Chimärenfoschung: Hybride Hirne
In einem abgedunkelten Raum in einem Londoner Labor beobachtet eine Gruppe von Studentinnen und Studenten, wie sich ein Haufen menschlicher Gehirnzellen in seinem neuen Zuhause einrichtet: einem lebenden Mäusegehirn. Auf einem Computermonitor neben einem Mikroskop leuchten die Eindringlinge in Blitzen gleichzeitiger Aktivität auf. Im Lauf der Zeit bilden sie zentimeterlange Fortsätze aus und vernetzen sich untereinander.
Vincenzo De Paola, der das Labor am Imperial College London leitet, erzählt, wie sehr dieses Schauspiel seine Besucher fesselt. »Sie wollen nur noch das ansehen. Ich kann sie gar nicht wegreißen.« De Paolas Gruppe ist eine von wenigen weltweit, die menschliche Nervenzellen in einem lebenden, sich entwickelnden Gehirn studieren. Die Forscher und Forscherinnen erzeugen dazu Chimären – also Organismen, die aus Zellen verschiedener Arten bestehen. Versuche mit solchen Wesen, in denen Neurone anderer Tiere wachsen, haben in den letzten Jahren zugenommen. Dadurch entzündete sich eine Debatte darüber, ob derartige Studien ethisch gerechtfertigt sind. Befürworter sagen, die Experimente seien notwendig und würden bereits wichtige Erkenntnisse über die Hirnentwicklung und krankhafte Prozesse liefern. Gegner warnen davor, dass Chimären die Grenze zwischen den Arten verwischen. Einige Fachleute plädieren dafür, die Organismen nur dann zu verwenden, wenn es für die Untersuchung keine Alternative gibt. »Ist das ein wirklich gutes Modell für die Beantwortung einer wissenschaftlichen Frage – oder überschreiten wir die Grenzen nur um der Sache willen?«, fragt Naomi Moris, eine Entwicklungsbiologin am Francis Crick Institute in London.
Chimären werden zwar schon seit Jahrzehnten in der Forschung genutzt. Jene mit menschlichem neuronalem Gewebe stellen jedoch ethisches Neuland dar…
© Springer Nature Limited
Nature 608, S. 22–25, 2022
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben