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Lexikon der Mathematik: Quadratintegrierbarkeit

M. Sigg

Der Versuch, die Begriffe „Quadratintegral“ und „quadratintegrierbare Funktion“ auf operatorwertige Maße und Funktionen zu verallgemeinern, führt ganz natürlich auf folgende Voraussetzungen: Es seien H ein komplexer Hilbertraum,) eine nichtleere Menge, R ein Mengenhalbring über) und μ, ν : RL(H)+PO-Inhalte, wobei μ qver-träglich mit ν sei, d. h. es gelte \begin{eqnarray}\sqrt{\mu (A)}\sqrt{v(A)}=\displaystyle \sum _{i=1}^{n}\sqrt{\mu ({A}_{i})}\sqrt{v({A}_{i})}\end{eqnarray}

für alle A, A1, …, AnR mit \(A={\cup }_{i=1}^{n}{A}_{i}\). Dann sind auch die Fortsetzungen von μ und ν zu Inhalten auf dem von R erzeugten Ring PO-Inhalte, und die Fortsetzung von μ ist qverträglich mit der Fortsetzung von ν.

Jeder PO-Inhalt ist z. B. qverträglich mit seinen positiven skalaren Vielfachen, insbesondere mit sich selbst. Zwei Spektralmaße μ,ν sind genau dann miteinander qverträglich, wenn sie zueinander orthogonal sind, d. h. wenn \begin{eqnarray}\mu (A)v(B)=0\end{eqnarray}

gilt für alle disjunkten A, B. Die q-Verträglichkeit ist in diesen Fällen eine symmetrische Relation, wie schon die Sprechweise ‚miteinander qverträglich‘ andeutet.

K1, K2 seien komplexe Hilberträume und HS1 := HS(H, K1) sowie HS2 := HS(H, K2) die zugehörigen Hilberträume der Hilbert-Schmidt-Operatoren. Das Produkt eines Hilbert-Schmidt-Operators mit einem stetigen Operator ist ein Hilbert-Schmidt-Operator, und das Produkt zweier Hilbert-Schmidt-Operatoren ist ein Spurklassenoperator. Daher wird durch \begin{eqnarray}{\langle F,A,G\rangle }_{\mu, v}:=(F\sqrt{\mu (A)})(G\sqrt{v(A)})* \end{eqnarray}

für F ∈ HS1, G ∈ HS2 und AR eine Abbildung \begin{eqnarray}{\langle „\rangle }_{\mu, v}:{\text{HS}}_{1}\times R\times {\text{HS}}_{2}\to N({K}_{2},{K}_{1})\end{eqnarray}

definiert, wobei N(K2, K1) der Banachraum der Spurklassenoperatoren sei. Für k = 1, 2 sei 𝔈k der Vektorraum der HSk-wertigen R-einfachen Funktionen, d. h. der bzgl. R gebildeten HSk –wertigen, Treppenfunktionen‘ auf), also der linearen Hülle von \begin{eqnarray}\{{\chi }_{A}F|A\in R,F\in {\text{HS}}_{k}\}.\end{eqnarray}

Dann ist leicht zu zeigen, daß es genau eine sesquilineare Abbildung \begin{eqnarray}{\langle, \rangle }_{\mu, v}:{{\mathfrak{E}}}_{1}\times {{\mathfrak{E}}}_{2}\to N({K}_{2},{K}_{1}),\end{eqnarray}

genannt (elementares) Quadratintegral zu (μ,ν), gibt mit \begin{eqnarray}{\langle {\chi }_{A}F,{\chi }_{B}F\rangle }_{\mu, v}={\langle F,A\cap B,G\rangle }_{\mu, v}\end{eqnarray}

für alle F ∈ HS1, G ∈ HS2 und A, BR. Dabei gilt für alle f ∈ 𝔈1 und g ∈ 𝔈2 mit Darstellungen \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}f=\displaystyle \sum _{i=1}^{m}{\chi }_{{A}_{i}}{F}_{i}, & g=\displaystyle \sum _{j=1}^{n}{\chi }_{{B}_{j}}{G}_{j}\end{array}\end{eqnarray}

(Fi ∈ HS1, Gj ∈ HS2 und Ai, BjR)

mit \({V}_{ij}:=\sqrt{\mu ({A}_{i}\cap {B}_{j}),}{W}_{ij}:=\sqrt{v({A}_{i}\cap {B}_{j}):}\)\begin{eqnarray}\begin{array}{lll}{\langle f,g\rangle }_{\mu, v} & = & \displaystyle \sum _{ij}{\langle {F}_{i},{A}_{i}\cap {B}_{j},{G}_{j}\rangle }_{\mu, v}\\ \text{tr}{\langle f,g\rangle }_{\mu, v} & = & \displaystyle \sum _{ij}{\langle {F}_{i},{V}_{ij},{G}_{j}{W}_{ij}\rangle }_{\text{HS}}\end{array}\end{eqnarray}

