Atmung und Gehirn: Wie ich atme, so fühle ich
Es gibt Dinge im Leben, die sind so selbstverständlich, dass wir sie kaum wahrnehmen. Wie oft denken Sie beispielsweise an Ihre Atmung? Die meiste Zeit von Ihnen unbemerkt, hebt und senkt sich Ihr Brustkorb in einer sturen Regelmäßigkeit, lässt sauerstoffreiche Luft in die Lungen ein- und CO2-haltige ausströmen. Egal, ob Sie auf dem Fahrrad schwitzen, vor dem Fernseher lümmeln oder tief schlafen: Jeden Tag atmen Sie etwa 20 000-mal ein und wieder aus. Mit 80 Jahren werden Sie schon rund 600 Millionen Atemzüge hinter sich haben, mit denen man 100 Heißluftballons füllen könnte!
So unauffällig der Körper uns auch mit Sauerstoff versorgt – hin und wieder drängt sich die Atmung doch in unser Bewusstsein. Das geschieht vor allem dann, wenn sie gestört wird: sobald wir uns beispielsweise verschlucken, unter Wasser gedrückt werden oder einen Asthmaanfall erleiden. Umgehend fühlen wir uns unwohl oder werden panisch und setzen alles daran, die Lunge wieder frei zu bekommen. Umgekehrt reagiert das Atemsystem prompt, wenn wir uns erschrecken oder große Angst haben. Wer kennt nicht die kindliche Sorge, sich beim Versteckspiel durch aufgeregtes Keuchen zu verraten?
Die Atmung ist also einerseits stabil und zuverlässig, andererseits aber extrem flexibel: Immer wieder passt sich ihr Rhythmus den veränderten Bedingungen an, ob beim Lachen, Sprechen und Essen oder infolge aufkommender Emotionen.
Für das unermüdliche Auf und Ab des Brustkorbs sorgen spezielle Nervenzellen im Hirnstamm. Während das Herz seinen eigenen Schrittmacher enthält, der den Startschuss für jede Kontraktion gibt, ist die Lunge auf das Atemzentrum an der Basis des Gehirns angewiesen. Einer der Ersten, der diese Region entdeckte, war der französische Physiologe César Julien Jean Legallois (1770–1814). Er hatte winzige Bereiche des Hirnstamms von Versuchstieren entfernt und festgestellt, dass dadurch ihre Atmung stoppte. Erst viel später, zu Beginn der 1990er Jahre, fand ein Team um den US-amerikanischen Neurowissenschaftler Jack Feldman an dieser Stelle ein Netzwerk von Nervenzellen, das gemeinsam mit anderen Neuronen den Atemrhythmus vorgibt – den Prä-Bötzinger-Komplex. Bestimmte Zellen der Region entladen sich dabei rhythmisch und geben die neuronale Aktivität über Zwischenstationen an jene Muskeln weiter, die die Atmung koordinieren.
Ein Teil von ihnen sitzt im Zwerchfell, einer kuppelförmigen Schicht aus Muskeln und Sehnen unterhalb der Brusthöhle. Mit jedem Einatmen zieht sie sich zusammen, wodurch sich die Kuppel abflacht und nach unten bewegt. Gleichzeitig dehnt sich der Brustkorb aus, was dazu führt, dass ein Unterdruck in den an der Innenwand der Brusthöhle haftenden Lungenflügeln entsteht. So strömt die Atemluft ein.
Atmung ist mehr als reine Lebenserhaltung
Die Ausatmung geschieht meist passiv, zumindest dann, wenn wir völlig entspannt sind: Das Zwerchfell löst sich und wölbt sich wieder nach oben, wodurch die Luft aus der Lunge herausgedrückt wird. Bei Anstrengung oder wenn wir uns sehr auf unseren Atem konzentrieren, können wir das Ausatmen aktiv beschleunigen oder abbremsen, indem wir verschiedene Muskeln im Bauchraum aktivieren.
