Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Sigmund Freud
Geb. 6.5.1856 in Freiberg (Mähren);
gest. 23.9.1939 in London
F., der nach Maßgabe seiner autobiographischen Selbstdarstellung (1925) ein Kind jüdischer Eltern war, das jüdisch blieb, stand dem praktizierten religiösen Judentum fern (Brief an den Herausgeber der »Jüdischen Pressezentrale Zürich«, 1925), war aber gleichwohl ein loyales Mitglied der B’nai B’rith-Loge, einer Art jüdischer Freimaurerloge in Wien. »Meine Eltern waren«, so bekennt F., »Juden, auch ich bin Jude geblieben. Von meiner väterlichen Familie glaube ich zu wissen, daß sie lange Zeiten am Rhein (in Köln) gelebt hat, aus Anlaß einer Judenverfolgung im 14. oder 15. Jahrhundert nach dem Osten floh und im Laufe des 19. Jahrhunderts die Rückwanderung von Litauen über Galizien nach dem deutschen Österreich antrat.« F. bedauerte in seinem späteren Leben durchaus, keine profunderen Kenntnisse des Judentums gehabt zu haben. Zudem äußerte er zumindest Mitte der zwanziger Jahre deutliche Sympathien für den Zionismus, so 1925 in einer Grußadresse anläßlich der Eröffnung der Hebräischen Universität: »Historians have told us that our small nation withstood the destruction of its independence as a State only because it began to transfer in its estimation of values the highest rank to its spiritual possessions, to its religion and its literature. We are now living in a time when this people has a prospect of again winning the land of its fathers with the help of a power that dominates the world.«
Die Frage hingegen, ob die Psychoanalyse überhaupt eine jüdische Wissenschaft sei, hat nicht nur Antisemiten beschäftigt. Aus der Tatsache, daß mit einer Ausnahme alle Schüler F.s der ersten Generation Juden waren, sind daher weitreichende Schlüsse bezüglich einer Wahlverwandtschaft der kabbalistischen bzw. talmudischen Denkweise mit der der Psychoanalyse eigenen Hermeneutik gezogen worden. Andere Autoren sahen in den Konzepten des Unbewußten bzw. der Bisexualität Anklänge an kabbalistische Gottesvorstellungen (Bakan), während wieder andere Autoren F.s Werk vor allem als eine Verarbeitung selbst gemachter antisemitischer Erfahrungen deuteten. Eine weitere Theorie wendet F.s Psychoanalyse nicht zuletzt auf ihn selbst an und versucht das Entstehen seiner Theorie als Verarbeitung in jüdischen Familien vorherrschender patriarchalischer Strukturen zu verstehen (Bloom; Yerushalmi). All diese Versuche bleiben allerdings ebenso spekulativ, wie sie der Gefahr der Objektivierung nicht widerstehen.
Wichtiger ist dagegen F.s eigene Interpretation des Judentums. Er selbst äußerte sich in zwei zentralen Schriften zu Fragen speziell der jüdischen Religion: im Moses des Michelangelo (1914) sowie im Mann Moses (1939). Zumal im Mann Moses wiederholte F. seine bereits in Totem und Tabu (1913) vertretene These vom Entstehen von Über-Ich und Moral aus der Erfahrung eines kollektiven Vatermords. Darüber hinaus entfaltete er jedoch in dieser Schrift auch eine allgemeine Theorie des Monotheismus und des Christentums. F. spekuliert, daß Moses als Vertreter des ägyptischen Sonnengottes als übermäßig fordernde Gestalt von den widerstrebenden Israeliten erst umgebracht und dann einer anderen Gründergestalt im Dienste eines Hirtengottes amalgamiert worden ist. Dies habe durch ein generationell übertragenes Schuldbewußtsein mit langer, latenter Wirksamkeit zur Ausbildung der auf Triebverzicht gegründeten, von den Propheten gepredigten Ethik geführt. Darin wird das Judentum für F. zur idealtypischen Religion: einer Religion, die im Ideal ethischer Vollkommenheit gipfelt und die Kraft zum Triebverzicht aus ihrer Verschmelzung mit dem kollektiven Narzißmus des Auserwähltheitsglaubens zieht. Demgegenüber sieht F. das Christentum mit seiner Lehre nicht vom getöteten Vater, sondern vom getöteten Sohn als Regression. Die dem Christentum zugrundeliegende Annahme, daß das die Welt heilende Opfer nicht Gott selbst – wie F. meint – sondern Gottes Sohn gewesen sei, stelle in der vom Apostel Paulus gestifteten Religion eine Vermittlung von Wahn und historischer Wahrheit dar. Im Glauben an die erlösende Kraft des Todes des Sohnes wird eine fortwährende Verdrängung des ursprünglichen Vatermordes deutlich. Freilich: Für F. enthält das Christentum einen Fortschritt, den das Judentum nicht vollziehen konnte: »Warum es den Juden nicht möglich gewesen ist«, so schließt F.s Schrift über den Mann Moses, »den Fortschritt mitzumachen, den das Bekenntnis zum Gottesmord bei aller Entstellung enthielt, wäre Gegenstand einer besonderen Untersuchung.«
Gleichwohl enthält die Studie über den Mann Moses den Kern einer allgemeinen Theorie der Kultur, Moral und Religion, die weit über das hinausgeht, was F. selbst in anderen Schriften, etwa dem früheren Unbehagen in der Kultur (1930), formulierte. Trotz der auch hier noch beibehaltenen These vom Vatermord als Urszene aller kulturellen Entwicklung muß F. nämlich die Frage beantworten, wie und warum nun ausgerechnet die biblische Religion zum entscheidenden Motor der abendländischen Moralentwicklung werden konnte und warum die Juden bis zu F.s eigener Zeit allen Anfechtungen zum Trotz an diesem Glauben festhielten. Zudem hatte er das Problem zu lösen, ob jenseits dieser religiös begründeten Moral eine autonome, auf Einsicht beruhende Ethik überhaupt denkbar und möglich ist. F. argumentiert dementsprechend strukturell, historischgenetisch und ethisch-systematisch. Strukturell behauptet er, daß das im alten Israel vollzogene Bilderverbot die Gottesvorstellung auf eine höhere Stufe der Geistigkeit gehoben habe und damit den Weg zu einer konsequenten Ethisierung des Glaubens geöffnet habe. Genetisch-dynamisch ist dann die Frage nach den Auswirkungen dieses vergeistigten Glaubens auf die Angehörigen dieser Religion ebenso zu beantworten wie die Frage nach jenen Mechanismen, die das Festhalten an dieser vergeistigten Religion auf Dauer bewirken. Wenn man wie F. davon ausgeht, daß Ethik vor allem Triebverzicht bedeutet, dann gilt, daß Triebverzicht und die auf ihn gegründete Ethik den wesentlichen Inhalt der Religion ausmachen. In der Zukunft einer Illusion (1927) hatte es dazu geheißen, daß es zweifelhaft sei, »ob die Menschen zur Zeit der uneingeschränkten Herrschaft der religiösen Lehren im ganzen glücklicher waren als heute, sittlicher waren sie gewiß nicht. Wenn die Leistungen der Religion in bezug auf die Beglückung der Menschen, ihre Kultureignung und ihre sittliche Beschränkung keine besseren sind, dann erhebt sich doch die Frage, ob wir ihre Notwendigkeit für die Menschheit nicht überschätzen und ob wir weise daran tun, unsere Kulturforderungen auf sie zu gründen.« Unter Rückgriff auf Totem und Tabu (1913) läßt sich festhalten, daß Inzesttabu und Exogamieverbot die ersten Anfänge einer sozialen Ordnung überhaupt darstellen. Wirksam werden dabei die verinnerlichten Ansprüche des ermordeten Vaters sowie der egalitäre Anspruch der Brüderhorde, einen verbindlichen Modus des Zusammenlebens zu finden. Die im Mann Moses entfaltete Spekulation zielt nun darauf, diese Konstellation für die Verinnerlichung einer vergeistigten und auf weisheitlich-universalistischen Elementen beruhenden Religion plausibel zu machen. Freilich ist mit einer Erklärung des Ursprungs einer derartigen Religion die Frage nach den Kräften ihres Überdauerns in keiner Weise beantwortet, ist die Schwierigkeit des Überdauerns einer auf Schuldbewußtsein beruhenden Ethik des Triebverzichts nicht gelöst. Zur Lösung bietet F. zwei Thesen, eine traumatisierungstheoretische sowie eine kollektivpsychologische These zum Unbewußten auf. In traumatisierungstheoretischer Hinsicht zieht er eine Analogie von individuellem und gruppenbezogenem Trauma. Der von ihm in gewisser Weise für historisch gehaltene Mord an Moses soll als kollektives Trauma nach dem Muster »Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten« den hunderte von Jahren nach Moses’ Tod im Zuge prophetischer Predigt vervollkommneten Monotheismus erklären. Doch ist auch damit das weitere Festhalten an diesem auf Triebverzicht pochenden Glauben noch immer nicht völlig erklärt. Um diese Erklärung zu liefern, bedient sich F. schließlich eines Arguments, das quer zu all seinen bisherigen psychologischen und auf sprachliche Kommunikation abhebenden Erklärungen zur Verinnerlichung sozialer Normen liegt.
