Lexikon der Geographie: Grenzforschung
Grenzforschung, steht mittlerweile für ein Forschungsfeld, das weit über die Grenzen der Politischen Geographie hinaus reicht. Der Begriff Grenze beschreibt im engeren Sinne die Linie, die eine räumliche Einheit, eine politische oder soziale Gruppe von einer anderen abtrennt. Dementsprechend standen in der Geographie meist die Außengrenzen von Nationalstaaten im Zentrum des Interesses, während ihren Entstehungsbedingungen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Zurückzuführen ist diese Beschränkung auf die Vorstellung, Grenzen seien an physische Gegebenheiten gebunden oder Ausdruck historischer Entwicklungen. Räumliche Grenzen werden durch menschliches Handeln erzeugt und können sowohl diffus als auch sehr konkret sein. Letzteres sind insbesondere Staatsgrenzen, die das Territorium einzelner Staaten und deren Souveränität voneinander trennen. Internationale Grenzen markieren den physischen Rahmen staatlicher Macht und sind der räumliche Ausdruck territorialer Einteilungen bzw. politischer Organisation in Nationalstaaten. Seit dem Zweiten Weltkrieg verschob sich der Schwerpunkt in der Politischen Geographie von den Kriterien der Grenzziehung hin zu den Funktionen, die Grenzen ausüben. Ausschlaggebend dafür waren die Erkenntnisse, dass internationale Grenzen nicht nur die nationale Souveränität markieren, sondern auch das Aufeinandertreffen räumlich definierter Machtstrukturen, und dass Grenzen in dem Augenblick an Bedeutung gewinnen, in dem die Souveränität eines Staates ihre politische Legitimität verliert. Soziokulturelle Grenzziehungen sind gleichwohl ebenso bedeutsam: Teilweise lassen sie sich als Unterschiede in den Kulturlandschaften an politischen Grenzen nachvollziehen, teilweise entsteht jedoch auch ein Grenzraum, der durch die Überschneidung mehrerer Gesellschaftsprinzipien zu etwas eigenem wird. Erst in jüngerer Zeit werden soziale und kulturelle Grenzen als etwas dynamisches begriffen. In diesem Sinne stellen sie weniger präzise Abgrenzungen als Verschiebungen gemäß gesellschaftlicher Veränderungen dar. Zudem verlaufen religiöse, linguistische und ökonomische Grenzen oftmals quer zu politischen Grenzen und werden i.d.R. durch zunehmende Mobilität immer durchlässiger. Innerhalb der Grenzforschung, vor allem in den angloamerikanischen Debatten, herrscht Uneinigkeit über die Gleichsetzung bzw. die unterschiedliche Verwendung der Begriffe border, boundary und frontier. Während der äquivalente Gebrauch immer üblicher wird, bezeichnet in der eher traditionellen Politischen Geographie borders den die Grenzlinie (boundary) beiderseitig umschließenden Grenzraum und frontier den Grenzbereich auf einer Seite, der durch die Orientierung über die Grenze hinaus variabel ist. Die Termini border und frontier stehen stärker für explizit politische Grenzen als der Begriff boundary, der auch im weiteren sozialen Sinn sowie metaphorisch für den Akt der Grenzziehung benutzt wird. Die daraus resultierenden, häufig eher diffus wahrgenommenen Grenzen sind insbesondere in den Sozialwissenschaften relevant, um symbolische wie materielle Unterschiede zwischen sozialen Gruppen (z.B. Frauen/Männer; StaatsbürgerInnen/AusländerInnen) sowie deren Auswirkungen zu erkennen. Als Metapher kommt der Grenze besondere Bedeutung bei der Erörterung des relationalen Verhältnisses der Identitäts- und Gruppenkonstituierung zu. Solche Prozesse funktionieren über Abgrenzungen des Einen vom Anderen, als Ein- und Ausschluss, der nicht selten räumlichen Charakter hat. Sowohl auf der Ebene staatlicher Grenzen als auch auf der sozialer Grenzziehungen wird somit deutlich, dass das Errichten und Kontrollieren von Grenzen unmittelbar an die Verfügung und das Ausüben von Macht gebunden ist. Neuere Ansätze der Grenzforschung verstehen Grenzen als diskursiv produziert und beschäftigen sich daher mit ihren historisch-spezifischen Konstitutionsbedingungen sowie ihren Repräsentationsformen und deren Bedeutungen für gesellschaftliche Akteure.
ASt
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