Agroforst: Die Renaissance der Ackerbäume
Die Hühner von Jochen und Hilke Hartmann sieht man im Sommer schon mal hüpfend Holunderbeeren von den Sträuchern pflücken. Denn die Landwirtsfamilie aus Rettmer bei Lüneburg hält ihr Geflügel im »Hühnerwald«. Schon die wilden Vorfahren der Haushühner lebten in lichten Wäldern und an Waldrändern, und auch domestizierte Hühner, Gänse und Puten halten sich noch gern im Schutz von Bäumen auf, wo zudem Früchte oder Raupen ihren Speiseplan verfeinern. Hartmann, den seine Frau aufs Huhn gebracht hat, ist begeistert: »Man merkt den Hühnern an, das ist ihr Lebensraum, da fühlen sie sich wohl.« Der Hühnerwald bietet Schutz vor dem Habicht und anderen fliegenden Beutegreifern und sorgt so dafür, dass sich die Tiere besser über die Fläche verteilen. Daneben bieten Bäume und Sträucher Schatten, sommerliche Kühlung und viel Abwechslung beim Scharren und Picken, was wiederum die Futter- und Tierarztkosten senkt – kurz: eine Win-win-Situation für Hühner und Landwirt.
Die Haltung von Hühnern unter Bäumen ist fast schon ein Klassiker der »Agroforstwirtschaft«. Der etwas hochtrabende Name klingt nach einer neuen Erfindung. Doch tatsächlich reicht sie zurück bis zu den Wurzeln der Landwirtschaft. Lange Zeit gab es in Mitteleuropa keine strikte Trennung zwischen dem, was man heute Wald nennt und was Feld, sondern eher einen fließenden Übergang. Man baute Getreide unter Bäumen oder sogar auf kleinen Flächen im Wald an. Parkartige Hutewälder, in denen Schweine und Rinder weideten, ausgedehnte Streuobstwiesen, von Obstbäumen gesäumte Wege und ein buntes Mosaik aus Äckern, Hecken und Gehölzen prägten das Bild. Heute finden sich nur noch Reste dieser vielfältigen Kulturlandschaften, etwa in den verbliebenen Streuobstwiesen, den Wallhecken Norddeutschlands, Knicks genannt, oder in der mit Feldgehölzen angereicherten oberbayerischen Haglandschaft.
Die Hühnerhaltung der Hartmanns ist Teil einer Rückbesinnung auf diese einst enge Verbindung von Land- und Forstwirtschaft. Dazu muss man kein Nostalgiker sein. Wissenschaftliche Studien haben inzwischen zahlreiche Vorteile dieser Art des Wirtschaftens aufgezeigt: Bäume etwa könnten helfen, die moderne Landwirtschaft fit für die Zukunft zu machen. Sie bieten Schatten, Kühlung und Windschutz – Vorteile, die wegen der Klimaerwärmung auch hier zu Lande immer wichtiger werden. Nebenbei speichern Gehölze Kohlenstoff und bieten noch einiges mehr.
Getreide säen und Holz ernten
Besonders die Ackerbaumstreifen und ihre Windschutzwirkung sind bereits gut untersucht. Dabei wird der Abstand zwischen den Gehölzen so gewählt, dass der Acker dazwischen mit den gewohnten Maschinen bearbeitet werden kann. Untersuchungen der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus-Senftenberg (BTU) ergaben bei rund vier Meter Baumhöhe und einem Streifenabstand von 24 Metern eine um die Hälfte verringerte Windgeschwindigkeit im Vergleich zum offenen Feld. Bei einem Streifenabstand von 48 Metern war die Windgeschwindigkeit immerhin noch um fast 30 Prozent niedriger. Starke Windböen, die den fruchtbaren Oberboden wegblasen, können durch Bäume am Ackerrand nahezu vollständig verhindert werden, zeigte die Studie.