Im Mann Moses, seiner letzten theoretisch bedeutenden Schrift, schwenkt F. auf die Linie seines abtrünnigen und zeitweilig dem Nationalsozialismus und Antisemitismus huldigenden Schülers Carl Gustav Jung ein und spielt mit dem Gedanken einer letztlich biologistisch argumentierenden Kollektivpsychologie, einer Lehre vom kollektiven Unbewußten: »Eine Tradition, die nur auf Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht den Zwangscharakter erzeugen, der den religiösen Phänomenen zukommt. Sie würde angehört, beurteilt, eventuell abgewiesen werden wie jede andere Nachricht von außen, erreichte nie das Privileg vom Zwang des logischen Denkens.« Die Juden partizipieren demnach zwanghaft an Erinnerungsspuren von jenen frühen, Schuldbewußtsein und sozialen Konsens bewirkenden Mordgedanken, die für F. eingestandenermaßen nur schwer greifbar sind. Indes: »Wenn wir den Fortbestand solcher Erinnerungsspuren in der archaischen Erbschaft annehmen, haben wir die Kluft zwischen Individual- und Massenpsychologie überbrückt, können die Völker behandeln wie den einzelnen Neurotiker. Zugegeben, daß wir für die Erinnerungsspuren in der archaischen Erbschaft derzeit keinen stärkeren Beweis haben als jene Resterscheinungen in der analytischen Arbeit, die eine Ableitung aus der Phylogenese erfordern, so erscheint uns dieser Beweis doch stark genug, um einen solchen Sachverhalt zu postulieren. Wenn es anders ist, kommen wir weder in der Analyse noch in der Massenpsychologie auf dem eingeschlagenen Weg einen Schritt weiter. Es ist eine unvermeidliche Kühnheit. Wir tun damit auch noch etwas anderes. Wir verringern die Kluft, die frühere Zeiten menschlicher Überhebung zwischen Mensch und Tier aufgerissen haben […]; wenn das Instinktleben der Tiere überhaupt eine Erklärung zuläßt, so kann es nur die sein, daß sie Erfahrungen ihrer Art in die neue eigene Existenz mitbringen, also Erinnerungen an das von ihren Voreltern Erlebte in sich bewahrt haben.[…] Beim Menschentier wäre es im Grund auch nicht anders. […] Nach diesen Erörterungen […] trage ich keine Bedenken auszusprechen, die Menschen haben es immer gewußt, daß sie einmal einen Urvater besessen und erschlagen haben« (Mann Moses).
Es scheint F. nicht aufgefallen zu sein, daß er mit dieser Spekulation über evolutionäre Lernprozesse im Bereich der Moral, die in besonderer Weise zur Verfestigung des jüdischen Glaubens beigetragen haben, wenig anderes tut, als eine lamarckistische Theorie wider alle schon damals bekannten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu beglaubigen: die genetische Verankerung soziokultureller Erfahrungen und Lernprozesse, womit er einen Schritt über C.G. Jungs Lehre hinausgeht. Man mag sich fragen, warum F. zu einer solchen Spekulation griff, und vermuten, daß ihm nur die vermeintlich harte Wissenschaft der Biologie so etwas wie Gewähr für das Fortbestehen einer universalistischen Moral in katastrophalen und judenfeindlichen Zeiten zu bieten schien.
Werke:
- Gesammelte Werke, 18 Bde. und ein Nachtragsband, London/Frankfurt a.M. 1940ff. –
Literatur:
- D. Bakan, S.F. and the Jewish Mystical Tradition, Princeton 1958.
- M. Robert, D’Oedipe à Moïse. F. et la conscience juive, Paris 1974.
- H. Bloom, F. und Jenseits von F., in: ders., Die heiligen Wahrheiten stürzen, Frankfurt a.M. 1991, 146–207.
- Y.H. Yerushalmi, F.s Moses. Judaism Terminable and Interminable, Yale 1991.
- J. Assmann, Moses der Ägypter, München 1998.
- P. Gay, Ein gottloser Jude, Frankfurt a.M. 1999.
- F. Maciejewski, Psychoanalytisches Archiv und jüdisches Gedächtnis – F., Beschneidung, Monotheismus, Wien 2002.
Micha Brumlik
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