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Lexikon der Chemie: Mößbauer-Spektroskopie

Mößbauer-Spektroskopie, Gammastrahlenresonanzspektroskopie, Teilgebiet der Spektroskopie, das die Resonanzabsorption monochromatischer Gammastrahlung durch Atomkerne in Festkörpern untersucht. Grundlage der M. ist der Mößbauer-Effekt.

Theoretische Grundlagen. Eine Resonanzabsorption liegt vor, wenn ein System Energiequanten absorbiert, die gleich der Energiedifferenz zwischen zwei seiner möglichen Energiezustände sind. Resonanzabsorptionen sind auf verschiedenen Gebieten der Spektroskopie seit langem bekannt. So absorbieren z. B. Natriumatome, die sich im Elektronengrundzustand E1' befinden, Lichtquanten der Wellenlänge 589 nm, die von angeregten Natriumatomen beim Übergang vom ersten angeregten Elektronenzustand E2' in den Grundzustand E1 emittiert werden, und gehen ihrerseits in den ersten angeregten Elektronenzustand E'2 über (Abb. 1). Ähnlich



Mößbauer-Spektroskopie. Abb. 1: Schematische Darstellung der Resonanzabsorption.

sollte auch die Kernresonanzabsorption von Gammastrahlen verlaufen. Man erwartete, daß die von einem angeregten Atomkern, charakterisiert durch den Energieinhalt E2 beim Übergang in den Grundzustand E1 emittierte Gammastrahlung von Kernen des gleichen Elements auch absorbiert würde, wobei sie in Umkehr des Emissionsprozesses in den angeregten Zustand übergehen. Die experimentelle Verwirklichung dieser Überlegung stieß jedoch auf Schwierigkeiten. Angeregte Atomkerne, die sich in einem frei beweglichen Atom oder Molekül befinden, wie es in der Gasphase oder in Lösung vorliegt, erfahren aus Gründen der Impulserhaltung bei der Emission eines γ-Quants einen Rückstoß (Mößbauer-Effekt; Abb. 2).



Mößbauer-Spektroskopie. Abb. 2: Rückstoß bei der Emission eines γ-Quants.

Damit ist die dem γ-Quant entsprechende Energie nicht mehr gleich der Energiedifferenz E2-E1 zwischen den beiden Kernzuständen, sondern ist um die auf den Kern übertragene Rückstoßenergie ER geringer. Analoges gilt für die Absorption von γ-Quanten. Befindet sich der absorbierende Kern in einem frei beweglichen Atom oder Molekül, so wird beim Absorptionsprozeß ein zusätzlicher Impuls übertragen, so daß im Falle der Resonanzabsorption die Energie des einfallenden γ-Quants um den Betrag der übertragenen Rückstoßenergie größer sein muß, als es der Differenz E2E1 entspricht. Diese Rückstoßeffekte führen dazu, daß Absorption und Emission nicht an der Stelle E2E1= E0 auftreten, sondern gegenüber E0 bei der Absorption um den Betrag ER nach kürzeren Wellenlängen, bei der Emission um den gleichen Betrag nach längeren Wellenlängen verschoben sind. Absorptions- und Emissionslinie sind um den Betrag 2ER getrennt. Damit wird die Beobachtung einer Kernresonanzabsorption von Gammastrahlung in Gasen und Flüssigkeiten, in denen Rückstoßeffekte auftreten, praktisch unmöglich. Mößbauer erkannte, daß mit Gammastrahlung nicht zu hoher Energie erst dann, wenn der Kern in einen Festkörper eingebaut ist, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine rückstoßfreie Absorption bzw. Emission besteht. Wegen der im Vergleich zur Atommasse ungleich größeren Masse des gesamten Kristallgitters ist unter diesen Bedingungen die zugehörige Rückstoßenergie vernachlässigbar klein, Die relative Frequenzbreite Δν/ν der unter rückstoßfreien Bedingungen emittierten γ-Quanten beträgt etwa 10-12 bis 10-14 und erreicht damit einen extrem geringen Wert, der durch die natürliche Linienbreite bestimmt wird.