Im windreichen Brandenburg, wo verhältnismäßig wenig Niederschlag fällt, sind die Bäume doppelt nützlich. »Wind ist bei der Austrocknung der Ackerpflanzen viel entscheidender als die Sonneneinstrahlung«, erläutert Rico Hübner, Agrarwissenschaftler an der Technischen Universität München und Mitbegründer des Deutschen Fachverbands für Agroforstwirtschaft (DeFAF e. V.). Das Gegenargument, die Bäume würden den Ackerpflanzen Sonne, Wasser und Nährstoffe wegnehmen, lässt er nicht gelten. Es gebe in der direkten Umgebung der Bäume zwar durchaus Konkurrenzeffekte, diese würden aber durch die höheren Erträge auf den Feldern zwischen den Baumstreifen mehr als ausgeglichen. In den Baumstreifen werden gern die schnell wachsenden Pappeln gepflanzt, die schon nach drei bis acht Jahren das erste Mal geerntet (auf den Stock gesetzt) werden können. Danach treiben sie mit der Kraft des Wurzelstocks umso kräftiger frisch aus. Die hölzerne Ernte kann verfeuert oder in einer Biogasanlage genutzt werden.
Futterlaub und Esskastanien
Der Brandenburger Landwirt Thomas Domin hat eine weitere Möglichkeit gefunden: Er hat in eine Pyrolyseanlage investiert, in der Holz und Gehölzschnitt in Pflanzenkohle verwandelt werden. Die so gewonnene Pflanzenkohle bindet den Kohlenstoff langfristig und kann zur Bodenverbesserung auf dem Feld ausgebracht werden.
Jungbauer Felix Riecken betreibt mit seiner Familie einen Biomilchviehhof bei Kiel. Für ihn waren die schlechten Erfahrungen im Hitzesommer 2018 der Auslöser für das Interesse an der Agroforstwirtschaft. Neben zahlreichen Obstbäumen und Esskastanien haben die Rieckens auch eine Futterlaubhecke gepflanzt. Zwischen Weißdorn, Hasel und Holunder finden sich darin ausgefallenere Arten wie die Maulbeere, heimisches Wildobst wie der Speierling und Werthölzer wie Wildkirsche, Schwarznuss und Baumhasel. Unter der Hecke gedeihen Knoblauch, Stangensellerie und Kürbisse. Bäume und Heckenpflanzen puffern den Nährstoffeintrag aus den Ausscheidungen der Rinder ab und entlasten damit die Gewässer. Und in Zukunft kann das Laub als Zusatzfutter genutzt werden. Die Blätter der Maulbeerbäume etwa sind ein besonderer Leckerbissen für die Kühe.
Die Liste der Vorteile von Hecken und Bäumen auf dem Acker ist lang: Sie schützen vor Wind und Sonne, halten Boden und Feuchtigkeit auf der Fläche, bauen Humus auf, speichern Kohlenstoff, liefern Futter, Holz und Nahrungsmittel – von Honig und Nüssen bis zu Apfelsaft und Obstschnäpsen. Und sie sind ein großer Gewinn für die Artenvielfalt. Viele selten gewordene Tiere finden hier geeignete Lebensräume: Neuntöter, Steinkauz, Wiedehopf und Rebhuhn ebenso wie Fledermäuse, Bilche, Wildbienen, Laufkäfer oder Eidechsen. In den norddeutschen Knicks leben rund 7000 Tierarten, und in einer einzigen süddeutschen Hecke wurden 900 Arten gezählt.
Bauern scheuen die Investition
Trotz aller Argumente pro Agroforst haben nach Einschätzung des DeFAF bisher nur einige Hundert der 260 000 landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland moderne Agroforstsysteme in Betrieb. Die Gründe für die Zurückhaltung sind vielschichtig.
Es erfordert radikales Umdenken, Bäume und Gehölze nicht mehr als Hindernisse, sondern als Verbündete der Landwirtschaft zu betrachten. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass sich besonders die jungen Landwirte und Landwirtinnen für Agroforstsysteme interessieren. Sie sind es auch, die am ehesten von den heute getätigten Investitionen profitieren würden. Größere Pflanzungen brauchen gute Planung, sind arbeitsintensiv und meist teuer. All das verträgt sich schlecht mit den knappen Geld- und Zeitbudgets heutiger Landwirte.
»Wer ernsthaft etwas für die Biodiversität und den Klimaschutz in der Landschaft tun will, der muss die Landwirte hinter dem Ofen hervorlocken«, sagt Rico Hübner. Und dazu brauche es bessere finanzielle Anreize. Die gesellschaftlich relevanten Leistungen – die Vorteile für Natur, Landschaft und Tierwohl – »werden schlichtweg nicht oder zu wenig in unserer Wirtschaftsweise eingepreist«, argumentierte er in einem Artikel im »Kritischen Agrarbericht 2021«.
