Novellierung des Gentechnikgesetzes (Gengesetz) weitgehend korrigiert.
Die extrakorporale Befruchtung. Diese Fortpflanzungstechnik (Insemination), die mit Gentechnik nichts zu tun hat, gibt seit zwanzig Jahren kinderlosen Ehepaaren die Chance, ein eigenes Kind zu haben (Geburt des ersten extrakorporal gezeugten Kindes, Louise Brown, 1978 in England, seitdem weltweit 300 000). Das bereits "klassische" Beispiel sind Eheleute, bei denen auf Seiten der Frau eine eileiterbedingte Sterilität vorliegt, die anders nicht zu umgehen ist, während beim Mann Zeugungsfähigkeit besteht und beide Ehepartner den dringenden Wunsch nach einem eigenen Kind haben. Der physiologische Vorgang der Befruchtung und der ersten Zellteilung wird dabei für eine relativ kurze Zeit in ein künstliches Milieu verlegt ("Retorte" oder "Reagenzglas"). Während dieser Zeitspanne besteht also kein Kontakt zwischen dem weiblichen Organismus und dem Keim. Die problemlose Übertragung des Embryos in die Gebärmutter ("embryo transfer") erfolgt im Vierzellstadium. Um die Erfolgsaussichten zu erhöhen, werden in der Regel mehrere Embryonen gleichzeitig transferiert – mit dem Risiko einer Mehrlingsschwangerschaft. Bei der ethischen Diskussion über extrakorporale Befruchtung kommt es wesentlich auf die Begriffe Embryo und Fetus an. Von einem Fetus spricht man beim Menschen, wenn die Leibesfrucht älter als acht Wochen ist, vom Zeitpunkt der Befruchtung an gerechnet. Vorher handelt es sich um einen Embryo. Allerdings wird aus dem Gewebe, das sich innerhalb der ersten 2 Wochen aus der Zygote bildet, zum großen Teil extraembryonales Zellmaterial, das gar nicht in die Entwicklung einmündet, sondern als Nachgeburt erscheint. Der Embryo i. e. S. existiert somit erst nach etwa 2 Wochen.
Nach geltendem deutschem Recht (Embryonenschutzgesetz von 1990) genießt der Embryo vollen Rechtsschutz, da sich der Gesetzgeber entschlossen hat, bereits der befruchteten Eizelle die volle Menschenwürde zuzuerkennen. Eine verbrauchende Embryonenforschung, wie sie zum Beispiel für eine Klonierungspraxis oder für die Keimbahntherapie notwendig wäre, ist damit in Deutschland per Gesetz ausgeschlossen.
Gendiagnostik. In der heutigen Pflanzen- und Tierzucht spielt die Gen- bzw. Genomanalyse mit Hilfe von DNA-Markern eine grundlegende Rolle. Eng gekoppelte DNA-Marker erlauben die Lokalisierung von "Merkmalen" auf der DNA. Dies erleichtert die Beurteilung des Erfolgs von Züchtungsschritten. Bei der pflanzlichen Resistenzzüchtung zum Beispiel sind die DNA-Marker unentbehrlich geworden, da die aufwendigen Resistenztests im Feldversuch durch DNA-Analysen an Keimpflanzen im Labor ersetzt werden können. Die Gendiagnostik beim Menschen (genetische Diagnose) ist nicht unumstritten. Sie erweitert die herkömmliche pränatale Diagnostik, die sich auf cytologische Chromosomenanalysen (z. B. Trisomien) stützt. Die molekulare Diagnostik erlaubt mit hoher Zuverlässigkeit den Nachweis vieler Erbdefekte (Tabelle Erbkrankheiten) im pränatalen Zustand. Die darauf aufbauende genetische Beratung verfolgt das Ziel, die Eltern über zu erwartende Erbkrankheiten aufzuklären. Es liegt (in Deutschland) ausschließlich in der Verantwortung der Eltern ("informed choice"), ob ein schwerwiegender Gendefekt als medizinische Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch ( vgl. Infobox ) herangezogen wird. Der Umgang mit Gendiagnosen beim Menschen erfordert darüber hinaus eine hohe (ethische) Sensibilität: Krankheiten, die zwar mit Sicherheit diagnostiziert, aber (derzeit) nicht therapiert (Therapie, Gentherapie) werden können, stellen eine Belastung für den Betroffenen dar; Gendiagnosen können dazu mißbraucht werden, den Betroffenen im Berufsleben und bei Versicherungsfragen zu benachteiligen.