Aufnahmetechnik. Ein Mößbauer-Spektrometer einfachster Bauart besteht aus einer Strahlungsquelle, die unter rückstoßfreien Bedingungen Gammastrahlung emittiert, einem Absorber oder einer Streueinheit, die ebenfalls unter rückstoßfreien Bedingungen die Probe enthält, einem Detektor für Gammastrahlen (Zählrohr, Szintillationszähler, Proportionalitätszähler) sowie einer elektronischen Registriereinrichtung (Abb. 3).

Mit dem Detektor kann entweder die von der Probe durchgelassene oder gestreute Strahlung gemes-sen werden. Wegen der außerordentlichen Frequenz-



Mößbauer-Spektroskopie. Abb. 3: Schema eines Mößbauer-Spektrometers.

schärfe der emittierten Gammastrahlung können schon sehr kleine Energieunterschiede zwischen Strahlungsquelle und Adsorber, wie sie durch unterschiedliche chem. oder physikalische Zustände der Atomkerne in diesen beiden Einheiten hervorgerufen werden können, die Resonanz stören. Um dann eine Resonanzabsorption zu erzielen, ist eine Variation der Frequenz der Strahlungsquelle erforderlich. Dies erreicht man, indem man die Strahlungsquelle relativ zum Absorber bewegt. Infolge des dabei wirkenden Doppler-Effekts kommt es bei einer Bewegung der Strahlungsquelle auf den Absorber hin zu einem zusätzlichen Impuls in Emissionsrichtung, womit die Emissionslinie in Richtung höherer Übergangsenergie verschoben wird. Bei einer Bewegung der Strahlungsquelle vom Absorber weg kommt es zu einer Verschiebung in Richtung kleinerer Übergangsenergien. Die Veränderung der Relativgeschwindigkeiten erfolgt in einem Mößbauer-Spektrometer kontinuierlich und in periodischer Folge, indem man z. B. die Strahlungsquelle an einen elektromechanischen Vibrator befestigt, der mit einer bestimmten Frequenz schwingt. Registriert wird bei der Aufnahme eines Mößbauer-Spektrums die Zahl der den Detektor erreichenden γ-Quanten in Abhängigkeit von der Relativgeschwindigkeit. Strahlungsquelle und Absorber enthalten den gleichen Atomkern. Als Strahlungsquelle werden radioaktive Isotope verwandt. Von den zahlreichen heute zur Verfügung stehenden Isotopen eignen sich für die M. solche, die hinreichend stabil sind, schmale Gammalinien haben sowie Anregungsenergien von etwa 100 keV aufweisen. Es sind gegenwärtig mehr als 80 solcher Isotope bekannt, von denen 57Fe und l19Sn ganz besonders geeignet für die M. sind. Günstige Bedingungen für das Auftreten des Mößbauer-Effekts liegen bei niedrigen Temperaturen, niedrigen Energien der γ-Quanten sowie bei einer gewissen Festigkeit der untersuchten Atomkerne im Kristallverband vor.

Spektrenparameter und ihr Informationsgehalt. Die Resonanzabsorption eines Atomkerns kann durch Wechselwirkung dieses Atomkerns mit elektrischen und magnetischen Feldern, die hauptsächlich durch die Elektronenhülle hervorgerufen werden, verschoben bzw. in mehrere Resonanzlinien aufgespalten werden. Letzteres wird als Hyperfeinaufspaltung bezeichnet. Die für den Chemiker wichtigsten Spektrenparameter, in denen diese Wechselwirkungen zum Ausdruck kommen, sind Isomerieverschiebung, Quadrupolaufspaltung, magnetische Aufspaltung.