Sechs Euro für den Hektar
Der Agroforstexperte beobachtet eine hohe gesellschaftliche Bereitschaft zum Wandel in der Landwirtschaft. Die junge Hofgemeinschaft Lebensberg im pfälzischen Obermoschel zum Beispiel konnte mit Hilfe von mehr als 1000 Unterstützerinnen und Unterstützern in einer vierwöchigen Crowdfunding-Kampagne Ende 2020 mehr als 200 000 Euro einsammeln. Geld, mit dem innerhalb eines einzigen Winters rund 30 000 Bäume und Sträucher gepflanzt wurden.
Politisch aber manifestiert sich ein Wille zum Umbau noch kaum, zumindest nicht in finanzieller Hinsicht. Zwar beschloss der Bundestag Anfang 2021 mit großer Mehrheit, die Agroforstwirtschaft besser unterstützen zu wollen. Die Förderregeln, auf die sich der Bundesrat dann im Dezember 2021 einigte, blieben jedoch weit hinter den Forderungen von Verbänden wie dem DeFAF zurück. Die Ausgestaltung der Agroforstförderung sei völlig unzureichend, sagt Daniel Fischer, Agroforstbeauftragter der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) in Mitteldeutschland.
Immerhin hat der Bundesrat mit seinem Beschluss den Weg von der reinen Flächenförderung hin zur verstärkten Förderung gemeinwohlorientierter Leistungen eingeschlagen. Die konkreten Zahlungen allerdings sind minimal: Jährlich 60 Euro zusätzliche Förderung pro Hektar Gehölzfläche soll es ab 2023 für ein Agroforstsystem geben. Bei einer zu zehn Prozent mit Bäumen bestandenen Fläche erhält der Betrieb dann also sechs Euro pro Hektar, das macht bei einem durchschnittlich großen Betrieb knapp 400 Euro im Jahr. So könnten weder die Gewinneinbußen durch den Verlust an bestellbarer Fläche noch die Bewirtschaftungskosten oder der Pflegeaufwand ausgeglichen werden, sagt Fischer.
Blühende Landschaften
Lange Zeit säumten Obstbäume die Feldwege, und ausgedehnte Streuobstwiesen mit locker (»verstreut«) stehenden, hochstämmigen Bäumen umgaben die Dörfer. Viele wurden Ende des 18. beziehungsweise im Lauf des 19. Jahrhunderts zunächst als Obstbaumäcker angelegt, auf denen Getreide oder andere Feldfrüchte wuchsen. Erst später wandelte man die Äcker in Wiesen oder Weiden um und erntete neben Obst nun Gräser und Kräuter für das Vieh. Noch bis in die 1940er Jahre galten Streuobstwiesen als unverzichtbarer Bestandteil der Nahrungsmittelversorgung.
Danach forcierte auch die Politik den Fokus auf Ertragsoptimierung und reduzierten Arbeitsaufwand, wie es sich am Emser Beschluss des Bundeslandwirtschaftsministeriums vom 15. Oktober 1953 ablesen lässt: »Für Hoch- und Halbstämme wird kein Platz mehr sein. Streuobstanbau, Straßenanbau und Mischkultur sind zu verwerfen.« Bäume und Hecken waren bei der maschinellen Bewirtschaftung ohnehin im Weg. Weil Streuobstwiesen meist direkt um die Dörfer angelegt worden waren, fielen und fallen sie auch heute noch Neubau- oder Industriegebieten zum Opfer.
Der NABU schätzt, dass die Streuobstbestände in Deutschland seit 1950 um 80 Prozent geschrumpft sind. Damit ist auch ein kostbarer genetischer Schatz bedroht. Allein in Deutschland gibt es etwa 2700 Apfel-, 800 Birnen-, 400 Kirsch- und 400 Pflaumensorten. Die Sortenvielfalt bietet nicht nur eine große Palette an Aromen, sondern erlaubt es auch fast überall Obst zu ernten, vom hohen Norden Deutschlands bis in die Hochlagen der Mittelgebirge. Im intensiven Obstbau konzentriert man sich dagegen auf relativ wenige Sorten in Gunstlagen. Importware macht besonders frühe, späte oder lang lagerbare heimische Apfelsorten obsolet. So hängt die Erhaltung des Sortenschatzes weitgehend an den hochstämmigen Streuobstwiesen.
