Leseprobe »Wortmedizin«: Informationsdefizite – »Ich würde Sie gerne in meinem Büro sprechen!«

Britta arbeitet als Bürokauffrau in einem Autohaus unweit ihres Wohnhauses. Jeden Morgen fährt sie mit dem Fahrrad zur Arbeit. Unter den Kolleginnen und Kollegen ist Britta beliebt. Sie wird für ihre zuverlässige, sorgfältige und zuvorkommende Art und Weise geschätzt.
So wie jeden Morgen betritt Britta auch heute das Autohaus. Es riecht gewohnt nach Kautschuk und Kaffee. Sie begrüßt alle herzlich und geht in ihr Büro. Als sie gerade ihr E-Mail-Programm öffnet, stürmt ihre Vorgesetzte, Frau Ikudo, zur Tür herein. Britta erschrickt ein wenig und zuckt merklich zusammen.
»Guten Morgen, Frau Lippmann. Ich möchte Sie gar nicht lange von Ihrer Arbeit abhalten. Ich wollte nur kurz Bescheid geben, dass ich Sie nächste Woche Dienstag um 10:00 Uhr gerne sprechen möchte. Den Termin habe ich bereits in Ihrem Kalender vermerkt! Frohes Schaffen und einen schönen Tag für Sie.« So schnell wie Frau Ikudo da war, so schnell war sie auch wieder weg. Brittas Herz klopft, nein, es rast. Sie hat schwitzige Hände und sitzt noch ein paar Sekunden regungslos da. Viele Gedanken jagen ihr durch den Kopf. »Was ist passiert?«, »Habe ich etwas falsch gemacht?«, »Wird mir gekündigt?«, »Habe ich jemandem unrecht getan?«
Die Tage vergehen und die Nächte sind unruhig. Britta hat nur wenig Appetit. Das Thema lässt sie einfach nicht los. Ihre Freundinnen bemerken, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmt. Sie spricht vereinzelt mit ihnen darüber. Die Antworten beruhigen sie jedoch nur wenig: »Ach, du machst doch einen super Job, Britti!«, »Wenn die dich rausschmeißen sollte, dann ist sie doch selbst schuld!«, »Ach Britti, was soll denn da kommen? Das wird bestimmt alles halb so wild. Du machst dir schon wieder zu viele Gedanken.«
Am Tag des Gesprächs fährt Britta gestresst und angespannt ins Autohaus. Um 09:58 Uhr macht sie sich langsam auf den Weg ins Nachbarbüro.
»Pünktlich wie immer!«, strahlt Frau Ikudo sie zur Begrüßung an.
Britta ist sichtlich irritiert über diese überschwängliche Begrüßung. Sie fühlt sich eher, als würde sie gleich ihrer eigenen Beisetzung beiwohnen.
»Frau Lippmann, setzen Sie sich doch«, sagt sie und deutet auf den rechten der zwei schwarzen Schwingsessel. »Wie geht es Ihnen?«, beginnt Brittas Vorgesetzte das Gespräch.
»Schlecht, sogar richtig mies. Ich habe nächtelang kaum geschlafen. Tagelang habe ich mir Gedanken gemacht, was mich heute erwartet. Ich bin ein nervliches Wrack. Mein Kopf tut mir weh. Dieses viele Gegrübel hat mir total auf den Magen geschlagen und Appetit habe ich auch keinen mehr«, denkt sie, bis sie sich »Ganz gut« sagen hört.
»Das freut mich zu hören! Sie sind ja bereits seit vielen Jahren Teil des Unternehmens. Das ist auch der Grund für unser heutiges Gespräch«, sagt Frau Ikudo lächelnd.
»Ist das eine Art Mitarbeiter-Inventur und mein Haltbarkeitsdatum ist abgelaufen?!«, wettert Brittas innerer Dialog.