Isomerieverschiebung. Falls die untersuchten Kerne in der Strahlungsquelle und im Absorber im gleichen chem. und physikalischen Zustand vorliegen, wird eine optimale Resonanzabsorption dann beobachtet, wenn die Relativgeschwindigkeit beider zueinander Null ist. Ist diese Gleichwertigkeit nicht gegeben, so wird die Energie der emittierten γ-Quanten mit Hilfe des Doppler-Effektes solange variiert, bis maximale Absorption eintritt. Die für einen maximalen Resonanzeffekt erforderliche Relativgeschwindigkeit v wird als Isomerieverschiebung δ oder auch als chem. Verschiebung bezeichnet. Sie kommt durch elektrische Wechselwirkung zwischen Atomkern und Elektronen am Kernort zustande und reagiert sehr empfindlich auf Veränderungen in der Elektronenhülle. Aus der Messung der Isomerieverschiebung können wichtige Informationen über die Elektronendichte am Kernort erhalten werden, die von der Oxidationszahl des untersuchten Atoms und den vorliegenden Bindungsverhältnissen (z. B. Abschirmung von s-Elektronen durch p- und D-Elektronen, Kovalenzeffekte zwischen Zentralatom und Liganden in Komplexen, Elektronegativität von Liganden) abhängen. Aus der Isomerieverschiebung in mm/s lassen sich die entsprechenden Energieunterschiede berechnen, die in der Größenordnung von ≈ 10-8 eV liegen.

Quadrupolaufspaltung.Während Atomkerne mit einer Kernspinquantenzahl I= 0 und I= 1/2 eine kugelsymmetrische Ladungsverteilung aufweisen, besitzen Kerne mit I > 1/2 ein elektrisches Quadrupolmoment, das ein Maß für die Abweichung der Ladungsverteilung im Kern von der sphärischen Symmetrie darstellt (Kernquadrupolresonanz-Spektroskopie). Durch Wechselwirkung dieses elektrischen Quadrupolmomentes des untersuchten Kerns im Grund- oder Anregungszustand mit einem inhomogenen elektrischen Feld am Kernort kommt es zu einer Aufspaltung der Kernniveaus in I +1/2 Unterniveaus (Abb. 4). Das führt im Spektrum zu einer Linienaufspaltung. Der energetische Abstand dieser Linien wird als Quadrupolaufspaltung ΔEQ bezeichnet und liegt im allg. wie Isomerieverschiebungen in der Größenordnung von ≈ 10-8 eV. Das inhomogene elektrische Feld am Kernort wird durch eine unsymmetrische Elektronenanordnung um den Atomkern hervorgerufen, wie sie z. B. durch eine nichtkugelsymmetrische Anordnung von Elektronen in unvollständig aufgefüllten Orbitalen oder durch ungleiche Liganden an einem Komplex-Ion bewirkt werden können.



Mößbauer-Spektroskopie. Abb. 4: Schematische Darstellung der Quadrupolaufspaltung am Beispiel des 57Fe-Kerns.

Die Quadrupolaufspaltung erlaubt deshalb Aussagen zur Symmetrie der Elektronenhülle einschließlich der Koordinationssphäre in Komplexen.

Magnetische Aufspaltung.Atomkerne mit einer Kernspinquantenzahl I>0 haben ein magnetisches Dipolmoment (NMR-Spektroskopie). Dieses magnetische Dipolmoment kann mit einem magnetischen Feld am Kernort in Wechselwirkung treten, wobei es zu einer Aufspaltung der Kernniveaus in 2I + 1 Unterniveaus kommt (Abb. 5). Damit geht erneut eine Linienaufspaltung im Spektrum einher, die als magnetische Aufspaltung ΔEM bezeichnet wird. Magnetische Felder am Kernort können durch die Atome selbst erzeugt werden (innere Felder), lassen sich aber auch durch äußere Magnetfelder hervorrufen. Innere Felder können z. B. von den Elektronen des betreffenden Atoms, von Leitungselektronen des Gitters, magnetischen Momenten der Nachbaratome herrühren und hängen von den chem. und physikalischen Eigenschaften der Stoffe ab. Die Größe der magnetischen Aufspaltung ist einmal vom magnetischen Dipolmoment des Kerns, zum anderen von der Stärke des Magnetfeldes am Kernort abhängig. Aus der Größe der Aufspaltung lassen sich somit Schlüsse über örtliche Magnetfelder im Kristallinneren und damit verbunden über magnetische Eigenschaften von Festkörpern machen.



Mößbauer-Spektroskopie. Abb. 5: Schematische Darstellung der magnetischen Aufspaltung am Beispiel des 57Fe-Kerns. Die eingezeichneten Übergänge entsprechen den Auswahlregeln ΔI = ±1 und ΔmI = 0 oder ±1. mI magnetische Quantenzahl.