Tierschutz. Tierversuche nach wissenschaftlichen Methoden unterliegen grundsätzlich dem Grundrechtsschutz der Forschungsfreiheit (Art.5 Abs.3 GG). Das geltende Tierschutzgesetz erlaubt jedoch – wie schon die Goßlerschen Verordnungen aus dem Jahre 1882 – nur die "unerläßlichen" Experimente. Obgleich das Grundgesetz eine "Tierwürde" nicht kennt, könnten vom juristischen Standpunkt aus überflüssige, nicht schonend und nicht sachverständig vorgenommene Tierversuche als "sittenwidrig" qualifiziert und mit Bezug auf das Sittengesetz verboten werden (Art.2 Abs.1 GG). Wer fällt die Entscheidung darüber, welche Tierversuche für die Gewinnung neuer Erkenntnisse – insbesondere in der unumgänglichen Toxikologie – wahrhaft unerläßlich sind? Ohne Zweifel muß dies dem sachverständigen biomedizinischen Forscher vorbehalten bleiben.
Die gesetzliche Regelung, das Tierschutzgesetz (zuletzt novelliert im Jahr 1993), kann mit einer hohen Akzeptanz rechnen. Das Gesetz verlangt eine sorgfältige Güterabwägung und Rechtfertigung, wenn Tiere für die Bedürfnisse des Menschen in Anspruch genommen werden. Vermutlich wird niemand dafür eintreten, Forschungsfreiheit so absolut zu setzen, daß prinzipiell jedes Leid von Tieren durch diese Freiheit gerechtfertigt wird. Die biomedizinische Forschung hat längst damit begonnen, Maßnahmen zu ergreifen, die zur Begrenzung von Schmerzen, Leiden und Schäden bei Tieren führen: durch die Etablierung des Faches "Versuchstierkunde", durch eine gründliche Ausbildung für Tierpfleger, Laboranten und tierexperimentell tätige Wissenschaftler, durch Bemühungen um artgerechte Haltung und Versorgung der Labortiere, durch ethische Richtlinien zur Durchführung der Experimente, deren Nichteinhaltung die Verweigerung der Publikation in den Fachzeitschriften nach sich zieht.
Trotzdem bleibt der Tierversuch ein ethisch umstrittenes Thema. Der Hinweis auf die "Notwendigkeit, tierisches Leben zu opfern, um menschliches Leben zu retten", ist zu allgemein. Mir scheint, daß die ins Detail gehenden Formulierungen des Moraltheologen Franz Böckle eher die Auffassungen vieler Biologen zu diesem Thema wiedergeben:
"Tierisches Leben darf nicht geopfert werden zur Befriedigung von ungerechtfertigtem Konsumverhalten in der Nahrungsmittelbeschaffung... Es darf nicht getötet und ausgerottet werden zur Gewinnung von Luxuskleidungsstücken, es darf nicht gequält werden zur Erprobung von Kosmetika, Quälerei in der Tierhaltung zur wettbewerblichen Preissenkung ist unerlaubt... Es ist zu fragen, ob ein Tierversuch einem Forschungsobjekt dient, das für die medizinische Forschung unerläßlich ist. Es ist abzuwägen, ob ein Versuch an Tieren überhaupt die gewünschten Aufschlüsse für den humanmedizinischen Bereich liefern kann. In der medizinischen Ausbildung ist zu prüfen, ob durch andere Methoden der Vermittlung als den Tierversuch derselbe Lernerfolg erzielt werden kann."
