Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Heinrich Graetz
Geb. 31.10.1817 in Xions (Ksiaz, Provinz Posen); gest. 7.9.1891 in München
Wenn man die jüdische Moderne als Eintritt des Judentums in die Geschichte versteht, dann hat der Historiker und Bibelwissenschaftler G. wesentlich zur Bewußtwerdung dieses Prozesses beigetragen. Im weiteren Kontext der Wissenschaft des Judentums entwickelte er den Begriff und das Panorama einer säkularen jüdischen Nationalgeschichte, gemäß der die Geschichte zum eigentlichen, identitäts- und traditionsstiftenden Organ des Judentums in der Moderne wird.
G. wurde in einer Kleinstadt in der preußischen Provinz Posen als Sohn eines Fleischers geboren. 1831, mit dreizehn Jahren, ging er an die Talmudschule in Wollstein, wo er bereits einen Aufsatz über Jüdische und deutsche Zeitrechnung verfaßte. Neben den rabbinischen Studien begann er zugleich, sich säkulares Wissen autodidaktisch anzueignen. Er las philosophische und historiographische Literatur, z.B. Schröckhs Universalhistorie oder Livius’ Römische Geschichte, unter den deutschen Klassikern vor allem Wieland, aber auch die deutsch-jüdischen Satiriker des 19. Jahrhunderts, Heine, Börne und Saphir; und er lernte Lateinisch und Französisch, um dann u.a. Voltaire, Rousseau und Fénélon zu lesen. Die hier angelegte Spannung zwischen traditionell-religiöser und moderner, europäisch-wissenschaftlicher Bildung prägte sein intellektuelles Profil. Der Konflikt der beiden Bildungswelten – mehr noch, wie er 1835 im Tagebuch schrieb, »die verschiedenen, sich widersprechenden Meinungen, heidnische, jüdische und christliche, epikureische, kabbalistische, maimonidische und platonische« – führten zu einer intellektuellen Krise. In dieser Lage las er 1836 die Neunzehn Briefe über das Judentum des Oldenburger Rabbiners Samson Raphael Hirsch, des Begründers der Neo-Orthodoxie. G. nahm brieflichen Kontakt mit Hirsch auf, der ihn daraufhin nach Oldenburg zum Studium im Rahmen eines traditionellen religiösen Judentums einlud. G. traf im Mai 1837 bei Hirsch ein und blieb bis 1840. Ohne unmittelbar die Linie der Neo-Orthodoxie aufzugeben, aber doch in einer erneuten Europäisierung seiner Bildung immatrikulierte sich G. darauf, nachdem er zwischenzeitlich als Hofmeister in Ostrowo gearbeitet hatte, im Oktober 1842 an der Breslauer Universität, wo er die verschiedensten Vorlesungen belegte, geschichtliche, philosophische, orientalistische, selbst physikalische, ohne dabei allerdings den Kontakt zur jüdischen Gemeinde zu übergehen, an der Abraham Geigers Reformposition sich eben durchsetzte, was G. allerdings mit Skepsis beobachtete. Da er als Jude an der Breslauer Universität nicht promovieren konnte, tat er dies an der Universität Jena, und zwar mit der Arbeit Gnostizismus und Judentum (1846).
Zu dieser Zeit machte G. die für ihn entscheidende Bekanntschaft mit Zacharias Frankel, auf dessen gemäßigter, zwischen Reform und Orthodoxie vermittelnder Position er seinen Standpunkt am ehesten zu finden vermochte. G. arbeitete an dessen 1844 gegründeter Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums mit, und in dieser Zeitschrift publizierte er auch seine erste wichtige Schrift, die förmlich das Prolegomenon seiner späteren historiographischen Arbeit bildete: Die Konstruktion der jüdischen Geschichte (1846). In diesem geschichtsphilosophischen Entwurf verbinden sich Hegelkritik mit hegelianischen Denkelementen. Während Hegel in seinem dialektischen Fortschrittsmodell der Geschichte davon ausging, daß das Judentum seine weltgeschichtliche Epoche mit der nationalen Phase überschritten hatte und mit der »endgültigen Zerstreuung« in den Zustand der »politischen Nullität und Langeweile« abgesunken sei, stellte G. die Frage nach der »einheitlichen Idee« des Judentums in der Geschichte, die einer derartigen Verfallsgeschichte widersprechen mußte – nach G. die »Gottesidee«. Dabei argumentierte er allerdings wiederum hegelianisch, und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen in der Historisierung des Judentums, indem er davon ausgeht, daß sich die »Totalität des Judentums« gerade »in seiner Geschichte« zeigt; zum zweiten in der Politisierung des Judentums, indem er davon ausgeht, daß jene »Gottesidee« sich erst in der »Volkssubstanz« manifestieren werde, und damit in der »Staatsidee«: »Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist.« Folgerichtig gliedert G. die jüdische Geschichte, wie zuvor Nachman Krochmal, in eine vorexilische, eine nachexilische und eine diasporische Periode, ohne aber dabei die diasporische abzuwerten, im Gegenteil: Auch und gerade an ihr zeigte sich die »Idee« der jüdischen Geschichte, die dem Judentum seine »Totalität« verleiht.