»Frau Lippmann«, holt Frau Ikudo aus, »Sie werden unter den Kolleginnen und Kollegen sehr geschätzt. Sie arbeiten zuverlässig, sind gewissenhaft und verhalten sich loyal. Auch in der Führungsebene fallen Sie positiv auf. Aus diesem Grund haben wir uns überlegt, dass Sie meine Stellvertreterin werden, wenn Sie das wollen, versteht sich.« Frau Ikudo schaut Britta erwartungsvoll lächelnd an. Britta sitzt wie vereist mit aufgerissenen Augen stillschweigend da.
»Frau Lippmann, habe ich Sie jetzt zu sehr überrumpelt?«, fragt Frau Ikudo besorgt nach.
»Ja, also ne, ähm, Entschuldigung. Ich meine, danke. Danke für Ihr Vertrauen und das Angebot. Damit habe ich jetzt überhaupt nicht gerechnet«, stammelt Britta wie paralysiert.
Britta wurde von ihrer Vorgesetzten Frau Ikudo zu einem Gespräch eingeladen, ohne zu wissen, worum es in dem Gespräch gehen wird. Hierbei handelt es sich um ein klassisches Informationsdefizit. Studien zeigen, dass Informationsdefizite sehr häufige Stressoren am Arbeitsplatz sind. Man spricht hier von einem »psychisch-mentalen Stressor«, dazu zählen beispielsweise ungenaue Anweisungen oder solche Gesprächseinladungen wie die von Frau Ikudo.
Der Anteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich durch Informationsdefizite im beruflichen Kontext belastet fühlen, stieg zwischen 2012 und 2018 von 65 Prozent auf 72 Prozent. Zudem zeigen Untersuchungen, dass diese Menschen auch häufig über einen allgemein beeinträchtigten Gesundheitszustand berichteten, was ebenfalls zeigt, wie groß die Auswirkung solcher Informationsdefizite auch auf die körperliche Gesundheit sein kann.
Bei fehlenden Informationen versucht das Gehirn, die Informationslücken zu schließen. Ein Gespräch mit Informationsdefiziten kann man sich wie ein Puzzle vorstellen, bei dem noch Teile fehlen. Trotz der fehlenden Teile meint unser Gehirn, das große Ganze zu erkennen. Es greift auf Erfahrungen, Erziehung und Referenzerlebnisse zurück: Habe ich schon so etwas Ähnliches erlebt? Was könnte passieren? Was wäre eine logische Schluss folgerung? Was haben andere, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, berichtet? Was wäre das größte Drama? Diese Fragen schießen in Turbogeschwindigkeit durch die Weiten unseres Gehirns. Ganz nebenbei werden Stresshormone wie Cortisol und Noradrenalin ausgeschüttet.
Die allermeisten Menschen leiden sehr unter Informationsdefiziten – sowohl beruflich als auch privat. Den wenigsten ist dabei allerdings bewusst, dass ein solches Informationsdefizit der Grund für ihr Unwohlsein ist. Solche Situationen kommen sehr häufig im Alltag vor und oft ohne negative Hintergedanken. Wir können Frau Ikudo auch durch Ihre beste Freundin ersetzen, die Ihnen eine Nachricht schreibt: »Ich muss dir nachher dringend etwas erzählen.« Was fragen Sie sich in diesem Moment automatisch? Richtig, was sie zu erzählen hat und wann »nachher« ist. In diesem kurzen Satz haben Sie gleich zwei Informationsdefizite. Zum einen bleibt verborgen, was Ihre Freundin zu berichten hat, und zum anderen wissen Sie nicht, wann sich das Rätsel lösen wird.
Die Fernseh- und Werbeindustrie macht sich übrigens genau dieses Phänomen zunutze. Im spannendsten Moment des Filmes, wenn der Retter in Not immer näher an die Gefahrenstelle kommt und kurz davor ist, sich einer lebensbedrohlichen Situation auszusetzen, dann ist Werbung. Wer hat in diesem Moment nicht schon mal ein lautes »Och neeee!« von sich gegeben? Besonders Serien nutzen das Informationsdefizit als psychologisches Werkzeug, um die Spannung zu halten. Am Ende jeder Folge wird ein Cliff anger eingebaut, damit man dranbleibt. In der Werbung wird dieser Trick ebenfalls ganz geschickt genutzt. Ich sage Ihnen, dass ich fünf Tipps für Sie habe, mit denen Sie sofort abnehmen können! Einen verrate ich Ihnen schon mal, und wenn Sie den Rest erfahren möchten, dann klicken Sie hier, da und dort und kaufen Sie anschließend Produkt X, Y und Z.