Ein Blick nach vorne: Der Tierschutzgedanke wird sich weiter durchsetzen, zumindest in den wohlhabenden Industrieländern. Die Zeiten, als Tiere in Cartesianischer Tradition (Descartes) wie Sachen behandelt und rücksichtslos ausgebeutet wurden, sind – in unserer Region – vorbei. Auch die früher allgegenwärtige Tierquälerei, sei es zum Vergnügen oder aus ökonomischen Gründen, wird erkennbar weniger. Die Auffassungen des englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748–1832) werden allmählich populär: Es sei unwichtig, so verkündete Bentham, ob Tiere denken oder sprechen könnten. Entscheidend sei ihre Eigenschaft, Schmerz und Leid zu empfinden (zum Tierschutz: vgl. Infobox ).
Naturschutz. In der gegenwärtigen Umweltdiskussion wird "Natur" häufig in gleicher Bedeutung wie "Umwelt" aufgefaßt. Wenn bei uns heute von "Naturschutz" (Naturschutz) die Rede ist, meint man in der Regel den Schutz der Kulturlandschaft (Biosphärenreservat), vor allem der (bäuerlichen) Kulturlandschaft mit ihren ästhetischen Qualitäten, und keineswegs die Restaurierung der ursprünglichen mitteleuropäischen Waldgesellschaften (Wald), von denen außerhalb der Fachwissenschaft kaum jemand noch etwas weiß. "Umweltschutz" zielt auf die Erhaltung der natürlichen Grundlagen eines kultivierten menschlichen Lebens. Bewahrung der Eigenart, Vielfalt und Schönheit der Kulturlandschaft, Bewahrung des kulturellen Erbes ist eine ganz andere Zielsetzung als Erhaltung oder Restaurierung von Wildnis. Umweltschutz ist Kulturschutz! Bei dem momentanen Disput um den richtigen Weg in die Zukunft in unserem Land kann es deshalb nicht um ein "Zurück zur Natur" oder um die Reetablierung mythischer Weltbilder gehen, sondern um den Erhalt der natürlichen Grundlagen eines kultivierten menschlichen Lebens.
Artenschutz. Seit der neolithischen grünen Revolution (Entstehung von Agrikultur; Ackerbau) wurden zugunsten von Kulturpflanzen und Nutztieren die Wildarten systematisch zurückgedrängt. Die immer wieder beschworene "ungebrochene Naturverbundenheit der Jäger und Sammler" ist zwar eine nostalgische Illusion; zweifellos aber hat mit der "Erfindung" von Agrikultur im Neolithikum der Eingriff des Menschen in die natürlichen Ökosysteme eine neue Dimension erreicht.
Aus der Naturlandschaft entstand die (zunächst bäuerliche) Kulturlandschaft, aus den natürlichen (mehr oder minder selbstregulierenden) Ökosystemen entstanden weltweit die vom Menschen bestimmten (die anthropogenen) Ökosysteme. Diese anthropogenen Ökosysteme sind es, und nur sie, die das Ertragsgut liefern, das tägliche Brot für Milliarden von Menschen. Solange der Mensch um das Überleben ringt, ist Artenschutz eine Illusion. Aktiver Artenschutz – der Versuch, Arten um ihrer selbst und nicht wegen ihres Nutzens für den Menschen zu erhalten – ist ein Phänomen der Überflußgesellschaft (Artenschutzabkommen). So paradox es manchem vorkommen mag: Erst die hoch effiziente Industrie- und Agrargesellschaft kann sich uneigennützigen Artenschutz leisten!
Der eigennützige Artenschutz – man konserviert potentielle Nutzpflanzen in lebenden Bibliotheken und Genbanken – hat zwar moralisch einen anderen Rang, aber er kann im Endeffekt natürlich auch dazu beitragen, daß gefährdete Arten erhalten bleiben (Biodiversität). Auch der eigennützige Artenschutz erfordert hohe Investitionen und einen Pegel an wissenschaftlichem Knowhow, der nur in den Industrieländern zur Verfügung steht. Sollten auch sie, etwa infolge einer falschen Wirtschaftspolitik, in Armut zurückfallen, wird es weltweit weder Arten- noch Umweltschutz mehr geben. Armut – und nicht Wohlstand – ist die größte Gefahr für Umwelt und Natur. Viele von uns – der Autor eingeschlossen – halten den aktiven Arten- (und Umwelt-) Schutz unreflektiert für etwas moralisch Gutes. Die Frage ist, wie sich diese Einstellung begründen läßt.
