Metzler Lexikon Philosophie: Bildung
im weitesten Sinn die Entfaltung der intellektuellen, sittlichen, körperlichen und praktischen Anlagen des Menschen zu einer individuellen Ganzheit. Anthropologisch ist der Mensch nicht nur der B. fähig, sondern auch bedürftig. Im Unterschied zum Tier nicht durch instinktive Verhaltensmuster auf die Umwelt bezogen, sondern »weltoffen«, muss der Mensch erst eine Fülle von Verhaltensweisen lernen, sich die Welt verstehend aneignen und in eine bereits vorgegebene Kultur hineinwachsen. Dabei steht ihm aufgrund seiner Reflexivität ein breiter Spielraum von Entwicklungsmöglichkeiten offen, in deren Verwirklichung er sein individuelles Selbst formt. B. und Erziehung bezeichnen unterschiedliche Momente in diesem Prozess. Während Erziehung stärker die Aspekte der Fremdbestimmung, Abhängigkeit vom Wissensund Könnensvorsprung des Lehrers und Zweckgerichtetheit pädagogischen Handelns beinhaltet, meint B. im traditionellen Verständnis autonome Selbsttätigkeit und zweckfreie Entfaltung der geistig-seelischen Anlagen. Sie setzt damit ein gewisses Maß an erreichter Reife, im Sinne von Selbstbewusstsein und Selbstbestimmtheit voraus. – B. beinhaltet den Gedanken der Emanzipation und kritischen Distanz zu überlieferten religiösen, politischen und sozialen Gegebenheiten und Normvorstellungen. Somit steht B. auch immer in Bezug zu Aufklärung. Bereits in der Antike zielt das sophistische Bildungsprogramm auf eine kritische Hinterfragung des überkommenen Ethos und beinhaltet das Bild des mündigen Bürgers, der in der Polis seine politische Rolle wahrzunehmen vermag. In Platons Kritik an der Sophistik treten die politisch emanzipatorischen Interessen zurück und der Gedanke der zweckfreien, auf die vollendete Formung der geistigen Anlagen bezogenen B. rückt in den Vordergrund. Im Höhlengleichnis zeigt Platon die B. als einen schmerzhaften, weil mit gewohnten Scheingewissheiten brechenden, Aufstieg zur Schau der Ideen, bei dem die Umwendung des ganzen Menschen verlangt ist. – In der Renaissance wird der Mensch als ein Mikrokosmos betrachtet, in dem die ganze Welt (von der stofflichen bis zur rein geistigen) konvergiert und der damit an allem Seienden teilhat. Mit schöpferischer Kraft begabt, ist er dazu fähig und aufgerufen, nicht nur sich selbst frei zu gestalten, sondern in seinem erkennenden Geist die Welt gleichsam neu zu schaffen, als ein »zweiter Gott«. – In der Literatur der deutschen Klassik (»Bildungsroman«) wird B. als die organisch harmonische Entfaltung (Reifung) des inneren Menschen verstanden. Vorbildhaft wirkten hier u.a. Rousseaus émile und Goethes Metamorphosenlehre. – Im 19. Jh. tritt der Bildungsgedanke vor allem durch Humboldt ins Zentrum der Pädagogik. B. ist Zweck in sich des Menschen, die innere, und durch äußere Veranstaltung nicht zu erzwingende, Formung des Menschen zur Einheit seines sittlich-geistigen Wesens (Humanität). – Im 20. Jh. wird der Bildungsbegriff zunehmend problematisch. Zum einen wegen seiner soziologischen Implikation, die B. als das Privileg einer Elite, die sich zweckfreie Muße erlauben kann, erscheinen lässt. Zum anderen, weil die Funktion einer allgemeinen (auch formalen) B. in einer zunehmend Fachwissen und Spezialfertigkeiten erfordernden Gesellschaft in Frage gestellt werden kann. Andererseits kann B. ein Gegengewicht zur gesellschaftlichen Vereinnahmung des Individuums und zu geistigen Nivellierungstendenzen sein.
Literatur:
- T. Ballauff: Die Grundstruktur der Bildung. Weinheim 1953 – G. Böhme: Die philosophischen Grundlagen des Bildungsbegriffs. Kastellaun 1976
- W. Jaeger: Paideia. Berlin/New York 51973
- H. Röhrs (Hg.): Bildungsphilosophie. 2 Bde. Frankfurt 1967/68
- E. Weber (Hg.): Der Erziehungs- und Bildungsbegriff im 20. Jh. Bad Heilbrunn 31976.
FPB
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