Lexikon der Geographie: Wahrheit
Wahrheit, stellt für viele wissenschaftstheoretische (Wissenschaftstheorie) Positionen insofern den zentralen Schlüsselbegriff der sozialen Institution Wissenschaft dar, als deren Aufgabe in der Unterscheidung von "richtig" und "falsch" ("wahr" und "nicht wahr") liegt. Im Vergleich zur zugemessenen Bedeutung bleibt die Klärung des Begriffs jedoch bemerkenswert unvollständig. Einer der Gründe dafür liegt häufig in der Form, mit der nach der Wahrheit gefragt wird. Die Frage "Was ist Wahrheit?" verleitet zur Suche nach einem Gegenstand oder einer Klasse von Gegenständen bzw. nach etwas Seiendem, etwas Vorgegebenem, das aufgefunden werden kann. In der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie herrscht die Meinung vor, dass eine derart gestellte Frage nicht beantwortet werden kann und die entsprechende Suche erfolglos bleiben muss. Die aktuellen Auseinandersetzungen um den Wahrheitsbegriff drehen sich vor allem um die Frage nach dem verwendbaren Unterscheidungskriterium zwischen "wahr" und "falsch" bzw. der eindeutigen und begründeten Identifizierung von wahren und falschen Aussagen.
Eines der Grundprobleme, das sich um den Wahrheitsbegriff entsponnen hat, liegt in der fundamentalen Spannung begründet, welche zwei zentrale Anforderungen an ihn aufweisen. Eine wahre Erkenntnis soll einerseits "objektiv" (Objektivität) sein, d.h. der Inhalt der Erkenntnis soll unabhängig von subjektiven Umständen eine Gültigkeit besitzen. Andererseits wird an eine wahre Erkenntnis auch die Erwartung gerichtet, dass sich der Erkennende von dem, was als "wahr" postuliert wird, überzeugen kann. Das ist aber nur möglich, wenn die Erkenntnis subjektiv (Subjektivität) in einer konkreten Situation gewonnen werden kann. Werden beide Forderungen an "objektiv wahr" gerichtet, wird damit das Ergebnis eines subjektiven Akts beschrieben, der aber trotzdem unabhängig vom Subjekt Bestand haben muss.
Im Rahmen des Positivismus wird dieser Widerspruch aufgehoben, indem eine empirisch erfassbare Realität als Bedeutungsinstanz von Objektivität vorausgesetzt wird. Idealistische (Idealismus) Ansätze gehen demgegenüber davon aus, dass alle logisch gültigen Sätze ein psychisches Faktum sind, und lösen den Widerspruch durch diese Setzung.
Unter den verschiedenen Lösungsversuchen hat bis heute die sog. Korrespondenztheorie der Wahrheit die größte Bedeutung erlangt, wenn sie auch nicht alle Probleme überwinden kann. Der ursprüngliche Kernsatz dieser Theorie lautet: "Ein Satz ist dann wahr, wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt". Das damit weiterhin ungelöste Problem besteht darin, dass nicht präzisiert wird, was unter Wirklichkeit zu verstehen ist. Die empirischen Wissenschaften (Empirie) sind trotz dieser ungeklärten Frage darauf angelegt, den Wahrheitsgehalt von wissenschaftlichen Hypothesen mittels Beobachtungen zu prüfen. Indirekt wird damit entschieden, dass die Wirklichkeit als das (objekthaft) Beobachtbare definiert wird.
Dieses grundlegende Problem konnte auch nicht mit Taskis (1935) allgemein anerkannter Reformulierung behoben werden, nach der sich das Kriterium zur Unterscheidung zwischen "wahr" und "falsch" eigentlich nur auf das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Sätzen, nicht aber auf das Verhältnis zwischen Sprache (Theorie) und Empirie (Objektebene) beziehen kann.
Die (implizite) Einschränkung von Wirklichkeit auf das Beobachtbare wird insbesondere für jene (qualitativen) sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen zum Problem, die auf die Erfassung und Rekonstruktion der Bedeutungen angelegt sind. Das reduktionistische Wirklichkeitsverständnis wird besonders von der phänomenologischen (Phänomenologie) und hermeneutischen (Hermeneutik) Wissenschaftstheorie infrage gestellt. Als Gültigkeitskriterium empirischer Aussagen über die sinnhafte sozial-kulturelle Wirklichkeit wird die Sinnadäquanz betrachtet. Das Ziel empirischer Erforschung der Gesellschaft stellt dann die sinnadäquate Erfassung der jeweiligen Bedeutungszusammenhänge dar. Als "wahr" können diese Darstellungen gelten, wenn sie dem Kriterium der Sinnadäquanz genügen.
Obwohl die Phänomenologie "wahr" als situations- und konstitutionsspezifisch auffasst, hebt sie "Alltagswahrheiten" nicht in den Rang von Unfehlbarkeit. Das Ziel ist vielmehr die intersubjektiv überprüfbare Darstellung subjektiver Bedeutungszusammenhänge.
BW
Lit: [1] BRENTANO, F. (1958): Wahrheit und Evidenz. – Hamburg. [2] TARSKI, A. (1935): Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen. In: Studia Philosophica I, S. 261-405. [3] STEGMÜLLER, W. (1957): Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik. – Wien.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.