Naturalistisch läßt sich Artenschutz nicht begründen: Die natürliche Evolution ist artenschaffend (Art, Artbildung), aber nicht artenerhaltend. Von den Arten, die im Laufe der natürlichen biologischen Evolution auf der Erde gelebt haben, sind über 99% wieder ausgestorben (Aussterben) – ohne das Wirken des Menschen. Vom Standpunkt der natürlichen Evolution aus ist die Artenerhaltungsperspektive eine idyllische Ideologie. Auch das seit Albert Schweitzer beliebte Grundaxiom "Ehrfurcht vor dem Leben" bringt uns in unüberwindliche Schwierigkeiten! Welches Leben ist gemeint? Das Leben der Arten, das Leben der Individuen, das Leben des Menschen? Das Leben der Tuberkelbazillen und der AIDS-Viren? Alles schließt sich gegenseitig aus: Wer setzt welche Prioritäten? Auch der Regreß auf das klassische Naturrecht und damit auf eine transzendentale Begründung macht es sich zu leicht. So der Philosoph Reinhard Löw: "Wären transzendentale Begründungen nicht obsolet, würde also der Mensch nicht nur in der evolutionsbiologischen Verwandtschaft mit der Natur, sondern in seiner Schöpfungsverwandtschaft mit ihr begriffen, dann ergäben sich die Rechte aller Geschöpfe und alles Geschöpften von selbst. Denn nicht als Despot stünde der Mensch der Schöpfung gegenüber, sondern er stünde in ihr an der Spitze der Lebenspyramide, eingebunden in göttliches Recht und angehalten, den Geschöpfen das Ihrige zukommen zu lassen." Wie will Reinhard Löw den Geschöpfen das Ihrige zukommen lassen, wenn er und seine Artgenossen einfach durch ihre gigantische Zahl heute bereits 40% der potentiellen Nettoprimärproduktion für sich abzweigen?
Die jährliche Nettoprimärproduktion (NPP) wird definiert als die im wesentlichen solare Energie, die biologisch fixiert wird, abzüglich der Atmung der zumeist pflanzlichen Primärproduzenten, die diese biologische Fixierung bewirken (Energieflußdiagramm, Energiepyramide, Kohlenstoffkreislauf, Stickstoffkreislauf). NPP ist somit die Energie, die für alle Konsumenten und Destruenten einschließlich des Menschen übrigbleibt. Der Mensch beansprucht derzeit bereits 40% der potentiellen NPP der Landflächen. Für alle übrigen Konsumenten bleiben 60%.
Die monistischen Vorstellungen des Naturphilosophen Meyer-Abich haben neuerdings viel Widerhall gefunden: Nicht nur Tiere und Pflanzen hätten Rechte, die der Mensch treuhänderisch wahrnehmen müsse, sondern auch die Elemente (Bioelemente). Die Evolution verbinde den Menschen nicht nur mit allen Lebewesen, sondern auch mit der anorganischen Natur (anorganisch). Wenn der Mensch (Lebens-) Rechte habe, dann habe, abgestuft, alles übrige Wirkliche sie auch.
Auch wenn uns das Konzept einer Mitgeschöpflichkeit, einer "Rechtsgemeinschaft über den Evolutionszusammenhang", emotional positiv berührt; es gibt uns keine in praxi brauchbare Antwort auf die Frage, mit welcher Begründung und mit welcher Strategie die Sonderstellung des Menschen, seine numerische und ökologische Dominanz, aufzuheben wäre. Anders gesagt: Weder aus der naturrechtlich-transzendentalen noch aus der monistisch-ontologischen Begründung läßt sich praktisch verpflichtendes Orientierungswissen ableiten. Artenschutz bleibt ein emotional einleuchtendes Postulat, weil es unsere affektive Bindung an die Schöpfung bestätigt, vielleicht auch unsere Empathie für das Mitgeschöpf, aber es ist weder sachlich noch logisch begründbar. Am ehesten vielleicht überzeugt uns der Appell an den Generationsvertrag, der uns moralisch verpflichtet, die Substanz der Welt möglichst ungeschmälert an künftige Generationen weiterzugeben. Aber hier stoßen wir auf das eigentliche Problem.