Wie Gelehrte bereits seit Jahrhunderten wissen, erfüllt die Atmung noch andere Zwecke, als uns lediglich am Leben zu halten: Mit ihrer Hilfe können wir zum Beispiel ganz bewusst Stress abbauen – ein Effekt, auf dem viele Meditationstechniken beruhen. »Gehirn und Atmung sind eng miteinander verbunden«, sagt der Neurowissenschaftler Micah Allen von der Universität Aarhus, der gemeinsam mit seinem Team diesen neuronalen Verflechtungen auf den Grund geht. »Das prägt unsere Emotionen, unsere Aufmerksamkeit und die Art und Weise, wie wir die Außenwelt wahrnehmen.«
Atemübung zum Runterkommen
Eine ruhige Bauchatmung hilft nachweislich dabei, das autonome Nervensystem zu beruhigen und Stress zu lindern. So funktioniert sie:
- Setzen oder legen Sie sich bequem hin. Schließen Sie die Augen.
- Legen Sie eine Hand auf Ihre Brust, die andere auf Ihren Bauch.
- Atmen Sie etwa vier Sekunden lang durch die Nase ein und spüren Sie, wie sich Ihr Bauch ausdehnt.
- Halten Sie den Atem zwei Sekunden lang an.
- Atmen Sie langsam und gleichmäßig durch den Mund aus, etwa sechs Sekunden lang. Der Mund sollte dabei entspannt sein.
- Wiederholen Sie dies für 5 bis 15 Minuten.
University of Michigan Health
Doch wie genau geht das vonstatten? Schon lange bekannt ist der Weg über das so genannte autonome Nervensystem, das neben Herz und Lunge zahlreiche andere Organe versorgt. Stehen wir unter starkem Stress, aktiviert das den Sympathikus, jenen Teil des autonomen Nervensystems, der den Körper in Alarmbereitschaft versetzt und kurzzeitig dessen Leistung steigert. Er bereitet uns quasi auf Kampf oder Flucht vor: Das Herz beginnt zu rasen, die Bronchien erweitern sich, und der Atem wird schneller. Mit einer langsamen, kontrollierten Bauchatmung kann man dem in gewissem Maß entgegenwirken. Denn sie aktiviert den Widersacher des Sympathikus, den Parasympathikus, dessen größter Strang der Vagusnerv ist. Man gaukelt dem Körper auf diese Weise Sicherheit vor, worauf er prompt das Alarmsystem herunterfährt: Das Herz kommt zur Ruhe, wir entspannen uns, und die Atmung verlangsamt sich weiter.
Wie zahlreiche neuere Studien demonstrierten, wirkt die Atmung aber auch direkt auf das Gehirn, ohne den Umweg über das autonome Nervensystem. So steht das Atemzentrum im Hirnstamm in engem Austausch mit Arealen, die unsere Gefühle steuern. Der Prä-Bötzinger-Komplex etwa sendet Signale über Schaltstationen im Zwischenhirn an den Hippocampus und die Amygdala – Bereiche des limbischen Systems, die uns unter anderem dabei helfen, Gefühle zu beurteilen und mit Erinnerungen abzugleichen.
2017 schaltete eine Gruppe um Kevin Yackle an der Stanford University mit einem gentechnischen Trick jene Neurone des Prä-Bötzinger-Komplexes von Labormäusen aus, die das Atemzentrum mit »höheren« Hirnarealen verbinden. In der Folge waren die Tiere kaum noch durch Schreckreize aus der Ruhe zu bringen, während sich der Takt des Luftholens durch den Eingriff nicht veränderte. Damit schien eine wichtige Verbindung zwischen Atmung und mentaler Erregung gefunden zu sein.
»Der Atemrhythmus ist letztlich überall im Gehirn zu finden«Detlef Heck, University of Minnesota, Duluth
Doch das ist nicht alles: »Der Atemrhythmus ist letztlich überall im Gehirn zu finden«, sagt Detlef Heck von der University of Minnesota in Duluth. Der Neurowissenschaftler erforscht mit seinem Team den Einfluss der Atmung auf verschiedene Hirnfunktionen. »Mit jedem Ein- und Ausstrom von Luft verändert sich die Erregbarkeit von Hirnarealen, unter anderem auch von der Amygdala«, erklärt Heck. Und tatsächlich zeigten Studien, dass wir beim Einatmen den Gefühlsausdruck eines anderen Menschen schneller erkennen als beim Ausatmen.
