Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Fritz Mauthner
Geb. 22.11.1849 in Horice (Böhmen);
gest. 29.6.1923 in Meersburg (Bodensee)
Erst 1876 war der in Prag aufgewachsene Sohn einer jüdischen Gelehrten- und Kaufmannsfamilie nach Berlin gekommen. Nach einem abgebrochenen Jurastudium und der ungeliebten Arbeit in einer juristischen Kanzlei suchte M., sich literarisch zu etablieren. Er wurde Mitarbeiter des Berliner Tageblatts, des Deutschen Montagsblatts und gehörte in der aufstrebenden wilhelminischen Metropole schon bald zu den einflußreichsten Literatur- und Theaterkritikern. M. hinterließ ein umfangreiches schriftstellerisches Werk, ist heute jedoch vor allem als Sprachphilosoph bekannt. Berühmt wurde M. durch eine Serie von Parodien, die er als Redakteur des Deutschen Montagsblatts seit 1879 erfolgreich veröffentlicht hat (Buchausgabe: Nach berühmten Mustern, 1880). Gründungsmitglied der »Gesellschaft der Zwanglosen«, einer Vereinigung der naturalistischen Schriftstellergeneration, war M. selbst schriftstellerisch außerordentlich produktiv. In schneller Folge erschienen Romane und Erzählungen. Mit der Roman-Trilogie Berlin W. (1886–1890) begründete M., mit P. Lindau und Th. Fontane, den Typus des Berlin-Romans mit Sujets aus dem Berliner Leben: dem Börsenmilieu (Quartett), dem journalistischen Milieu (Die Fanfare), einer antiquierten Adelsgesellschaft (Villenhof) oder, wie schon in seinem Romanerstling Der neue Ahasver (1882), dem zeitgenössischen Antisemitismus.
»Wortaberglaube« (damit meint M. die »Deifikation«, die Vergöttlichung von Worten in unserem Denken: »Worte sind Götter«) und der von ihm erfahrene frühe »Sprachschreck«, der schon gelegentlich Thema seiner Erzählungen war, wurden rückblickend in seiner philosophischen Selbstdarstellung (1922) zur Leiterfahrung seiner intellektuellen Biographie. Tatsächlich verlagerte M. ab 1892 sein Interesse mehr und mehr von der Schriftstellerei hin zu sprachkritischen Studien, die er zeitweilig in krankmachender Intensität betrieb, bis – unter redaktioneller Mitwirkung des Freundes G. Landauer – der erste Band der Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901) erscheinen konnte. Im Jahre 1905 zog sich M. gänzlich aus dem literarischen Leben Berlins zurückzog und lebte in Freiburg, später mit seiner zweiten Frau, der Ärztin und Schriftstellerin Harriet Straub, als Privatgelehrter in Meersburg am Bodensee.
M.s gesamtes Werk ist von den Erfahrungen eines im Prager Nationalitätenkonflikt aufgewachsenen Juden geprägt, der sein Außenseitertum stets deutlich empfand. Obwohl das sprachkritische Werk M.s einschließlich der vierbändigen Studie Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920/23) in die Tradition der religionskritischen Aufklärung gehört, wurde seine Sprachkritik von der Schulphilosophie nur verhalten rezipiert. Neben seiner akademischen Außenseiterposition lag der Grund hierfür in dem sich nach der Jahrhundertwende abzeichnenden Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie und der Wissenschaftstheorie. Wie die Junggrammatiker (H. Paul) begreift E. Mach, von dem auch M. ausgeht, Wissenschaft als eine historische Größe, ein Weltbild, das einer Gruppe zur Orientierung in Umwelt und Tradition dient und sich durch psychologisch legitimierte Tatsachenkonstruktionen, durch wissenschaftliche Fiktionen tradiert. Auch für M. bildete dieser historisch-kommunikative linguistische Erfahrungshorizont die Folie sprachkritischen Nachdenkens. Auch für ihn galt der empiriokritische Befund, daß Wirklichkeit durch Sprache nicht erkannt werden kann. Gerade diese Möglichkeit behauptete aber der frühe L. Wittgenstein (und der Wiener Kreis), dessen berühmter Satz: »Alle Philosophie ist ›Sprachkritik‹. (Allerdings nicht im Sinne Mauthners)« (Tractatus logico-philosophicus, 1921, Satz 4.0031) noch heute gern als Verdikt gegen M. zitiert wird. Unbestreitbar ist jedoch L. Wittgensteins Nähe zu M. in den Philosophischen Untersuchungen (1953), wie auch bei beiden eine Neigung zu »sprachloser Mystik« besteht.