Isomerieverschiebung, Quadrupolaufspaltung und magnetische Aufspaltung können gleichzeitig wirksam werden. So besteht beispielsweise das Mößbauer-Spektrum des metallischen Eisens aus 6 Resonanzlinen (Abb. 6), die von der magnetischen Aufspaltung herrühren. Die Lage der Unterniveaus im angeregten Zustand wird gleichzeitig durch die Kernquadrupol-Wechselwirkung beeinflußt, was sich in einer Unsymmetrie der Aufspaltung zeigt.

Anwendung. In der Chemie wird die M. als zerstörungsfrei arbeitende Analysenmethode vorwiegend als Hilfsmittel zur Strukturaufklärung sowie zur Untersuchung von Bindungsverhältnissen eingesetzt.

Mit Hilfe der M. konnte gezeigt werden, daß Berliner Blau (aus Fe3+ und [FeII(CN)6]4- darstellbar) sowie Turnbulls Blau (aus Fe2+ und [FeIII(CN)6]3-), die lange Zeit für verschiedene Verbindungen gehalten worden sind, die gleichen Mößbauer-Spektren ergeben und somit identisch sind.

Das Fehlen einer Quadrupolaufspaltung zeigt eine symmetrische Elektronenverteilung um den untersuchten Kern an, das Auftreten einer solchen Aufspaltung dagegen deutliche Abweichungen von dieser Symmetrie.



Mößbauer-Spektroskopie. Abb. 6: Mößbauer-Spektrum von metallischem Eisen: (a) Termschema, (b) Spektrum.

Weitere Anwendungsmöglichkeiten für die M. ergeben sich in der Kernphysik, Mineralogie, Biologie und Medizin.

  • Die Autoren
Dr. Andrea Acker, Leipzig
Prof. Dr. Heinrich Bremer, Berlin
Prof. Dr. Walter Dannecker, Hamburg
Prof. Dr. Hans-Günther Däßler, Freital
Dr. Claus-Stefan Dreier, Hamburg
Dr. Ulrich H. Engelhardt, Braunschweig
Dr. Andreas Fath, Heidelberg
Dr. Lutz-Karsten Finze, Großenhain-Weßnitz
Dr. Rudolf Friedemann, Halle
Dr. Sandra Grande, Heidelberg
Prof. Dr. Carola Griehl, Halle
Prof. Dr. Gerhard Gritzner, Linz
Prof. Dr. Helmut Hartung, Halle
Prof. Dr. Peter Hellmold, Halle
Prof. Dr. Günter Hoffmann, Eberswalde
Prof. Dr. Hans-Dieter Jakubke, Leipzig
Prof. Dr. Thomas M. Klapötke, München
Prof. Dr. Hans-Peter Kleber, Leipzig
Prof. Dr. Reinhard Kramolowsky, Hamburg
Dr. Wolf Eberhard Kraus, Dresden
Dr. Günter Kraus, Halle
Prof. Dr. Ulrich Liebscher, Dresden
Dr. Wolfgang Liebscher, Berlin
Dr. Frank Meyberg, Hamburg
Prof. Dr. Peter Nuhn, Halle
Dr. Hartmut Ploss, Hamburg
Dr. Dr. Manfred Pulst, Leipzig
Dr. Anna Schleitzer, Marktschwaben
Prof. Dr. Harald Schmidt, Linz
Dr. Helmut Schmiers, Freiberg
Prof. Dr. Klaus Schulze, Leipzig
Prof. Dr. Rüdiger Stolz, Jena
Prof. Dr. Rudolf Taube, Merseburg
Dr. Ralf Trapp, Wassenaar, NL
Dr. Martina Venschott, Hannover
Prof. Dr. Rainer Vulpius, Freiberg
Prof. Dr. Günther Wagner, Leipzig
Prof. Dr. Manfred Weißenfels, Dresden
Dr. Klaus-Peter Wendlandt, Merseburg
Prof. Dr. Otto Wienhaus, Tharandt

Fachkoordination:
Hans-Dieter Jakubke, Ruth Karcher

Redaktion:
Sabine Bartels, Ruth Karcher, Sonja Nagel


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