Allgemein scheint die Atmung die Leistung von Probanden bei allen möglichen Labortests erstaunlich stark zu beeinflussen: So neigen wir offenbar dazu, direkt zu Beginn einer Aufgabe Luft zu holen. Wenn wir das tun, machen wir tendenziell weniger Fehler, als wenn wir mit der Ausatmung starten – sei es bei einem Gedächtnistest oder wenn es darum geht, dreidimensionale Objekte voneinander zu unterscheiden. Während jeder Einatmung erweitern sich zudem kurzzeitig unsere Pupillen, und unser Reaktionsvermögen steigt. Das alles gilt vor allem dann, wenn wir durch die Nase atmen.
Hirnwellen im Gleichtakt
Aber warum ist das so? Laut neueren Forschungsergebnissen synchronisiert die Atmung die neuronale Aktivität in der gesamten Großhirnrinde und in den darunterliegenden Kernregionen, die unter anderem unsere Gefühle steuern. Generell nimmt die Entladungsrate der Nervenzellen im Gehirn wellenförmig zu und wieder ab, was man per Elektroenzephalografie (EEG) an der Kopfhaut messen kann. Fachleute sprechen von Oszillationen. »Sie existieren in ganz verschiedenen Frequenzen«, erklärt Heck. »Die Atmung sorgt dafür, dass Oszillationen an unterschiedlichen Orten im Gehirn miteinander koordiniert werden.« Das verbessere die Kommunikation zwischen den Arealen, weil die Nervenzellen jeweils zum selben Zeitpunkt erregbar sind.
Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einer Telefonkonferenz mit einem riesigen Team teil. Jeder trägt ein Headset, das sich periodisch ein- und wieder ausschaltet. Täte das jedes Gerät in seinem eigenen Rhythmus, wäre ein Gespräch nahezu unmöglich. Erst wenn alle Kopfhörer synchron arbeiten, kann ein sinnvoller Austausch zu Stande kommen.
Im Gehirn hilft die Atmung maßgeblich dabei, die Areale in einen gemeinsamen Takt zu bringen – genauer: die Nasenatmung. »Der Hauptweg verläuft über den Riechkolben«, sagt Heck. Wenn Duftstoffe in unsere Nase strömen, gelangen diese sensorischen Informationen als Erstes in den Riechkolben. Die langen Ausläufer der dort ansässigen Nervenzellen ragen in die Nasenhöhle hinein, wo sie chemische Substanzen in der Atemluft detektieren.
»Jeder Atemzug beeinflusst die Aktivität der Riechzellen«Detlef Heck, University of Minnesota, Duluth
Was man lange Zeit nicht wusste: Die Riechzellen reagieren auch auf Druckschwankungen. »Durch den Einstrom der Luft verändert sich kurzzeitig der Druck in der Nasenhöhle«, so der Neurowissenschaftler. »Deshalb beeinflusst jeder Atemzug die Aktivität der Riechzellen, die auch als Mechanorezeptoren dienen.« Der Atemrhythmus erzeugt somit langsame neuronale Oszillationen im Riechkolben, die dem Takt des Luftstroms folgen. Das geschieht sogar dann, wenn gar keine Duftstoffe in der Luft enthalten sind.
Diese langsamen Aktivitätswellen gelangen über den so genannten piriformen Kortex – die zweite Verarbeitungsstufe des Riechsystems – und das Zwischenhirn zu den Arealen der Hirnrinde, die Denkvermögen und Gefühle steuern. Und hier kommt es schließlich zu der besagten Synchronisierung: Das gemächliche Auf und Ab der Hirnwellen im Rhythmus der Atmung überträgt sich auf die schnellen Oszillationen der Hirnrinde. Letztere passen nun die Höhe ihrer Ausschläge dem Atemrhythmus an. In der Fachwelt nennt man das »frequenzübergreifende Phasen-Amplituden-Kopplung«.