Wortmedizin
Solche Situationen machen uns notorisch unzufrieden. Wir wollen wissen, wie es weitergeht. Natürlich sind Menschen dann bestrebt, einiges dafür zu tun, um dieses Gefühl durch ein angenehmeres zu ersetzen. Das ist allerdings gar nicht so leicht – wie wir in Brittas Situation sehen können.
Es wird davon ausgegangen, dass Informationsdefizite ungesünder als Informationsfluten sind, denn einer Informationsflut können wir im Alltag eher entkommen als einem Informationsdefizit. Das Ausschalten des Smartphones oder das Reduzieren des Social-Media-Konsums kann einer Informationsflut schnell Abhilfe schaffen. Informationsdefizite können Sie in Ihrem Alltag auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen reduzieren, um Ihr eigenes Stresserleben zu regulieren. Wenn Sie zu einem Gespräch eingeladen werden, so wie Britta in unserem Beispiel, haben Sie keine Scheu, nachzufragen.
Holen Sie sich aktiv Informationen ein. Warten Sie nicht, bis jemand zu Ihnen kommt und Ihnen die benötigten Informationen gibt. Sie können durch das aktive Nachfragen Ihren Stress level proaktiv senken. Das Nachfragen entlastet Ihr Unterbewusstsein, weil es nun nicht mehr fortwährend mit der Interpretation beschäftigt ist. Ich zeige Ihnen ein paar Beispielfragen zur Inspiration:
- »Worum genau wird es gehen?«
- »Was genau möchten Sie gern mit mir besprechen?«
- »Was genau ist das Ziel unseres Gesprächs?«
- »Wer wird bei dem Gespräch dabei sein?«
- »Welche Erwartungen/Wünsche haben Sie an mich?«
- »Können Sie mir das noch etwas genauer erklären?«
- »Ich möchte mich auf das Gespräch vorbereiten, bitte nennen Sie mir das Thema.«
- »Umreißen Sie bitte kurz, worüber Sie mit mir sprechen möchten.«
Dazu noch ein Tipp: Zu offene Fragen wie »Wie kann ich mich auf das Gespräch vorbereiten?« sind nicht zielführend, da eine andere Person nur schwer für Sie entscheiden kann, welche Vorbereitung Sie brauchen. Je nach Gesprächspartner oder Gesprächspartnerin kann die Antwort auch ganz salopp »Gar nicht« heißen und dann wird die Beunruhigung eher größer als kleiner.
Insbesondere im beruflichen Kontext wird viel zu häufig auf das aktive Nachfragen verzichtet. Gedanken wie »Das müsste ich eigentlich wissen«, »Vielleicht wurde mir das schon gesagt« oder »Ich will keine blöden Fragen stellen« hindern Menschen daran, nachzufragen. Damit tragen sie passiv zu einem Informationsdefizit bei und tun weder dem Unternehmen einen Gefallen noch sich selbst.
In Besprechungssituationen kommt es oft zu dem Szenario, dass eine Person nachfragt und der Rest dankbar ist, dass jemand gefragt hat, weil es allen Beteiligten unklar war. Kinder im Vorschulalter stellen durchschnittlich Hunderte Fragen pro Tag, Erwachsene hingegen gerade einmal ein Dutzend Fragen täglich. Anstatt zu denken, dass wir auf jemanden »dumm« oder unaufmerksam wirken, sollten wir uns eher die Vorteile des Nachfragens ins Gedächtnis rufen. Menschen, die aktiv nachfragen, wirken interessiert, aufmerksam, gewissenhaft und wollen ihrer Arbeit sorgfältig nachgehen. Sie stimmen sich ab, zeigen Engagement, reduzieren Unklarheiten und Informationsdefizite. Zudem tragen sie aktiv dazu bei, dass Fehler und Missverständnisse reduziert werden. Menschen, die aktiv nachfragen, entwickeln sich ständig weiter, lernen dazu und können sogar die Beziehungen zu anderen stärken.