Das Kardinalproblem aller Bioethik. Der Mythos einer heilen Welt, die ökologische Versöhnung des Menschen mit der Natur, ist eine Illusion. In Wirklichkeit ist der Mensch, wie viele erfolgreiche Arten vor ihm in der Evolution, eine Naturkatastrophe gewesen, und er wird es bleiben. Seitdem der moderne Homo sapiens auf diesem Planeten existiert, seit dem späten Pleistozän (Australopithecinen, Paläanthropologie), greift er brutal in die "Ordnung der Natur" ein, vernichtet andere Arten, zerstört die Vielfalt und Schönheit der Schöpfung – um Platz zu schaffen für sich und seine Kultur.
Das Kardinalproblem heute ist die Zahl der Menschen. 1998 lebten 5,9 Milliarden Menschen; vor 60 Jahren waren es noch 2 Milliarden; täglich kommen etwa 220 000 dazu. Im Jahr 2000 werden 6 Milliarden Menschen auf dieser Erde hausen. Über 93% dieses Wachstums wird in den Entwicklungsländern erfolgen (Bevölkerungsentwicklung).
Wo liegt unter den heute absehbaren Produktionsbedingungen die Tragekapazität der Erde für unsere Art, und in welchem Abstand von der Tragekapazität müßten wir uns einrichten, damit wir einen zumindest mittelfristig stabilen Zustand erreichten? Eine Abschätzung ist naturgemäß schwierig, weil sie von Rahmenbedingungen abhängt, aber die meisten Experten sind der Ansicht, daß 6 Milliarden Menschen auf der Welt die mittelfristige Tragekapazität unseres Planeten bereits weit übersteigen. Wir leben zur Zeit von dem eng begrenzten Vorrat fossiler Ressourcen (fossile Brennstoffe) und von dem ebenso begrenzten Entsorgungspotential der Biosphäre und der Atmosphäre. Wir leben von der Substanz. Euthanasie, evolutionäre Ethik, Speziesismus. vgl. Infobox.
Lit.:Ach, J.S., Gaidt, A. (Hrsg.): Herausforderung der Bioethik. Stuttgart 1993. Demmer, K.: Leben in Menschenhand. Grundprobleme der Bioethik. Freiburg 1987. Engels, E.M., Junker, T., Weingarten, M. (Hrsg.): Ethik der Biowissenschaften. Geschichte und Theorie. Berlin 1998. Holzhey, H., Leyvraz, J.P. (Hrsg.): Der Wert des Lebens. Bioethik in der Diskussion. Bern 1991. Irrgang, B.: Forschungsethik, Gentechnik und neue Biotechnologie. Stuttgart 1997. Korff, W., Beck, L., Mikat, P. u. a. (Hrsg.): Lexikon der Bioethik. 3 Bde. Gütersloh 1998. Zülicke, F.: Bioethik. Beiträge zu philosophisch-ethischen Problemen der Biowissenschaften. Cuxhaven 1996.
