Lexikon der Biologie: Saitenwürmer
Saitenwürmer, Nematomorpha, Gordiacea, Klasse der Nemathelminthes mit ca. 300 Arten. Saitenwürmer sind durchweg fadendünn, bei einer Länge von 10–30 cm, im Extrem bis zu 150 cm, kaum mehr als 2 mm dick, sandfarben bis olivbraun und drahtartig zäh wie eine verknäuelte alte Instrumentensaite (Name). Während der längsten Zeit ihres Lebens leben sie als Endoparasiten in Arthropoden und verlassen diese Wirte ( ü vgl. Abb. ) nur als erwachsene, geschlechtsreife Tiere zur Kopulation und Eiablage. Ihr kurzes freies Leben verbringen sie dann ohne Nahrungsaufnahme im Wasser, überwiegend in Süßgewässern, wenige Arten auch im Meer. Während dieser Zeit findet man sie zuweilen vereinzelt im seichten Wasser an Tümpelrändern, in Straßengräben und Pfützen auf Viehweiden, was im Mittelalter zu der Vorstellung führte, sie entstünden aus umgewandelten Schweifhaaren von Pferden. – Anatomie: Die folgende Beschreibung bezieht sich auf die limnische Ordnung Gordiida, zu der fast alle Arten der Saitenwürmer gehören (Ordnung Nectonematida ü vgl. Tab. ). Die Cuticula besteht wie bei Ringelwürmern und Spritzwürmern (Sipunculida) aus vielen Schichten schraubig angeordneter Fasern. Die darunterliegende Hypodermis ist ventral zu einer nach innen vorspringenden Leiste vergrößert; darin verläuft der Markstrang des Nervensystems (zum Vergleich: Fadenwürmer [Abb.] haben 4 Hypodermis-Leisten: ventral und dorsal mit Nervenstrang, rechts und links mit Exkretionskanal). Unter der Hypodermis liegen in einschichtiger Lage die sehr schlanken Muskelzellen (wie bei Fadenwürmern nur Längsmuskulatur). Die „Leibeshöhle“ besteht aus lockerem Bindegewebe (Parenchym), flüssigkeitserfüllten Spalträumen („Lakunen“) und einem Darmrudiment (ein Mund ist nicht vorhanden; die erwachsenen Saitenwürmer nehmen keine Nahrung auf). Links und rechts erstrecken sich fast über die gesamte Körperlänge die Gonaden; in beiden Geschlechtern führen die Gonodukte in den Enddarm (Kloake); der After des ansonsten rudimentären Darmtrakts fungiert also als Gonoporus. Eigentliche Exkretionsorgane fehlen (vielleicht hat das Darmrudiment auch exkretorische Funktion). – Fortpflanzung und Entwicklung: Die Kopulation findet im Wasser statt; Männchen und Weibchen pressen ihre Hinterenden aufeinander. Machen mehr als 2 Tiere Kopulationsversuche, so können größere, kaum entwirrbare Knäuel entstehen („gordischer Knoten“; davon ist der Gattungsname Gordius abgeleitet). Die insgesamt mehrere Millionen Eier werden in Form von Gallertschnüren an Wasserpflanzen abgelegt. Die vordere Körperhälfte der nur 0,15 mm langen Larven wird von einem Bohrapparat eingenommen. Er besteht aus folgenden Teilen: cuticularisierter Rüssel (Proboscis), 3 Hakenkränze (je 6 „Stacheln“ = „Haken“ = „Dorne“); beide zusammen bilden das vorstülp- und rückziehbare Introvert; im Innern 3 dazugehörige Muskelsysteme und eine große Speicheldrüse. Mit Hilfe dieses Bohrapparats können die Larven in limnische Arthropoden eindringen. Manche Larven werden wohl auch von Kaulquappen gefressen und gelangen dadurch indirekt in carnivore Insekten. Da die ausgewachsenen Saitenwürmer vor allem aber in terrestrischen Käfern (und sogar in Heuschrecken und Tausendfüßern) vorkommen, vermutet man, daß sich Larven von Saitenwürmern bei Austrocknen des Gewässers an Pflanzen encystieren (Encystierung) und später beiläufig von Arthropoden gefressen werden. Die Larven dringen bis in die Leibeshöhle des Wirts vor und werfen dann den gesamten Bohrapparat ab, also auch den Rüssel. Die heranwachsenden Saitenwürmer haben somit keinen Mund mehr und nehmen ihre Nahrung aus der Hämolymphe des Wirts über die gesamte Körperwand auf (Analogie zu vielen anderen Endoparasiten, z.B. Bandwürmern, Mermithiden). Die einige bis mehrere Dezimeter langen Saitenwürmer haben nur stark aufgewunden in den nur einen bis wenige Zentimeter großen Wirten Platz! Meist sind die Wirte keine Wasserinsekten, sondern Aaskäfer, Laufkäfer und andere; trotzdem suchen sie das Wasser auf – durch den Parasiten in einer noch nicht geklärten Weise umgestimmt (analog der Verhaltensumstimmung der Ameise durch den „Hirnwurm“, Dicrocoelium). Die Saitenwürmer verlassen den Wirt – er kann überleben – und sind dann bei uns vor allem im Spätsommer und Herbst in Gräben und Pfützen an Wegrändern zu finden. – Verwandtschaft: Die Saitenwürmer gelten als nah verwandt mit den Fadenwürmern. Wie diese besitzen sie nur Längsmuskulatur und bewegen sich ausschließlich durch Schlängelbewegungen in der Dorsoventralebene. Die besonders auffälligen Übereinstimmungen mit den Mermithiden (Bohrstachel, Fehlen des Darms) sind aber wohl nur Konvergenzen. Das Introvert (Rüssel [Kleindruck] der Larve ist vielleicht ein altes Erbe vom letzten gemeinsamen Vorfahren von Priapulida, Kinorhyncha, Loricifera, Fadenwürmern und Gastrotricha (für die beiden letzten Klassen müßte man nach dieser phylogenetischen Hypothese zusätzlich annehmen, daß das Introvert wieder reduziert wurde). Zur neueren Klassifikation: Nemathelminthes (Tab.).
U.W./P.E.
Saitenwürmer
Saitenwurm beim Verlassen seines Wirtes (Käfer)
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