Rico Hübner vergleicht die Situation mit den Anfängen des ökologischen Landbaus. Damals sei es lange zäh gewesen, bis die Betriebe gemerkt hätten, dass es nicht nur funktioniere, sondern dass es auch einen Markt für Bioprodukte gebe. Eine großzügige Förderung könne helfen, diese Anfangsphase bei der Agroforstwirtschaft schneller zu überwinden. Einen Engpass gebe es aber bei den Baumschulen, die bislang nicht ausreichend Material für den steigenden landwirtschaftlichen Bedarf produzierten.
EU-weit ist fast jeder zehnte Hektar Landwirtschaftsfläche ein Agroforstsystem
Lebendige Agroforstsysteme gibt es heutzutage vor allem im Südwesten der Iberischen Halbinsel, im Süden Frankreichs, auf Sardinien und in Teilen von Italien, Griechenland, Bulgarien und Rumänien. Da tummeln sich die Iberischen Schweine unter Eichen, Lavendel und Getreide gedeihen zwischen Walnussbäumen, und Schafe weiden in Olivenhainen. Knapp neun Prozent der Landwirtschaftsfläche in der EU werden in Agroforstsystemen bewirtschaftet.
Und auch in den Tropen, wo die Landwirtschaft vielerorts ohnehin noch sehr kleinräumig strukturiert ist, setzt man große Hoffnungen in die Verbindung von Forst- und Landwirtschaft. Sie gilt international als einer der vielversprechendsten naturbasierten Ansätze gegen die Klimaerwärmung, denn sie sorgt nicht nur für mehr Kohlenstoffspeicherung, sondern bietet gleichzeitig Einkommensperspektiven und Ernährungssicherheit für die Landbevölkerung.
Tierwohl unter Bäumen
Durften im Jahr 2010 immerhin 37 Prozent der Rinder in Deutschland zumindest zeitweise auf der Weide grasen, waren es zehn Jahre später nur noch 31 Prozent. Unter Bäumen oder gar im Wald sind Rinder eine Rarität. Doch es gibt sie durchaus: Waldweideprojekte zur Offenhaltung von Wäldern zu Naturschutzzwecken findet man etwa im Schönbuch bei Herrenberg unweit von Tübingen, im Rheinauenwald in Südbaden oder im Bayerischen Wald.
Noch seltener als Rinder findet man Schweine auf der Weide oder gar unter Bäumen. 2020 hatte überhaupt nur eines von 100 Schweinen in Deutschland Zugang zu einem Auslauf. Vereinzelt gibt es auch hier zu Lande Pioniere der Waldschweinhaltung, wie etwa Rupert Stäbler aus Rosenheim. 2016 fing er mit ein paar robusten Schwäbisch-Hällischen Landschweinen im familieneigenen Wald an. Inzwischen sind es 200 Schweine, die er an drei Standorten im Wald mästet. »Unsere große Sorge war, dass die Schweine den Wald zerstören. Das war aber unbegründet, denn wenn es nicht zu viele sind, durchpflügen sie nur die oberste Bodenschicht. Die Wurzeln der Bäume bleiben unversehrt«, sagt Stäbler. Auch im »Schweinewald« liegen die Vorteile der Bäume auf der Hand: Keine Sonnenbrandgefahr, viel Beschäftigungsmaterial wie Zweige, Wurzeln und Laub, Stämme zum Schubbern, Schlammkuhlen und vieles mehr sorgen für eine artgerechte Haltung und gesunde Tiere. Von Juni bis Weihnachten sind die Schweine im Wald. Das edle Fleisch vermarktet Stäbler lokal oder über das Internet und erzielt dabei gute Preise.
Trotz viel versprechender Erfolge steht die Agroforstwirtschaft in Deutschland noch am Anfang. Das Potenzial ist enorm. Abwechslungsreiche, klimastabilere Landschaften mit einer großen Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten könnten entstehen, dazu gesunde, produktive Böden und eine artgerechte Tierhaltung. Das Ziel »regenerative Landwirtschaft« wird aber ohne die finanzielle und moralische Unterstützung aus Politik und Gesellschaft nicht zu erreichen sein.
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