»Ein wichtiger Rhythmus im Gehirn sind die so genannten Gamma-Oszillationen«, sagt Heck. »Sie treten bevorzugt auf, sobald jemand kognitive Leistungen vollbringt.« Sein Team hatte entdeckt, dass die Atmung bei Mäusen die Amplitude (also die Wellenhöhe) der Gamma-Oszillationen beeinflusst. Inzwischen ist klar, dass das auch im menschlichen Gehirn geschieht, unter anderem im Hippocampus und in der Amygdala. Die Arbeitsgruppe um die Neurowissenschaftlerin Christina Zelano von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago hatte 2016 die Messdaten von Elektroden ausgewertet, die Chirurgen in das Gehirn von Epilepsiepatienten eingeführt hatten. Eigentlich hatten die Elektroden den Medizinern dazu gedient, die Anfälle besser vorherzusagen. Doch auch Hirnforscher interessieren sich häufig für solche Daten, da sie sonst selten die Gelegenheit haben, die neuronale Aktivität in der Tiefe eines menschlichen Gehirns unmittelbar abzugreifen.
Wie Zelano und ihr Team feststellten, waren die Oszillationen von Hippocampus und Amygdala mit der Nasenatmung synchronisiert. Sobald sie aber die Probandinnen und Probanden aufforderten, durch den Mund zu atmen, nahm die Synchronisation ab.
Luftholen für das Langzeitgedächtnis
Neueren Studien zufolge bringt der Atemrhythmus Neurone nicht nur innerhalb einzelner Hirnregionen in den Gleichtakt, sondern auch in verschiedenen Arealen. So stellten Nikolas Karalis und Anton Sirota von der Ludwig-Maximilians-Universität München 2022 fest, dass die Atmung bei schlafenden Mäusen die Aktivität von Hippocampus und präfrontalem Kortex synchronisiert. Das könnte der Schlüssel zu der Frage sein, wie Gedächtnisinhalte in das Langzeitgedächtnis überführt werden. Jede neue Erfahrung wird erst einmal im Hippocampus abgelegt. In der Nacht, wenn wir schlafen, gelangt sie in den Langzeitspeicher der Hirnrinde. Fachleute vermuten schon länger, dass diese Übertragung eine synchrone Aktivität von Hippocampus- und Kortexneuronen erfordert.
Durch die Nasenatmung gleicht sich also die Erregbarkeit zahlreicher Hirnareale aneinander an, was ihren Austausch untereinander ungemein erleichtert. Das tiefe Einatmen zu Beginn einer Aufgabe könnte dazu dienen, den Rhythmus der Nervenzellen zu »resetten« und damit alle wieder in den gleichen Takt zu bringen. Eine ähnliche Rolle spielen womöglich Seufzer, vermutet das Team um Jack Feldman von der University of California in Los Angeles. Jedem von uns entfährt gelegentlich ein solches lautloses Stöhnen, oft ohne dass wir es merken. Studien zufolge seufzen wir umso häufiger, je anspruchsvoller eine Aufgabe ist.
»Erkrankungen der Atemwege und psychiatrische Störungen sind eng miteinander verbunden«Micah Allen, Universität Aarhus
Und was, wenn die Nasenatmung blockiert ist – etwa bei einer Erkältung oder durch zu große Rachenmandeln? »Welche Auswirkung das auf Stimmung und Kognition hat, wissen wir noch nicht«, gibt Heck zu. Doch es gebe bereits erste Forschergruppen, die dem auf den Grund gehen. Ist die Nase nur vorübergehend verstopft, wird das vermutlich keinen längerfristigen Effekt haben. Bei chronischen Veränderungen sehe das jedoch schon anders aus, erklärt der Hirnforscher Micah Allen aus dem dänischen Aarhus in einer Pressemitteilung der Universität: »Erkrankungen der Atemwege und psychiatrische Störungen sind eng miteinander verbunden.« Mäusen und Ratten, an denen man die Wirkung von Antidepressiva testen möchte, entfernt man zu dem Zweck sogar häufig den Riechkolben. Die Tiere zeigen daraufhin Verhaltensweisen, die einer Depression ähneln, weshalb derart präparierte Nager inzwischen ein etabliertes Tiermodell für die Erkrankung darstellen.