Mit diesem programmatischen Essay hat der junge G., noch fern von sicherer beruflicher Anstellung oder klarer institutioneller Anbindung – B. war als Lehrer an jüdischen Schulen in Breslau und Lundenburg tätig –, das Feld seiner großangelegten Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart vorbereitet. Den Plan eines solchen umfassenden jüdischen Geschichtswerks entwickelte er im Verlauf der folgenden Jahre, in denen er sich zunächst der talmudischen Epoche zuwandte, und damit der diasporischen Periode. 1853 veröffentlichte er dann als erstes Ergebnis nicht etwa den ersten, sondern den »vierten Band« seiner Geschichte der Juden, die Geschichte der Juden vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmud. Zuvor schon hatte G. in der 1851 von Frankel gegründeten und später von ihm selbst herausgegebenen Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums eine Reihe von Aufsätzen publiziert, die als Vorarbeiten zu diesem Band gelten können. Mit dem Erscheinen dieses Bandes über den Anfang der jüdischen Diasporageschichte etablierte sich G. als Historiker, indem er nicht nur der Hegelschen Abwertung der Diaspora widersprach, sondern auch der ersten jüdischen Geschichte und damit seinem eigentlichen Vorläufer, nämlich Isaak Markus Josts Geschichte der Israeliten (6 Bde., 1820–1829), in der aus Furcht vor dem Vorwurf der Apologie gerade die talmudische Zeit denkbar kritisch dargestellt ist. Eben daran entzündete sich dann auch die Kritik an G.’ Geschichte des rabbinischen Judentums. Während die Anhänger der Reform – etwa Geiger – ihm vorwarfen, daß er den Talmud glorifiziere, warfen ihm die Orthodoxen vor – allen voran sein ehemaliger Lehrer Hirsch, zu dem die Differenzen immer größer wurden – die jüdische Tradition durch ihre Historisierung in ihrer theologischen Autorität zu unterlaufen.
Daß sich nun G. als Historiker des Judentums etablieren konnte, beförderte auch der Umstand, daß er gleichzeitig mit dem Erscheinen des ersten Bandes seiner Geschichte an das 1854 neugegründete Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau berufen wurde, die sog. Fränckel’sche Stiftung, wo er von nun an zusammen mit Frankel und Jakob Bernays als Dozent wirkte. In dieser Stellung konnte G. sein großes Projekt gut fortsetzen. 1856 erschien als zweites Ergebnis der »dritte Band«, die Geschichte der Juden von dem Tode Juda Makkabi’s bis zum Untergang des jüdischen Staates, in dem er die Vorgeschichte der Diaspora schilderte, 1860 als drittes Ergebnis der »fünfte« Band, die Geschichte der Juden vom Abschluß des Talmud (500) bis zum Aufblühen der jüdisch-spanischen Kultur (1027), und damit die Fortsetzung der Diasporageschichte, die er in den folgenden Jahren – bis zum »elften Band« (1870), der an G.’ Gegenwart heranreichte – vervollständigte. Schon in den Anfängen dieser langjährigen Arbeit erwies sich G.’ Geschichte der Juden als ein ausnehmend erfolgreiches Unternehmen, dies auch im buchhändlerischen Sinn, und zwar insbesondere dadurch, daß sie eines der wichtigsten Angebote in Ludwig Philippsons Buchclub wurde, dem »Institut zur Förderung der israelitischen Literatur«. Noch unabgeschlossen erlebte das Werk mehrere Auflagen, wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und brachte G. im Dezember 1869 auch die Ernennung zum Honorarprofessor an der Breslauer Universität ein.