Nach M. kann durch Sprache Wirklichkeit nicht erkannt werden. Sie dient lediglich dazu, rein sensualistisch verstandene Erfahrungen zu kommunizieren (M. greift hier auf D. Hume, G. Berkeley und J. Locke zurück). Sprache liefert bloße »Erinnerungszeichen«, die in diachroner wie synchroner Perspektive Erfahrung(smuster) transportieren. Nicht als Sprachvermögen sei Sprache zu betrachten, sondern als ein zur individuellen und kollektiven Weltorientierung dienendes Sprachwerkzeug, das allenfalls pragmatisch und ästhetisch, nicht jedoch epistemologisch relevant sei. Sprache ist eine konservative Macht, die wissenschaftlich und weltanschaulich »Wortfetische« transportiert und »Wortaberglauben« erzeugt: »Worte sind Götter«, lautet M.s radikale Formulierung, die auch in der Umkehrung gilt: »Götter sind Worte«. Durch den Filter von »Metaphern« konturiert sich ein immer schon perspektivisches, linguistisches Weltbild. So unterschied M. zwischen einem »adjektivischen« (die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften betreffenden) Weltbild, einem aus der Notwendigkeit sprachlicher Verständigung begründeten »substantivischen« (die vermeintliche »Realität« wie die Mystik umfassenden) Weltbild und einem »verbalen« (Zeit, Werden und Relationen betreffenden) Weltbild. M.s linguistische Skepsis richtete sich vor allem gegen das substantivische Weltbild, das sowohl die wissenschaftlichen Begriffssysteme wie sämtliche ideologischen Konstrukte umfaßt, angefangen von den Religionen bis hin zu den »Realitäten« der Alltagssprache.
Anders als E. Mach, der das Ich bloß als »provisorische Fiktion« auffaßte (Die Analyse der Empfindungen, 1886), betonte M. die Rolle des Individuums, was es ihm ermöglichte, die unterdrückende Funktion der Sprache als eines kulturhistorisch wirksamen Zeichensystems zu kritisieren (Die Sprache, 1907). Dem Machtfaktor Sprache setzt M. die Kraft des Sprachgebrauchs entgegen. Es waren diese beiden Aspekte, der Machtfaktor Sprache und ihre schöpferische Produktivität, die G. Landauer veranlaßten, M.s Sprachkritik als politische Theorie fruchtbar zu machen (Die Revolution, 1907; Aufruf zum Sozialismus, 1911).
Der religionskritische Impuls seines Denkens wird insbesondere in seinem Werk Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920/23) deutlich. M. wollte die Geschichte des Atheismus im Sinne einer »kulturhistorisch« zu lesenden Geschichte des Wortes »Gott« verstanden wissen. Im Sinne seiner Sprachtheorie hatte M. diese nicht etymologisch verstandene methodologische Maxime bereits in seinem nach den Beiträgen entstandenen Wörterbuch der Philosophie (1910/11) zugrunde gelegt. Dieses zeichnet sich sowohl durch Witz und analytische Schärfe aus, mit denen M. die ungeheure Stoffülle durchdringt, als auch durch die Spannung zwischen dem in Aperçus und aphoristischen Einfällen denkenden Skeptiker und dem enzyklopädisch verfahrenden Universalgelehrten.
M.s zuweilen in »Sprachverzweiflung« gipfelnde Sprachskepsis zeugte von einem gesteigerten Bedürfnis nach Unmittelbarkeit, ausgelöst, so M. selbst, durch den »äußersten Wissenshochmut der Spezialisten« und das »Bankrottgefühl der Frommen und Philosophen« (vgl. den Artikel ›Mystik‹ in seinem Wörterbuch). Gegenüber den kulturell sanktionierten Formen der Abstraktion wollte M. die Spontaneität des Individuums nicht preisgeben; eines Individuums, das M. zufolge seine Selbst- und Weltvergewisserung in Formen temporärer Welt-Ich-Identität wie Ekstase, Entzücken, Enthusiasmus findet – eine »gottlose Mystik«, deren Vorläufer M. in der christlichen Mystik, vor allem in Meister Eckhart, aber auch im Buddhismus fand.
Während die radikalen sprachkritischen Grundannahmen M.s nicht überzeugen konnten, erweist sich der Sprachkritiker M. gerade dort als Aufklärer, wo sein assoziatives Philosophieren zum methodischen Grenzgängertum wurde. Stets ist aber die sensible, oft hellsichtige und materialreiche Skepsis des »Kritikers der unreinen Vernunft« (Lütkehaus) allemal Leitfaden lohnender Lektüre.
Werke:
- Ausgewählte Schriften, 6 Bde., Stuttgart/Berlin 1919.
- Erinnerungen. Prager Jugendjahre, München 1918.
- Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1901/02 (neu hg. L. Lütkehaus, Wien 1999).
- Wörterbuch der Philosophie, Leipzig 1923/24 (Nd. Wien 1997).
- Der neue Ahasver, Leipzig 1886 (Nd. Berlin 2001).
- Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Stuttgart/Berlin 1920–1923 (Nd. Frankfurt a.M. 1989).
- Gottlose Mystik, Dresden o.J. [1924].
- Gustav Landauer – F.M. Briefe 1890–1919, hg. H. Delf, München 1994. –
Literatur:
- G. Weiler, M.’s Critique of Language, Cambridge 1971.
- J. Kühn, Gescheiterte Sprachkritik, Berlin/New York 1975.
- W. Eschenbacher, F.M. und die deutsche Literatur um 1900, Frankfurt a.M./Bern 1977.
- E. Leinfellner und H. Schleichert, F.M. Das Werk eines kritischen Denkers, Wien/Köln/Weimar 1995.
- J. Schiewe, Die Macht der Sprache, München 1998.
- L. Lütkehaus, »Alle Philosophie ist ›Sprachkritik‹« Die Wiederentdeckung F.M.s, in: Literarisches Doppelportrait Th. Fontane – F.M., hg. U. Kutter, Stuttgart 2000.
Hanna Delf von Wolzogen
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