Lexikon der Neurowissenschaft: Ethologie
Ethologiew [von griech. ethos = Gewohnheit, Sitte, logos = Kunde], Verhaltensbiologie, Verhaltensforschung, Eethology, Erforschung tierischen und menschlichen Verhaltens mit den Methoden der Biologie. Anfänglich zielte die Ethologie als vergleichende Verhaltensforschung darauf, Verhaltensmerkmale zur Klärung der systematischen Verwandtschaftsverhältnisse zu benutzen (Ethogramm). Dabei spielte der Gesichtspunkt der stammesgeschichtlichen Anpassung verschiedener Verhaltensweisen eine entscheidende Rolle, so daß sich das Interesse der Ethologie auf angeborene und "formkonstante" Verhaltensmerkmale konzentrierte, wie sie z.B. bei niederen Wirbeltieren (Fischen) und Insekten leicht zu untersuchen sind. Im Gegensatz dazu zielten andere Verhaltenswissenschaften (vergleichende Psychologie, Behaviorismus) eher auf die Untersuchung erlernten Verhaltens, also auf die individuelle, ontogenetische Anpassung ab. Heute hat sich das Untersuchungsfeld der Ethologie erheblich ausgeweitet; es werden ontogenetische und physiologische ebenso wie humanwissenschaftliche Aspekte verschiedenster Art mit berücksichtigt. Daher ist es heute für die Einordnung und Bewertung ethologischer Aussagen von großer Wichtigkeit, daß die Betrachtungsebene oder das Integrationsniveau angegeben wird, auf dem ein Verhalten untersucht wurde. Die verschiedenen Ebenen können von der Betrachtung einzelner Nervenfunktionen (Neuroethologie, Neurobiologie) bis hin zur Untersuchung ganzer Funktionskreise des Verhaltens einer Art reichen. Auch heute unterscheidet sich die Ethologie jedoch von anderen Verhaltenswissenschaften dadurch, daß sie die Funktion eines Verhaltens oder Verhaltenselements für die ontogenetische oder phylogenetische Anpassung eines Lebewesens in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellt. Dieser funktionelle und evolutionsbiologische Aspekt des Verhaltens wird in der Psychologie und Psychiatrie weit weniger oder gar nicht betont. – In den letzten Jahrzehnten nimmt die experimentelle Verhaltensforschung im Rahmen der Ethologie einen immer breiteren Raum ein. Ihr Ziel ist es, die Ursachen und kausalen Zusammenhänge zu analysieren, die dem Verhalten zugrunde liegen. Dabei wird eine breite Palette wissenschaftlicher Methoden verwendet, die vielfach aus anderen Wissenschaftszweigen stammen, wie z.B. der Physiologie (Verhaltensphysiologie), Neurobiologie, Pharmakologie (Verhaltenspharmakologie), Endokrinologie (Ethoendokrinologie), Genetik (Verhaltensgenetik) und anderen. Die experimentelle Verhaltensbiologie entwickelt daneben sehr spezifische Methoden, die durch die Vielfalt und Komplexität des Gegenstandsbereichs erforderlich werden, wie z.B. Attrappenversuche, Deprivationsmethoden (Deprivation) u.a. Besonders vielfältig sind die Methoden, die im Freiland angewendet werden müssen, um beispielsweise über die Dauer von Generationen hinweg die Dynamik des Sozialverhaltens, Orientierungsleistungen oder auch die Zeitstrukturen des Verhaltens zu analysieren. – Eine ganz entscheidende Neuorientierung und Weiterentwicklung auch in den theoretischen Konzepten hat die Ethologie seit den 1970er Jahren durch die Untersuchungsansätze zur Analyse und evolutionsbiologischen Deutung sozialen Verhaltens erfahren (Soziobiologie). Dabei werden insbesondere auch die speziellen ökologischen Bedingungen berücksichtigt (Ethoökologie) unter denen sich die Verhaltensprozesse entwickeln bzw. abspielen.
Lit.:Lorenz, K.: Vergleichende Verhaltensforschung: Grundlagen der Ethologie. Wien, New York 1978. Wuketits, F.M.: Die Entdeckung des Verhaltens: Eine Geschichte der Verhaltensforschung. Darmstadt 1995.
Spezialisierungen: In der Verhaltensforschung werden Einzelaspekte der Grundfragen und Bezugsebenen (Verhalten, Tab.) immer wieder sehr unterschiedlich bewertet und gewichtet. In der Verhaltensökologie (Ethoökologie) werden ökologische Aspekte, in der Soziobiologie innerartliche Aspekte des Anpassungswerts fokussiert, in der Chronobiologie u.a. Biorhythmen im Verhalten und in der evolutionären Erkenntnistheorie sowie in der kognitiven Ethologie kognitive Aspekte. Spezialisierungen gibt es auch hinsichtlich der Funktionsabläufe, und zwar zu den Bezugsebenen, etwa die Verhaltensphysiologie, die Verhaltensgenetik, die Ethoendokrinologie, die Verhaltensimmunologie, die Neuroethologie und die Verhaltenspharmakologie. Die Tierethologie hat auch praktische Bedeutung, z.B. für Tierschutz, Umweltschutz und Naturschutz, für Wildtierbiologie und Tiergartenbiologie sowie für die Nutztierethologie. Hinsichtlich der Beobachtung einzelner Tierordnungen hat heute die Primatenethologie für die Anthropologie besondere Bedeutung erlangt; mit direktem Bezug auf den Menschen sind von I. Eibl-Eibesfeldt die Humanethologie und die Kinderethologie begründet worden. Einzelne ihrer methodisch-theoretischen Ansätze und Inhalte werden inzwischen auch unter einem neuen Etikett übernommen und z.T. weiterentwickelt, z.B. im Rahmen der evolutionären Psychologie und der Biopsychologie und im Rahmen der ethologisch fundierten Erziehungs- und Sozialwissenschaften, der evolutionären Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, sowie der Rechtsethologie und Rechtspsychologie. Wechselbezüge zwischen der Natur und der Kultur des Menschen sind schließlich auch Gegenstand der Stadt- und Kulturethologie. Geschichte der Ethologie.
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