Warum Opioide Schmerz, Angst und Atmung hemmen
Ähnlich wie bei Angst beschleunigt sich unsere Atmung, wenn wir Schmerzen haben. Umgekehrt kann langsames, gleichmäßiges Luftholen sowohl Schmerz als auch Furcht lindern. Fachleute vermuteten daher, dass beiden Phänomenen derselbe neuronale Mechanismus zu Grunde liegt. Tatsächlich fanden Shijia Liu und ihre Arbeitsgruppe, damals an der University of California in San Diego, ein Areal im Hirnstamm der Maus, das Angst und Schmerz mit der Atmung verbindet: den lateralen parabrachialen Nucleus. Er sendet Nervenausläufer unter anderem zum Atemzentrum und zur Amygdala. Wie das Team feststellte, kommt in diesem Hirnkern ein bestimmter Opioidrezeptor in großer Zahl vor. Opioide lindern neben Schmerz auch Furcht, unterdrücken aber in hoher Konzentration zusätzlich die Atmung – der Hauptgrund, warum eine Überdosis häufig tödlich endet.
Liu, S. et al.: Divergent brainstem opioidergic pathways that coordinate breathing with pain and emotions. Neuron 110, 2022
In der Tat neigen offenbar Menschen, deren Riechzellen zu Grunde gegangen sind, tendenziell eher zu Depressionen als Leute mit intaktem Riechsystem. Und selbst mit funktionierender Hardware scheinen Depressive Gerüche oft schlechter wahrnehmen zu können als Gesunde. Hier ist jedoch das Henne-Ei-Problem noch nicht endgültig geklärt: Löst das verminderte Riechvermögen die Gemütsstörung aus oder umgekehrt? Für beide Sichtweisen gibt es experimentelle Belege. Völlig unklar ist zudem, ob das auch die Hirnsynchronisierung beeinflusst.
Eine psychische Erkrankung, die sich unmittelbar auf die Atmung auswirkt, ist die Panikstörung. Die Betroffenen atmen in der Regel dauerhaft schneller und unregelmäßiger. Und während einer Panikattacke kann sich das weiter zuspitzen: Manchmal hyperventilieren die Patienten und Patientinnen derart, dass ihre Muskeln sich spastisch verkrampfen. Dazu gesellt sich häufig das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen, was die Panik verstärkt.
Wie Untersuchungen zeigten, reagieren Menschen mit Panikstörung deutlich empfindlicher auf einen CO2-Anstieg in der Atemluft. Sowohl bei Tieren als auch bei Menschen löst eine zu hohe CO2-Konzentration Angst aus. Wer unter einer Panikstörung leidet, ist hier in der Regel aber deutlich sensibler. Der Grund dafür liegt möglicherweise im Gehirn verborgen, und zwar in der Amygdala. Wenn CO2 mit Wasser reagiert, entsteht Kohlensäure; diese verleiht Sprudelwasser seinen leicht säuerlichen Geschmack. Das CO2 säuert auch unser Gehirn an, was nicht weiter schlimm ist. Nun besitzen aber bestimmte Nervenzellen, unter anderem in der Amygdala, Chemosensoren für Säure. Überschreitet die Kohlendioxidkonzentration im Körper eine gewisse Schwelle, aktiviert das die säureempfindlichen Neurone, was zumindest bei Mäusen eine Schreckreaktion auslöst.
Diesen Zusammenhang entdeckte 2009 eine Gruppe um Adam Ziemann von der University of Iowa. Den Forscherinnen und Forschern gelang es sogar, die Versuchstiere in Panik zu versetzen, indem sie ihnen eine ganz andere Säure in die Amygdala injizierten. Das Team schaltete dann dort einen bestimmten Säurerezeptor aus, woraufhin die Mäuse nicht mehr verschreckt auf steigende CO2-Konzentrationen in der Atemluft reagierten. Neuere Studien deuten darauf hin, dass bei Menschen mit Panikstörung die Zahl oder die Arbeitsweise solcher Rezeptoren in der Amygdala verändert sein könnten.