Ziel ist nun, das Quadratintegral ⟨,⟩μ,ν sowie speziell die Quadratintegrale \begin{eqnarray}\begin{array}{ccc}{\langle, \rangle }_{\mu }:={\langle, \rangle }_{\mu, \mu } & \text{und} & {\langle, \rangle }_{v}:={\langle, \rangle }_{v,v}\end{array}\end{eqnarray}

als sesquilineare Abbildungen von den einfachen Funktionen auf einen möglichst großen Funktionenbereich zu erweitern. Dies wurde für μ = ν in Spezialfällen von verschiedenen Autoren versucht: Wiener/Masani (1958):) = (0,2π] und durch isotone matrixwertige Funktionen erzeugte PO-Maße; Rosenberg (1964): σ-Algebra R über beliebigem) und matrixwertige PO-Maße und Funktionen (mittels Radon-Nikodym-Ableitungen der Komponenten des Maßes bzgl. seines Spurmaßes); Kuroda (1967): Funktionen mit Werten in einem separablen Hilbertraum H und L(H)+ -wertige PO-Maße, die unbestimmtes Integral bzgl. eines klassischen (d. h. [0, ∞)-wertigen) Maßes sind (Vollständigkeit im unendlichdimensionalen Fall erst nach abstrakter Vervollständigung); Mandrekar/Salehi (1970): Ebenfalls PO-Maße aus unbestimmten Integralen bzgl. klassischer Maße, aber Funktionen mit Werten in den unbeschränkten Operatoren zwischen zwei separablen Hilberträumen, dadurch Vollständigkeit im Fall spurklassenoperatorwertiger Maße; Welch (1972): Verzicht auf Spurklassenoperatorwertigkeit des Maßes, aber keine Approximation quadratintegrierbarer Funktionen durch einfache Funktionen; Abreu (1978): Raum der quadratintegrierbaren Funktionen als abstrakte Vervollständigung des Raums der einfachen Funktionen.

Eine Behandlung mit Mitteln der klassischen Integrationstheorie gelingt offenbar nur für PO-Maße, die sich als unbestimmtes Integral bzgl. eines klassischen Maßes schreiben lassen, und erscheint selbst dann unbefriedigend und unangemessen aufwendig. Jedoch wird – wie beim ‚gewöhnlichen‘ linearen Integral (vgl. [1], [3] und bzgl. vektor- und operatorwertiger Maße speziell [2]) – auch hier die allgemeine Situation auf einfache und natürliche Weise zugänglich, wenn man die Integralerweiterung von vornherein als stetige Fortsetzung betrachtet. Wesentlich hierfür ist folgender Satz:

Die Abbildungen\begin{eqnarray}\begin{array}{l}\text{tr}{\langle, \rangle }_{\mu }:{{\mathfrak{E}}}_{1}\times {{\mathfrak{E}}}_{1}\to {\mathbb{C}}\,\text{}und\\ \text{tr}{\langle, \rangle }_{\nu }:{{\mathfrak{E}}}_{2}\times {{\mathfrak{E}}}_{2}\to {\mathbb{C}}\end{array}\end{eqnarray}

sind Semiskalarprodukte. Mit den zugehörigen Halbnormen | |μ : 𝔈1 → [0, ∞), | |ν : 𝔈2 → [0, ∞) gilt\begin{eqnarray}|{\langle f,g\rangle }_{\mu, \nu }{|}_{\text{nuk}}\le |f{|}_{\mu }|g{|}_{\nu }\end{eqnarray}

für alle f ∈ 𝔈1, g ∈ 𝔈2.

Dank dieser Ungleichung vom Cauchy-Schwarz-Typ ist das Problem der Erweiterung des Quadratintegrals zurückgeführt auf die Aufgabe, die Halbnormen | |μ und | |ν zu erweitern, denn es gilt der leicht zu beweisende Fortsetzungssatz für sesquilineare Abbildungen:

Hat man für k = 1,2 Vektorräume 𝔈k ⊂ 𝔏k ⊂ 𝔉k und eine Halbnorm | |k : 𝔏k → [0, ∞), bzgl. welcher 𝔈k dicht in 𝔏k liegt, ist ferner N ein Banachraum und ⟨,⟩0 : 𝔈1 × 𝔈2N sesquilinear mit\begin{eqnarray}|{\langle f,g\rangle }_{0}|\le |f{|}_{1}|g{|}_{2}\,{f}{\ddot{u}}{r}\,{alle}\,\text{}f\in {{\mathfrak{E}}}_{1},g\in {{\mathfrak{E}}}_{2},\end{eqnarray}

so gibt es genau eine Fortsetzung von, 0zu einer sesquilinearen Abbildung ⟨,⟩ : 𝔏1 × 𝔏2N mit\begin{eqnarray}|\langle f,g\rangle |\le |f{|}_{1}|g{|}_{2}\,{f}{\ddot{u}}{r}\,{alle}\,\text{}f\in {{\mathfrak{L}}}_{1},g\in {{\mathfrak{L}}}_{2}.\end{eqnarray}

⟨,⟩ ist die bzgl. | |1und | |2stetige Fortsetzung von ⟨,⟩0, d. h. für alle f ∈ 𝔏1, g ∈ 𝔏2und Folgen (fn) in 𝔈1sowie (gn) in 𝔈2mit | fnf|1 → 0 und |gng|2 → 0 gilt\begin{eqnarray}{\langle {f}_{1},{g}_{n}\rangle }_{0}\to \langle f,g\rangle.\end{eqnarray}

Die Erweiterung der Halbnormen | |μ und | |ν wiederum läßt sich durchführen gemäß dem allgemeinen Fortsetzungsatz für Halbnormen:

Hat man Vektorräume 𝔈 ⊂ 𝔉 und eine Halbnorm | |0 : 𝔈 → [0, ∞), ist ferner ∥ ∥ : 𝔉 → [0, ∞] eine Pseudonorm (d. h. ∥ ∥ hat die Eigenschaften einer Halbnorm mit dem Unterschied, daß auch der Wertzugelassen ist) mit\begin{eqnarray}\begin{array}{cc}|f{|}_{0}\le ||f||\,{f}{\ddot{u}}{r}\,{alle}\,\text{}f\in {\mathfrak{E}}, & (1)\end{array}\end{eqnarray}

so gibt es genau eine Fortsetzung von | |0zu einer Halbnorm | | : 𝔏 → [0, ∞) mit\begin{eqnarray}|f|\le ||f||\,{f}{\ddot{u}}{r}\,{alle}\,\text{}f\in {\mathfrak{L}},\end{eqnarray}

wobei 𝔏 der Abschluß von 𝔈 in 𝔉 bzgl. ∥ ∥ sei. Die Abbildung | | ist die bzgl. ∥ ∥ stetige Fortsetzung von | |0, d. h. für alle f ∈ 𝔏 und Folgen (fn) in 𝔈 mitfnf ∥ → 0 gilt |fn|0 → |f|.

Eine Pseudonorm ∥ ∥, die (1) erfüllt, heißt geeignet zur Fortsetzung von | |0. Damit ergibt sich für die Erweiterung des Quadratintegrals folgendes Rezept:

  • Mit 𝔏k := 𝔏(H, Kk) (Raum der linearen Operatoren) für k ∈ {1, 2} betrachtet man die Einbettung 𝔈k ⊂ 𝔉k := 𝔉(Ω, 𝔏k) von 𝔈k in die 𝔏k-wertigen Funktionen auf Ω. Das Zulassen unbeschränkter Operatoren als Funktionswerte ist dabei wesentlich für die Vollständigkeit der Räume quadratintegrierbarer Funktionen (in Spezialfällen).
  • Man verschafft sich zur Fortsetzung der Halbnormen \begin{eqnarray}|{|}_{\mu }:{{\mathfrak{E}}}_{1}\to [0,\infty ),|{|}_{\nu }:{{\mathfrak{E}}}_{2}\to [0,\infty )\end{eqnarray} geeignete Pseudonormen \begin{eqnarray}|||{|}_{1}:{{\mathfrak{F}}}_{1}\to [0,\infty ],|||{|}_{2}:{{\mathfrak{F}}}_{2}\to [0,\infty ]\end{eqnarray} und bildet damit die Räume \begin{eqnarray}\begin{array}{ccc}{{\mathfrak{L}}}^{2}(\mu ):={\overline{{{\mathfrak{E}}}_{1}}}^{|||{|}_{1}} &, & {{\mathfrak{L}}}^{2}(\nu ):={\overline{{{\mathfrak{E}}}_{2}}}^{|||{|}_{2}}\end{array}\end{eqnarray} mit den fortgesetzten (wieder mit den gleichen Symbolen bezeichneten) Halbnormen \begin{eqnarray}\begin{array}{ccc}|{|}_{\mu }:{{\mathfrak{L}}}^{2}(\mu )\to [0,\infty ) &, & |{|}_{\nu }:{{\mathfrak{L}}}^{2}(\nu )\to [0,\infty )\end{array}.\end{eqnarray}
  • Damit setzt man das elementare Quadratintegral ⟨,⟩μ,ν : 𝔈1 × 𝔈2N(K2, K1) fort zu einer (wieder mit dem gleichen Symbol bezeichneten) sesquilinearen Abbildung \begin{eqnarray}{\langle, \rangle }_{\mu, \nu }:{{\mathfrak{L}}}^{2}(\mu )\times {{\mathfrak{L}}}^{2}(\nu )\to N({K}_{2},{K}_{1}).\end{eqnarray} Speziell erhält man die fortgesetzten Quadratintegrale \begin{eqnarray}\begin{array}{l}{\langle, \rangle }_{\mu }:{{\mathfrak{L}}}^{2}(\mu )\times {{\mathfrak{L}}}^{2}(\mu )\to N({K}_{1}),\\ {\langle, \rangle }_{\nu }:{{\mathfrak{L}}}^{2}(\nu )\times {{\mathfrak{L}}}^{2}(\nu )\to N({K}_{2}).\end{array}\end{eqnarray}