Sterbehilfe durch Therapiebegrenzung
Es ist das Ziel der Medizin, Leiden zu mindern, die Gesundheitsspanne der Lebensspanne immer mehr anzugleichen. Gerontologisches Bemühen der Ärzte kann nicht darauf abzielen, dem Leben immer noch mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben (Altern). In der Praxis geht es um die Frage nach dem rechten Maß an Lebensverlängerung. Der ethische Grundsatz lautet: "Die Entscheidung für die Anwendung aller verfügbaren Maßnahmen zur Lebensverlängerung ist ethisch keineswegs unbedenklicher als die Entscheidung für die Unterlassung derartiger Maßnahmen." Der Mainzer Moraltheologe Johannes Reiter hat das Problem auf den Punkt gebracht: "Wie das Postulat Menschlichkeit im ärztlichen Handeln eingelöst werden kann, muß neu ausgelegt und überzeugend praktiziert werden." Die Ärzteschaft als ganzes hat hier noch kein einheitliches Konzept gefunden, obgleich einzelne Gruppierungen sich neuerdings dezidiert geäußert haben, zum Beispiel die Chirurgen. In der Leitlinie zum Umfang und zur Begrenzung der ärztlichen Behandlungspflicht in der Chirurgie von 1996 heißt es dazu: "Während Therapiebegrenzung im Rahmen der ärztlichen Sterbebegleitung oder auch in früheren Phasen einer prognostisch infausten Erkrankung zum ärztlichen Behandlungsauftrag gehört bzw. gehören kann, werden Tendenzen zur Akzeptanz ... einer aktiven Euthanasie abgelehnt, auch in Kenntnis und unter Würdigung gegenteiliger Argumente."..."Therapiebegrenzung hat das Ziel, einem Patienten Belastungen durch eine spezielle Therapiemaßnahme zu ersparen, wenn diese für seine individuelle Situation keine Hilfe bringt. Eine auf diese Weise ärztlich indizierte Therapiebegrenzung bedeutet nicht eine geringere Behandlungsintensität oder gar Nicht-Behandlung aufgrund ökonomischer Gegebenheiten bei schwerkranken, bei gebrechlichen, alten oder behinderten Patienten. Eine solche Therapiebegrenzung würde ärztlichem Ethos widersprechen." Auf der anderen Seite hat das Oberlandesgericht Frankfurt kürzlich (August 1998) entschieden, daß ein Vormundschaftsgericht dem Abbruch der Sondenernährung von Koma-Patienten zustimmen darf, "wenn dies dem zuvor geäußerten oder dem mutmaßlichen Willen" des Patienten entspricht "und ein bewußtes und selbstbewußtes Leben nicht mehr zu erwarten ist". Der im vorab geäußerte Patientenwille wird in Zukunft von besonderer Bedeutung sein, wenn es darum geht, durch Therapiebegrenzung dem Postulat Menschlichkeit im ärztlichen Handeln eine neue Dimension zu eröffnen.
Abtreibungspraxis
Eine schwere Belastung für die bioethische Diskussion über Embryonenschutz ergab sich aus dem Umstand, daß sie von Anfang an durch eine Bewußtseinsspaltung gegenüber dem menschlichen Leben gekennzeichnet war und ist. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. 5. 1993 ist in Deutschland (nach einer Beratung) der Schwangerschaftsabbruch ohne Indikation bis zur 12. Woche straffrei, aber rechtswidrig. Das "rechtswidrig" hat lediglich die Konsequenz, daß ein Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht besteht. In finanziellen Notlagen übernehmen jedoch die Sozialämter oder die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs.
De facto genießt der Fetus in utero somit keinen Rechtsschutz, im Gegensatz zum extrakorporalen Embryo, dem das Embryonenschutzgesetz den vollen strafrechtlichen Schutz gewährt. Diese ethisch und juristisch paradoxe Situation ist das Ergebnis "politischer" Kompromisse. In Deutschland werden derzeit pro Jahr etwa 200 000 legale Abtreibungen vorgenommen. Die meisten dieser Abtreibungen erfolgen nicht aufgrund einer medizinischen/embryopathischen Indikation. Sie bedeuten somit die absichtliche Tötung eines normalen Fetus, d. h. eines genetisch gesunden Menschen in seiner vorgeburtlichen Zeit. Es erscheint unvorstellbar, daß in unserem Land tatsächlich soziale Not der Grund für die hohe Zahl der Abtreibungen sein soll. Die eigentliche Ursache für die derzeitige Abtreibungspraxis liegt eher darin, daß die Tötung eines Menschen in seiner vorgeburtlichen Zeit von maßgebenden Kräften in unserer Gesellschaft als ethisch unerheblich angesehen wird. Natürlich ist dem Autor die Vielschichtigkeit des Problems bekannt. Aber dies kann für den Biologen nicht bedeuten, daß er sich für Embryonenschutz einsetzt – wie viele von uns erwarten – und gleichzeitig dem weit entwickelten Fetus den Schutz verweigert. Die Ethik des Umgangs mit dem ungeborenen menschlichen Leben ist unteilbar. Für den Biologen ist und bleibt die Abtreibung eine Notlösung, die ultima ratio, bei einer entsprechend gelagerten medizinischen, embryopathischen, kriminologischen oder sozialen Indikation. Geburtenkontrolle, eine weltweit vordringliche Aufgabe (Empfängnisverhütung), kann ethisch nur Konzeptionskontrolle bedeuten.