Als G. 1870 mit der Geschichte der Juden in der Gegenwart anlangte, fehlte allerdings noch der Anfang: die biblische und vormakkabäische Epoche, an deren Ausarbeitung er nun ging. Der Gegenstand verlangte nicht nur den methodischen Übergang von historischer zu bibelexegetischer Forschung, sondern auch, wie er meinte, eine Reise nach Palästina, die er nach längerer Planung 1872 ausführte, um danach – als letzte – die beiden ersten Bände seiner Geschichte der Juden (1874 und 1876) zu verfassen. Diese Palästina-Reise führte nicht zuletzt auch zu einem Interesse an der jüdischen Besiedlung Palästinas. 1863/64 hatte G. – unter dem Einfluß von Moses Hess’ Rom und Jerusalem (1862) – im Jahrbuch für Israeliten einen Essay mit dem Titel Die Verjüngung des jüdischen Stammes veröffentlicht, in dem er enthusiastisch die Auffassung vertrat, das Judentum sei sein »eigener Messias« und müsse seine Erlösung aus dem Exil kraft nationaler Erneuerung selbst vollbringen. Diese nationale Begeisterung war zur Zeit seiner Palästina-Reise bereits deutlich abgeschwächt, und so lehnte er eine aktive Beteiligung an der präzionistischen Bewegung der Choveve Zion ab, arbeitete aber immerhin als Mitglied des Zentralkomitees bei der Alliance Israélite Universelle mit. Zugleich führten seine biblischen Studien auch zu einer Reihe von exegetischen Arbeiten zur Bibel: Unter anderem verfaßte er Kommentare zum Hohelied (1871) und zu den Psalmen (1882/83). Später trug sich G. auch mit dem Plan einer kritischen Edition des biblischen Textes, was er 1891 in einem Prospekt – als seine letzte Publikation – skizzierte.
Der außerordentliche Erfolg von G.’ Geschichte der Juden zeigt sich nicht nur am Verkauf, der durch die spätere, dreibändige Kurzfassung unter dem Titel Volkstümliche Geschichte der Juden (1881–1889; bis 1930 zehn Auflagen), lange ein beliebter Geschenkartikel in deutsch-jüdischen Familien, noch weit überboten wurde. Der Erfolg zeigt sich ex negativo auch an den Kontroversen, die das Werk auslöste, auch an derjenigen des sog. Berliner Antisemitismusstreits. Anläßlich des bis an die Gegenwart heranreichenden elften Bandes der Geschichte der Juden wurde G. von dem nationalistischen preußischen Historiker Heinrich von Treitschke scharf angegriffen. U.a. in seiner Schrift Ein Wort über unser Judentum (1880) warf er G. jüdischen Nationalismus, Assimilationsverweigerung und Christenhaß vor. Dies führte zu einer Debatte zwischen Juden und Nicht-Juden, im Zuge dessen nicht nur Treitschkes eklatanter Antisemitismus kritisiert wurde, sondern auch, vor allem von der Seite assimilierter deutscher Juden, G.’ nationaljüdische Tendenz.
G.’ Geschichte der Juden ist zweifellos ein Meilenstein in der Entwicklung der modernen, wissenschaftlichen jüdischen Geschichtsschreibung, nach G. – in Abgrenzung gegen Jacques Basnages Histoire du peuple Juif (1706–11), aber auch gegen Jost – nicht nur eine »Geschichte der Juden«, sondern die erste »jüdische Geschichte« der Juden. Ihre wissenschaftliche, nämlich historisch-kritische Methode und ihre Ergebnisse, nämlich die Darstellung einer Universalgeschichte der Juden seit den biblischen Anfängen, sind auch da grundlegend, wo sich spätere Arbeiten kritisch davon distanzierten. Seine Blindheiten lagen dabei auch – und ausgerechnet – in seinem betonten Rationalismus, der ihn in Maimonides und der Aufklärung die eigentlichen Repräsentanten der jüdischen Geschichte sehen ließ, alle mehr oder weniger mystischen Strömungen dagegen – insbesondere Kabbala und Chassidismus – als Aberglaube und krankhafte Verirrung des Judentums polemisch zurückwies, ebenso auch das osteuropäische Judentum wie die jiddische Sprache. Nicht zuletzt bleibt auch methodisch ein weiter Weg von G.’ »Leidens- und Gelehrtengeschichte« des Judentums bis etwa zum problem- und sozialgeschichtlichen Ansatz eines Jacob Katz.
Werke:
- Gnosticismus und Judenthum, Krotoschin 1846 (Nd. Farnborough 1971).
- Geschichte der Juden, Berlin 1856–1870.
- Volkstümliche Geschichte der Juden, Berlin 1887–1889.
- Tagebuch und Briefe, Tübingen 1977.
- Die Konstruktion der jüdischen Geschichte (1846), Düsseldorf 2000. –
Literatur:
- Ph. Bloch, H.G. Ein Lebensbild, in: MGWJ 48 (1904) (verschiedene Teile).
- H. Cohen, G.’ Philosophie der Geschichte, in: MGWJ 61 (1917), 356–366.
- J. Meisel, H.G., Berlin 1917.
- Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. W. Boehlich, Frankfurt a.M. 1965.
- M. Schlüter, H.G.’ »Konstruktion der Jüdischen Geschichte«, in: FJB 24 (1997), 107–127.
- J. Elukim, A New Essenism: H.G. and Mysticism, in: Journal of the History of Ideas 59 (1998), 135–148.
Andreas Kilcher
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