Für diese Fortsetzungen gilt dann der Satz:

Die Abbildungen\begin{eqnarray}\begin{array}{l}\text{tr}{\langle, \rangle }_{\mu }:{{\mathfrak{L}}}^{2}(\mu )\times {{\mathfrak{L}}}^{2}(\mu )\to {\mathbb{C}},\\ \text{tr}{\langle, \rangle }_{\nu }:{{\mathfrak{L}}}^{2}(\nu )\times {{\mathfrak{L}}}^{2}(\nu )\to {\mathbb{C}}\end{array}\end{eqnarray}

sind Semiskalarprodukte, die gerade die Halbnormen | |μ bzw. | |ν erzeugen.

Die Vorteile dieses Verfahrens:

  • Der topologische Charakter der Integralerweiterung als stetige Fortsetzung des elementaren Quadratintegrals wird deutlich.
  • Der Zugang ist konstruktiv in dem Sinne, daß die zugrundeliegenden Funktionenräume nicht verlassen werden – es werden keine abstrakten Vervollständigungen gebraucht.
  • Schon Spezialfälle wie der eines PO-Maßes, das unbestimmtes Integral bzgl. eines klassischen Maßes ist, lassen sich unter schwächeren Voraussetzungen und deutlich einfacher als sonst in der Literatur dargestellt behandeln.
  • Es werden nicht nur PO-Maße, sondern auch PO-Inhalte erfaßt.
  • Es wird auch der Fall ‚gemischter‘, d. h. wie oben bzgl. zweier PO-Inhalte μ,ν gebildeter Quadratintegrale behandelt.
  • Die einfachen Funktionen liegen schon nach Konstruktion dicht im Raum der quadratintegrierbaren Funktionen. Bei anderen Verfahren muß dies (soweit überhaupt der Fall) aufwendig bewiesen werden.

Ist ein PO-Inhalt μ gegeben, so bleibt also die Aufgabe, eine zur Fortsetzung der Halbnorm | |μ geeignete Pseudonorm zu finden. Dies kann im allgemeinen Fall geschehen, indem man, ähnlich wie bei der ‚gewöhnlichen‘ Integralfortsetzung zunächst eine die Halbnorm abschätzende Integralnorm auf den [0, ∞)-wertigen einfachen Funktionen konstruiert und mit dieser eine Riemann-Norm oder im Fall eines schwachen PO-Maßes μ auch eine Lebesgue-Norm definiert. Diese Pseudonormen sind geeignet zur Fortsetzung von | |μ.

In dem in der Literatur betrachteten Spezialfall eines PO-Maßes μ, das unbestimmes Integral bzgl. eines klassischen Maßes λ ist, kann man eine geeignete Pseudonorm aus der klassischen Lebesgue-Norm zu λ gewinnen. Aus den damit gebildeten Räumen (𝔏2 (μ), ||μ) und (𝔏2 (λ), ||λ) erhält man durch Quotientenbildung Hilberträume L2 (μ) und L2 (λ), wobei sich der Raum L2 (μ) isometrisch in den Raum L2 (λ) einbetten läßt.

Literatur

[1] Bichteler, K.: Integration – A Functional Approach. Birkäuser Basel, 1998.

[2] Hoffmann, D.; Schäfke, F.-W.: Integrale. B.I.-Wissenschaftsverlag Mannheim, 1992.

[3] Leinert, M.: Integration und Maß. Vieweg Braunschweig, 1995.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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