Zum Tierschutz
Moderne Tierrechtler wollen Tiere voll in die Normen des menschlichen Zusammenlebens einbeziehen. Sie halten jede verbrauchende Nutzung von Tieren und Tierprodukten für unethisch. In letzter Konsequenz ist die Tierrechtsidee weder praktikabel noch ethisch stringent zu begründen. In der realen Welt kann es nicht darum gehen, das Töten von Tieren für menschliche Zwecke zu verbieten. Das Anliegen der Tierschutzpraxis zielt vielmehr darauf ab, ungerechtfertigtes Töten und (vor allem!) jede Form von Tierquälerei zu verhindern. Diesem Zweck dienen auch die Mindestnormen für den Tierschutz in der EU. Bis Ende 1999 müssen alle Mitgliedstaaten eine neue EU-Richtlinie mit Mindestnormen für den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere in ihr nationales Recht übertragen. Die EU-Regelung beschränkt sich weitgehend auf allgemeine Grundsätze wie die Bewegungsfreiheit der Tiere, bauliche Anforderungen oder die regelmäßige Versorgung und Kontrolle der Bestände. Vorgesehen ist ferner eine Aufzeichnungspflicht für alle tiermedizinischen Behandlungen. Diese allgemeinen Vorgaben werden durch technische Regelungen für einzelne Tierarten ergänzt, zum Beispiel den Vorschlag für den Schutz von Legehennen (Massentierhaltung). Die neue Tierschutzrichtlinie hatte für schwierige Beratungen im EU-Ministerrat gesorgt, weil Frankreich und einige andere EU-Länder gleichwertige Verpflichtungen von Drittländern verlangen, die Fleisch und andere tierische Erzeugnisse in die EU liefern. Dieser Streitpunkt wurde zuerst ausgeklammert, um neue Auseinandersetzungen in der Welthandelsorganisation zu vermeiden. Die Kommission soll jedoch bis Mitte 1999 einen ergänzenden Bericht und gegebenenfalls weitergehende Vorschläge unterbreiten.
Verantwortung und Risikoakzeptanz
Der Philosoph Hans Jonas hat in seinem Buch "Das Prinzip Verantwortung" die Maxime begründet, daß wir, wenn begründete Zweifel bestehen, in der heutigen Welt eine Handlung unterlassen müssen. Dem ist entgegenzuhalten, daß nicht nur das Tun, sondern auch das Unterlassen Konsequenzen hat. Angewendet auf die aktuelle Gentechnik: Es genügt nicht, immer und immer wieder zu prüfen, welche (Rest-)Risiken der Gentechnologie anhaften; man muß mit derselben Sorgfalt die Frage auf den Prüfstand bringen, welche Chancen wir in Medizin, Pharmazie, Agrikultur und Umweltschutz versäumen, wenn wir auf Gentechnik verzichten. Das Prinzip "Verantwortung", das wohl jeder für moralische Fragen sensitive Naturforscher bejaht, verpflichtet uns dazu, symmetrisch zu argumentieren, d. h., nach bestem Wissen und Gewissen Vorteile und Risiken eines Vorhabens gegeneinander abzuwägen und entsprechend zu handeln. Die Vorherrschaft der Negativprognose gibt kein hinreichendes Kriterium für das, was in der Gegenwart verantwortlich zu tun ist.
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