Wenn es einem den Atem verschlägt
Ein Team von Neurochirurgen um die Hirnforscherin Christina Zelano sowie andere Arbeitsgruppen beobachteten noch etwas anderes: Stimuliert man die Amygdala mit kleinen elektrischen Impulsen, führt das zu kurzen, meist unbemerkten Atemaussetzern. Womöglich entsteht das Gefühl der Panik dadurch, dass diese Hirnregion, wenn sie überaktiv ist, einem zuweilen kurz den Atem raubt. Das erhöht vorübergehend die CO2-Konzentration im Blut, was wiederum Angst auslöst.
Seit Jahrhunderten nutzen Yoga-Gurus und Vertreter anderer Meditationsformen die kontrollierte Atmung, um ihren Gemütszustand zu verändern. Die Palette an Übungen ist entsprechend groß: Allein das traditionelle Pranayama-Yoga umfasst mehr als 50 verschiedene Atemtechniken. Solche, bei denen beispielsweise die Dauer der Ausatmung verlängert ist, reduzieren nachweislich die Stressreaktion des Körpers. »Man kann messen, wie das autonome Nervensystem heruntergefahren wird«, sagt Detlef Heck.
Zunehmend interessieren sich daher auch Neurologen und Psychiater für solche Lehren: Können sie die Standardtherapie für Menschen mit psychischen Erkrankungen sinnvoll ergänzen? Die meisten Untersuchungen gibt es zur Wirkung so genannter Breathwork-Interventionen auf die Symptome von Angst- oder Panikstörungen. Blerida Banushi von der University of Queensland im australischen Brisbane hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen verschiedener Universitäten 16 solcher Studien auf Herz und Nieren geprüft. Vertreten waren beispielsweise eine angeleitete, langsame Bauchatmung (diaphragmatische Atmung) von acht bis zehn Atemzügen pro Minute und so genanntes Heart-Rate-Variability-Biofeedback. Hierbei erfasst ein Gerät sowohl Herzschlagrate als auch Atemrhythmus und stellt beides auf einem Monitor grafisch dar. Die Versuchsperson soll nun mittels langsamer Atmung versuchen, die Rhythmen zu synchronisieren. Das Training dauerte in der Regel mehrere Wochen, wobei die Teilnehmer und Teilnehmerinnen täglich üben mussten. So unterschiedlich die Verfahren auch waren – alle beinhalteten eine bewusste Kontrolle über den Takt der Atmung. Und die Ergebnisse ergaben ein überraschend einheitliches Bild: Von acht verschiedenen Übungen reduzierten sieben signifikant die Angstsymptome.
Atemübungen als Therapiebaustein
Ein großes Problem solcher Untersuchungen ist häufig, die Auswirkungen der Atmung von anderen Aspekten dieser Praktiken zu trennen. »Bei vielen Studien fehlt eine gute Kontrollgruppe, also Teilnehmer, die eine andere Therapie erhalten, die ähnlich viel Zeit kostet, ähnlich viel Interaktion erfordert, aber eben keine Atemübungen enthält«, sagt Heck. »Wenn sich der Zustand nach der Behandlung verbessert hat, weiß man nicht, ob es an der Atmung lag oder einfach daran, dass die Probandin viel Zeit mit der Therapeutin verbracht hat.« Doch Blerida Banushi hat hier augenscheinlich genau hingesehen: Fehlte eine sinnvolle Kontrollbedingung, schloss sie die Studie von ihrer Metaanalyse aus.
Angst- und Panikstörungen gehen nicht nur mit einem veränderten Atemrhythmus einher, sondern häufig auch mit abweichenden neuronalen Oszillationen im Gehirn. Das Gleiche gilt beispielsweise für Depressionen. Micah Allen zufolge sollte man daher versuchen, Therapien zu entwickeln, die die Rhythmen von Hirn und Körper wieder in Einklang bringen – anstatt sie getrennt zu behandeln. Unser Atemsystem erhält uns also nicht nur höchst unauffällig am Leben, es scheint auch eine ungeahnte Macht über unsere Hirnfunktionen zu besitzen. Jetzt müssen wir lernen, diesen Hebel richtig zu bedienen.
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