Metzler Philosophen-Lexikon: Marc Aurel (d. i. Marcus Aurelius Antonius)
Geb. 26. 4. 121 in Rom;
gest. 17. 3. 180 bei Wien
Zwei Jahrzehnte lang, von 161 bis 180, war in Roms Imperium der Wunsch Platons in Erfüllung gegangen: Ein Philosoph war Kaiser und regierte das römische Weltreich. Ähnlich wie später Augustinus, so hatte sich auch der junge Prinz nach einer ersten – enthusiastisch der Rhetorik gewidmeten – Phase von dieser abgewandt und zur Philosophie bekehrt; bezeugt wird das durch seine (lateinischen) Briefe an den Lehrer Fronto, bezeugt auch durch seine Lebensführung und vor allem durch seine berühmten Selbstbetrachtungen (Ad se ipsum libri XII), deren 12 Bücher in griechischer Sprache und stoischem Geist in den letzten Lebensjahren unter ungünstigen Umständen, meist im Feldlager, abgefaßt sind. Die Regierungszeit des Herrschers war von Aufständen und Barbareneinfällen gekennzeichnet. Ständig waren Feldzüge vonnöten, von denen auch heute noch die bekannte Säule im Herzen Roms mit ihren Reliefdarstellungen kündet. Das taumelnde Riesenreich war durch eine einzelne Person an der Spitze nicht zu sanieren, so gerecht, so freigebig und hilfsbereit diese auch sein mochte: Inflation setzte ein, Christen wurden (u. a. in Lyon) verfolgt, Polykarp von Smyrna erlitt den Märtyrertod. In der Tat weht ein Hauch von Resignation in den Selbstbetrachtungen des letzten großen Autors der stoischen Lehre.
Unter den 12 Büchern des Werkes nimmt das erste eine Sonderstellung ein: Es zählt in genauer Selbstanalyse Punkt für Punkt auf, was der Autor 16 nahestehenden Menschen und schließlich »den Göttern« in seinem Persönlichkeitsbild zu schulden sich bewußt ist: von der Güte des Großvaters bis zur Standhaftigkeit und Nüchternheit, die der Adoptivvater vermittelte und vorlebte; von der Frömmigkeit, Freigiebigkeit und einfachen Lebensführung der Mutter bis zur Analyse von tyrannischer Mißgunst, Hinterhältigkeit und Heuchelei durch den Lehrer Fronto. Die Wertewelt eines Mannes, der sich gleichermaßen freizuhalten vermochte vom Cäsarenwahn wie auch von allzu menschlichen Schwächen; ein Wertsystem, das, wenn auch anders akzentuiert, doch dem der christlichen Lehre nahe genug steht.
M. A. lebte in einer Welt ohne Geborgenheit, ausgeliefert dem Wandel der Welt, dem Fluß der Ereignisse und Dinge: »Bedenke oft die Schnelligkeit des Vorüberziehens und Entschwindens des Seienden und Geschehenden (denn die Substanz ist wie ein Fluß in dauernder Strömung, und die Tätigkeiten sind in fortgesetzten Wandlungen und die Ursachen in tausend Veränderungen begriffen, und fast nichts bleibt stehen) und das dir nahe unendliche Gähnen der Vergangenheit und der Zukunft, in dem alles verschwindet.« Pessimistischer noch an anderer Stelle: »Alles Körperliche ist ein Fluß, alles Seelische ein Traum und Wahn, das Leben Krieg und Aufenthalt in der Fremde, der Nachruhm Vergessenheit.« Aber die Rettung in dieser Düsternis ist angeschlossen: »Was vermag uns da zu geleiten? Einzig und allein die Philosophie.« Ihre Wirkung ist die Bewältigung von Ängsten im Laufe des Lebens wie in der Erwartung des Todes, die Freiheit von Lüsten wie von Schmerzen. Doch führt sie noch darüber hinaus. Da die Vernunft allen Menschen gemeinsam ist, sind sie alle gleichermaßen Teilhaber an einer großen Gemeinschaft, sind allesamt gleichberechtigte Bürger eines weltumgreifenden Stadtstaates: »Der Mensch ist Bürger der obersten Stadt, von der die anderen Städte gleichsam nur die Häuser sind.« Die wirklich gebildete Seele »hat Kenntnis vom Anfang und Ende und von der die ganze Substanz durchdringenden Vernunft, die durch die ganze Ewigkeit hindurch in Abschnitten von fest bestimmten Perioden das All verwaltet«. So ist der Mensch zwar der Vergänglichkeit und Unbehaustheit unterworfen, doch vermag er sich durch die Hingabe an die Philosophie von der guten Ordnung des Kosmos Rechenschaft zu geben, vermag so seinen Standpunkt zu finden und zu festigen. Mit geradezu religiöser Inbrunst werden die Gedankenketten oft und oft wiederholt, die diesen Trost zu spenden bestimmt sind.
In der Tat ist M. A. kein Anhänger der in seiner Epoche wuchernden Erlösungsmythen und Heilsmysterien. Er vertraut sein Leben der Vernunft an und der durch sie zu gewinnenden, durch Überlegung und Konsequenz zu erhaltenden Seelenführung hin zu innerem Frieden. Der äußere war ihm nicht vergönnt, und so ist sein Dasein eingespannt in das Gegeneinander von komplizierten Regierungsaufgaben und Militärproblemen auf der einen, von tiefgründigen, das innere Gleichgewicht sichernden Philosophemen andererseits. Der Ernst, mit dem M. A. diese Grundspannung seiner Existenz gesehen, durchdacht und bewältigt hat, macht ihn zu einem Denker von königlichem Rang, dem der kaiserliche Purpur nur akzidentiell bestätigt, was seine menschliche Substanz ausmacht.
Motschmann, Cornelius: Die Religionspolitik Mark Aurels. Stuttgart 2002. – Eck, Werner: Art. »Marcus Aurelius«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 7, Sp. 870–875. – Hadot, Pierre: Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Mark Aurels. Frankfurt am Main 1996. – Pohlenz, Max: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde. Göttingen 61984. – Giese, Alexander: Wie ein Fremder im Vaterland. Frankfurt am Main/Wien 1975.
Bernhard Kytzler
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