Das viele Nachdenken und Grübeln, wie etwas gemeint war, kostet sehr viel Zeit und Energie. Zudem führt es zur Ausschüttung von Stresshormonen und schwächt so auf Dauer das Immunsystem. Daher gilt: Wenn Ihnen etwas unklar ist, fragen Sie bitte nach! Zum Beispiel so:
- »Ich möchte gern sicherstellen, ob ich Sie richtig verstanden habe …«
- »Zu dem Thema XY möchte ich mit Ihnen noch einmal Rücksprache halten.«
- »Mir ist wichtig, die Aufgabe korrekt zu erledigen, deshalb habe ich noch eine Frage.«
Das Credo »fragen statt interpretieren« gilt übrigens auch, wenn Sie private Informationsdefizite belasten. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihre Nachbarin Gabi seit einigen Wochen komisch zu Ihnen ist, dann belasten Sie sich nicht selbst mit der Frage, ob irgendetwas passiert ist oder Gabi sauer auf Sie ist – fragen Sie nach!
Häufig werden solche Belastungen von uns selbst abgetan. Dann schleichen sich vielleicht Gedanken ein wie »Ach, ich stell mich schon wieder an« oder »Ich darf mich da nicht so reinsteigern«. Diese Gedanken unterstützen Sie allerdings nicht dabei, Sie psychisch zu entlasten, ganz im Gegenteil. Sprechen Sie zeitnah über T hemen, die Sie beschäftigen. Das bringt Klarheit und Entlastung. Unterschätzen Sie nicht, wie belastend es für Körper und Geist ist, wenn Sie Themen nicht klären und sich immer wieder die gleichen Fragen stellen. Sprechen Sie es an:
- »Hallo Gabi, ich habe den Eindruck, dass irgendetwas zwischen uns steht. Ich habe das Gefühl, dass du ein wenig abweisender bist als sonst. Liege ich damit richtig?«
- »Hallo Gabi, ich wollte mich erkundigen, ob alles in Ordnung zwischen uns ist.«
Höchstwahrscheinlich werden Sie häufig die Erfahrung machen, dass es sich einfach um ein Missverständnis gehandelt hat. Sie haben Gabi vor einigen Tagen darum gebeten, den Strauch ein wenig zurückzuschneiden, da dieser schon auf Ihr Grundstück ragt. Einen Tag später treffen Sie Gabi draußen und haben den Eindruck, dass Gabi anders ist als sonst. Sie schließen daraus, dass es einen Zusammenhang mit der Bitte gibt. Dabei wissen Sie nicht, dass Gabi eben ein anstrengendes Telefonat mit einer Behörde geführt hat und sie aufgrund dessen etwas genervt ist.
Wenn Sie es nicht ansprechen, entsteht ganz automatisch eine komische Stimmung. Das wird auch Gabi bald spüren und möglicherweise verunsichern. Bald belasten diese Fehlinterpretation und fehlende Gespräche Ihre nachbarschaftliche Beziehung.
Fangen Sie noch heute an, über Themen zu sprechen, die Sie beschäftigen. Entstressen Sie Ihr Leben aktiv, indem Sie solche Themen nicht mehr in Ihrem Lebensrucksack durch Ihren Alltag schleppen. Das nimmt Ihnen dauerhaft die Leichtigkeit. Nachfolgend finden Sie noch ein paar ermutigende Sätze:
- »Ich tue mir selbst einen Gefallen und spreche über Themen, die mich beschäftigen.«
- »Ich frage nach, um zu lernen und Missverständnisse zu reduzieren.«
- »Ich erspare mir selbst wilde Interpretationen.«
- »Aus Respekt vor mir selbst verhindere ich Situationen, in denen ich nicht weiß, was jemand von mir möchte.«
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